Globalizing Homophobia

Die Schwulenverfolgung in der islamischen Welt, die sich propagandistisch gegen den Westen richtet, setzt paradoxerweise den Import seines Identitätsmodell voraus

Nach dem 11. September 2001 war eine der antideutschen Rechtfertigungen für die militärische Intervention gegen Afghanistan die Unterdrückung der Schwulen in islamischen Ländern.(1) Tatsächlich hatten die Taliban während ihrer Regierungszeit im Stadion von Kabul mindestens fünf Männer wegen ›liwat‹(2), d. h. Analverkehr zwischen Männern, öffentlich hingerichtet, indem man eine Mauer über ihnen zum Einsturz brachte. Freilich gelangen Hiobs-Botschaften über die Verfolgung von Homosexuellen nicht nur aus den Ländern auf der »Achse des Bösen« zu uns, sondern auch von Verbündeten der USA wie Saudi-Arabien und Ägypten.

Doch nicht nur in der arabischen Welt, auch im gesamten südlichen Afrika und großen Teilen Lateinamerikas und Asiens gehen staatliche und parastaatliche Institutionen gegen Schwule und Lesben vor oder lizenzieren die gegen sie gerichtete Gewalt. So behauptet etwa Namibias christlicher Präsident Sam Nujoma, Homosexualität sei gegen Gottes Willen und »Teufelswerk«. Die ganze Nation müsse Schwule und Lesben verurteilen. Vor den Absolventen einer Polizeischule rief sein Innenminister gar dazu auf, Homosexuelle »aus Namibias Antlitz zu eliminieren«.(3)

Müssen »wir als Linke« angesichts solcher kruden Beispiele dem »imperialistischen« Westen nicht eine untrügliche Überlegenheit in Sachen individueller Rechte und sexueller Toleranz zugestehen? Ist es nicht einfach wahr, dass jener der Garant von ziviler Freiheit weltweit ist? Ich möchte im Folgenden ein paar historische Argumente liefern, warum mir diese Sicht grundsätzlich falsch erscheint.
 

Reisebericht aus dem Land der Perversen

Kurioserweise diente der »Orient« noch vor nicht allzu langer Zeit als Projektionsfläche für die homoerotischen Wunschphantasien der EuropäerInnen. Zahlreiche Schriftsteller und Künstler wie André Gide, Oscar Wilde, E. M. Forster und Jean Genet pilgerten im 19. und frühen 20. Jahrhundert aus dem homophoben Europa nach Algerien, Marokko, Ägypten und in diverse arabische Länder, wo gleichgeschlechtlicher Sex nicht nur auf keinerlei Diskriminierung und subkulturelle Ghettoisierung traf, sondern sich, zumal aufgrund der rigiden Geschlechtertrennung, an jeder Ecke anzubieten schien. In einem Brief an seinen besten Freund notiert Gustave Flaubert Mitte des 19. Jahrhunderts: »Hier spricht man am Tisch davon. Manchmal versuchst du noch, es abzustreiten, aber dann neckt dich jeder und du endest mit einem Geständnis.«(4)

Der Schriftsteller und »Ganove« Jean Genet macht 1928 im Alter von 18 Jahren als französischer Soldat in Syrien gleichfalls seine Erfahrungen. Er erlebt dort seine erste wahre Liebesaffäre mit einem 16-jährigen Friseur aus Damaskus. Was Genet beeindruckt, ist die liebevolle, neckende Einstellung der Syrier seiner Romanze gegenüber. Er schreibt: »Zumindest in der Straße wusste jeder, dass ich in ihn verliebt war und die Männer machten sich darüber lustig. Die Frauen waren verschleiert und kaum sichtbar. Aber die Knaben, die jungen Männer und die alten Männer, alle lächelten sie und waren amüsiert. Sie sagten zu mir: ›Aha! Geh mit ihm.‹«(5)

Charakteristisch war freilich eher der Abscheu vor solcher Freizügigkeit. So klagt der ehemalige Ingenieur in der französischen Kriegsmarine C. S. Sonnini in einem Reisebericht aus dem späten 18. Jahrhundert:

»Die Leidenschaft wider die Natur bildet das Vergnügen oder, um einen angemesseneren Terminus zu gebrauchen, die Infamie der Ägypter. Nicht für Frauen sind ihre amourösen Liedchen komponiert. Es sind ganz andere Objekte, die sie entflammen. Diese grässliche Verworfenheit, die ihnen, zur Schande von sauberen Nationen, ganz und gar nicht unbekannt ist, findet sich überall in Ägypten allgemein verbreitet: die Reichen und die Armen sind gleichermaßen von ihr infiziert.«(6)

Europäische Übersetzer jener »amourösen Liedchen« sahen sich folglich zur Zensur gezwungen. John Hindley etwa informiert die englischen LeserInnen seiner Übertragung persischer Lyrik im Jahre 1800, dass »die abstoßenden Objekte« dieser Liebesgedichte »aus Gründen, die zu offensichtlich sind, um einer formellen Verteidigung zu bedürfen«, von ihm feminisiert wurden.(7)

Dies alles scheint es unmöglich zu machen, den Umschwung in der Einstellung zur »Homosexualität«, die sich in arabischen und nordafrikanischen Ländern vollzogen hat, auf kulturelle Traditionen zurückzuführen. Entsprechend konnten westliche Beobachter erst in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg eine allmähliche Veränderung der Haltungen gegenüber gleichgeschlechtlichen Beziehungen feststellen. Während etwa Marc Oraison noch 1952 davon berichtete, dass marokkanische Studenten an der Islamischen Universität offen homosexuelle Beziehungen unterhielten, schrieben Ihsan und Brigitta al-Issa bereits 1969 in einer internationalen sozialpsychiatrischen Zeitschrift darüber, dass »die vormals fast völlige Akzeptanz homosexueller Praktiken« bei den befragten irakischen Studenten »nun eine gewisse Veränderung« erfahre. 1982 notierte Charles Lindholm schließlich über Nordpakistan: »Homoerotische Beziehungen waren vor einer Generation sehr viel häufiger als jetzt, weil westlicher Einfluss zumindest unter den Gebildeteren ein Gefühl der Schande über Homosexualität gebracht hat.«(8)

Hinzu kommt seit den siebziger Jahren die öffentliche Artikulation einer homosexuellen Minderheit in den Staaten der westlichen Hemisphäre, die aus ihrer abweichenden Sexualität eine eigene Existenzweise gemacht hat. Diese bietet sich als Projektionsfläche für die Ängste einer Gesellschaft an, die bisher nicht die Notwendigkeit sah, diffuse Unterschiede in den erotischen Präferenzen begrifflich zu unterscheiden. Man möchte auf keinen Fall unter diese neue, stigmatisierte Gruppe subsumiert werden, zumal damit meist klischeehaft eine Infragestellung der eigenen Geschlechterrolle verbunden ist.

Welche Gefühle der äußersten Befremdung die öffentliche Präsentation von Homosexuellen als eigene, distinkte Gruppe innerhalb der arabisch-islamischen Welt zu provozieren imstande ist, illustriert ein Reisebericht des renommierten ägyptischen Kolumnisten Fahmi Huwaidi vom 30. Juli 2002 in der Tageszeitung al-Ahram. Huwaidi hatte in Berlin an einem Kongress der Friedrich-Ebert-Stiftung teilgenommen, der zufällig mit dem Christopher Street Day zusammenfiel. Vor seinem Hotel am Ku’damm wird Huwaidi Zeuge des Umzugs von einer halben Million Lesben und Schwuler.

»Diese Art von Menschen hatte ich zuvor noch nie gesehen und ich begann, die Vorbeiziehenden anzustarren, um besser zu sehen. [...] Ich bemerkte eine Gruppe von Fotografen und Mitarbeitern von Fernsehsendern, die gekommen waren, um den Marsch zu verfolgen und die Ereignisse zu dokumentieren. Ich erschrak bei dem Gedanken, mein Bild könnte in der Menge auf dem Bürgersteig zu sehen sein, eine Vorstellung, die Beunruhigung, nicht Angst auslöste. Aber ich beruhigte mich – ein wenig –, da Gott sei Dank meine Frau an meiner Seite stand, weshalb meine Unschuld anzunehmen wäre. Gott stärke Euch und schütze Euch vor Anschuldigungen!«(9)

Die Passage verrät, wie weit die Angst vor sexuellen Anschuldigungen in Ägypten seit Ende der neunziger Jahre gediehen ist. Das Paradox dieser Passage liegt jedoch darin, dass Homosexuelle – in ihrem Sosein – als etwas völlig Fremdes und Unbekanntes beschrieben werden, aber doch gleichzeitig in ihrem Tun etwas zutiefst Vertrautes zu repräsentieren scheinen, das jedem, auch einem Ehemann, mit einiger Plausibilität unterstellt werden darf. Im selben Atemzug, in dem Huwaidi Homosexuelle als rein westliche Erscheinung von sich weist, erfleht er daher selbst Schutz vor – offenbar nicht nur grundlosen – Anschuldigungen gegen ihn und seine LeserInnenschaft. Die besondere Ferne, die Huwaidi den »Perversen« gegenüber auszudrücken bemüht ist, etwa indem er sie mit Tieren vergleicht(10), ist also zugleich der besonderen Nähe geschuldet, die ihr stigmatisiertes Sein mit eigenen Handlungen verbindet.

Vielleicht können wir von daher die grotesken Dimensionen besser verstehen, welche die Homosexuellenverfolgung in Ländern angenommen hat, in denen die Einführung des Homo-Hetero-Binarismus noch jüngeren oder sogar jüngsten Datums ist. Muss nicht gerade dort für die Abspaltung einer homosexuellen Minderheit noch am meisten Kraft aufgewendet werden? Die psychologische Arbeit, die darin besteht, das Innen nach Außen zu weisen, von Freud als Projektion bezeichnet, nimmt deshalb den Charakter eines ausgewachsenen Wahns ein.

So wurden in einem bislang beispiellosen Prozess gegen 52 angeblich schwule Ägypter, die auf dem Queen Boat, einer populären Diskothek auf dem Nil, aufgegriffen wurden, schließlich 21 wegen »gewohnheitsmäßiger Ausschweifung« zu drei Jahren Gefängnis verurteilt. Die Medien sahen in der Diskogesellschaft eine satanistische Sekte am Werk. Bereits einen Tag nach der Massenverhaftung berichtete die regierungsnahe Tageszeitung al-Ahram, die »Teufelsanbeter« hätten versucht, »neue Mitglieder für ihren Kult zu werben«. Die Proteste von Menschenrechtsgruppen im Ausland wurden in der ägyptischen Wochenzeitung al-Usbu’a mit dem Satz kommentiert: »Die Perversen der Welt führen einen zügellosen Krieg gegen Ägypten!« Die Zeitung Hadith al-Medina erklärte die Unterstützung der »Perversen, die mit aller Macht auf die Zerstörung des Wertesystems, welches die ägyptische Gesellschaft erhalte«, gar zum Teil einer Strategie der US-amerikanischen Außenpolitik. Bereits mehrere Monate zuvor hatte die Wochenzeitung Ruz al-Yussif Details über diese angebliche Verschwörung verbreitet. Danach seien die Homosexuellen, welche »in den USA zu einer Kraft geworden sind, die stark genug war, die jüngsten Wahlen zu beeinflussen«, wie die Zeugen Jehovas Teil eines Netzes jüdischer Verschwörungen, die darauf zielten, »die Gesellschaften auseinander zu treiben, Zweifel an der Religion zu schüren und den Verunsicherten Gelüste einzureden«.(11)

Die Transformation der erotischen Beziehungen unter Männern vom System der Freundschaft zu dem der Sexualität verändert die eigene Lebenswelt auf bedrohliche Weise.(12) Sie markiert den panischen Beginn einer Sortierung von Menschen nach ihrer sexuellen Orientierung. Damit ist der Zwang verbunden, über sich und seine sexuellen Handlungen eine »Hermeneutik des Begehrens« (M. Foucault) auszuüben und notfalls zu bekennen: »ich bin anders«. Schuld und Abwehr, Abspaltung und Projektion sind die Begriffe, aus denen sich das terroristische Klima von Verdächtigungen und drakonischen Strafen erklären lässt.

Doch bleiben die Wirkungen dieses Prozesses, der sich auf der Ebene der transzendentalen Denkformen abspielt, dem praktischen Verstand, der es schließlich mit konkreten Handlungen zu tun hat, unbegreiflich. Ihm wird die in den späten neunziger Jahren erstmals sichtbar gewordene kommerzielle Schwulenszene Ägyptens, welche die neue Zeit handfest verkörpert, zum Teil der Machenschaften von »Teufelsanbetern«. Als deren finstere Hintermänner dienen dabei neben amerikanischen Geheimdiensten, westlichen Menschenrechtsorganisationen und Homosexuellenverbänden einmal mehr die Juden, die schon Anfang des 20. Jahrhunderts in Europa für die sexuelle Zersetzung der »nationalen Sittengemeinschaft« verantwortlich gemacht wurden.(13)

Ähnlich wie den BeobachterInnen vor Ort bleiben jedoch auch dem westlichen Blick die Vorgänge in der arabisch-islamischen Welt aufgrund einer Perspektive, die identitäre Denkformen naturalisiert, nur in rassistischer, die eigene Überlegenheit hervorkehrender Weise zugänglich. Dies macht sich in Diskursen über außereuropäische Länder bemerkbar, in denen die Existenz von Lesben und Schwulen fraglos vorausgesetzt wird. So schreibt das bundesdeutsche Szenemagazin gay-press.de über die Vorgänge in Ägypten: »Zumindest wir westlich zivilisierten Homos wollen unser Gesicht behalten und distanzieren uns nachdrücklich von den unerträglichen Zuständen, unter denen unsere Mitschwestern in Ägypten leiden.«(14) Die Adressierung von Mitschwestern in Ägypten unterstellt völlig unproblematisiert die Existenz der eigenen Denkform im Land am Nil.

Dass man selbst das Produkt einer epistemologischen Falte(15) ist, scheint von »westlich zivilisierten Homos« nicht bemerkt zu werden. Dafür werden jedoch andere Formen gleichgeschlechtlicher Attraktion vom Autor auf eine unerträgliche Weise denunziert: »Sobald zwei islamische Männer Hand in Hand auf der Straße laufen, hat dies eine andere Bedeutung; das ist dann Ausdruck von Freundschaft ... Nun gut, andere Länder, andere Sitten.« Demonstrativ wird hier Unverständnis gegenüber der »Freundschaft als Lebensweise« (Foucault) zur Schau gestellt, die immerhin eine in vielen außereuropäischen Ländern gängige Alternative zum westlichen Identitätsmodell darstellt. Gleichzeitig wird jedoch der Unterschied als kulturelle Differenz markiert, mit deren Hilfe Ägypten bzw. der »Orient« als das Andere konstruiert werden kann.

Der Autor, der sich auch sonst eher für die Unversehrtheit schwuler Touristen aus Deutschland als für die Situation der Menschen vor Ort interessiert, repräsentiert die typische Ignoranz, die in westlichen Diskursen gegenüber nicht-identitären Modellen von »Homosexualität« eingenommen wird. Sie werden einfach nicht gesehen: man stellt sich blind.

Als bloßes Kuriosum wurden so auch die »ungewöhnlichen Zuneigungen« der Soldaten der Nordallianz während ihres Vormarsches nach Kandahar verbucht. »Die schlafen zusammen im Schlafsack und singen sich Gedichte ins Ohr«, erzählt der Münchener Fotograf Thomas Dworzak ungläubig seine Erlebnisse von der afghanischen Front. »Ob das jetzt Homosexualität im europäischen Wortsinn ist, weiß ich nicht.«(16) Jedenfalls sei ein ausländischer Journalist völlig ausgerastet, als ein afghanischer Soldat ihm in den Schritt fasste, und habe alle Mudschaheddin verprügeln wollen. NEWS.scotsmann.com hingegen berichtet am 24. Mai 2002 über den Einsatz der Royal Marines in den afghanischen Bergen: »Die abgehärtete Truppe, ihre Gesichter verdeckt von Camouflage-Creme und mit dem schweren Gewicht von Waffen, Radios und Munition beladen, wurden mit Afghanen konfrontiert, die ihre Haare streicheln wollten.« Corporal Paul Richard (20) wird mit den Worten zitiert: »Es war die Hölle. In jedem Dorf, in das wir gingen, kam eine Gruppe von Männern auf uns zu, die Make-up trugen, unsere Haare und Wangen streichelten und Kussgeräusche machten.« »Furchterregender als die Al-Qaida« bezeichnete gar der Marine James Fletcher die afghanischen Männer. »Sie halten Händchen und trippeln so im Dorf herum.«(17)

Ähnlich sensationsgierig gestaltete Philip Smucker im Sydney Morning Herald vom 22. Juni 2002 seine Reportage The Royal Marines and a gay warlord. Über den ehemaligen Taliban-Befehlshaber Malim Jan, der heute im Sold des US-Militärs die zerklüftete Grenze nach Pakistan patrouilliert, schreibt er:

»Er gibt zu, dass er zwei Frauen und ›mehrere Boyfriends‹ habe, und hat nun Gefallen an den Royal Marines gefunden, die sein Camp besuchten. ›Sehr gutaussehende Jungs, viel glatter rassiert und hübscher als die amerikanischen Spezialkräfte‹, sagte er von den Marines, während seine eigenen Kämpfer – die er als ›schöne junge Knaben‹ bezeichnet – zu ihm emporlächeln. Major Rich Stephens, der die Zulu-Kompanie des 45. Marines-Kommandos befehligt, erklärte zuvor, dass die ›ungewöhnlichen Zuneigungen‹ der afghanischen Männer als komplette Überraschung für seine Jungs gekommen waren. Er spielte es zu einem ›möglichen kulturellen Missverständnis‹ herunter, aber Commander Jan meinte, dass Homosexualität ›eine Tradition hier in diesen Bergen‹ sei.«(18)

Befremdlich erscheint Smucker ausschließlich das Verhalten der afghanischen Männer, während die phobische Reaktion der »britischen Jungs« nicht als Ausdruck einer europäischen Tradition gelesen wird, sondern als universale Norm gesetzt bleibt. Gleichzeitig wird die »fremde Tradition« der Afghanen jedoch in einer vertrauten Ordnung des Wissens wiedergegeben, indem sie als »Homosexualität« etikettiert und der Warlord Malim Jan als »schwul« bezeichnet wird. Was Jan über sich selbst sagte, welche Worte er dabei gebrauchte und in welcher Sprache er sich ausdrückte, bleibt völlig im Dunkeln.

 

Rassistischer Backlash

Die Kulturalisierung der Homosexuellenverfolgung zur »Eigenart« der islamischen Welt hat aber auch für arabisch-türkische MigrantInnen in Deutschland ganz praktische Auswirkungen, indem auf sie das Bild ihres Herkunftslandes projiziert wird. Dabei wird gerade so getan, als lebten türkischstämmige Jugendliche hierzulande nach komplett anderen kulturellen Regeln als ihre deutsch aufgezüchteten Altersgenossen. So schreibt etwa Alexander Zinn vom »Lesben- und Schwulenverband in Deutschland« (LSVD), dass es »besonders Jugendlichen aus islamisch geprägten Ländern [...] aufgrund ihrer kulturellen und religiösen Prägung« schwer falle, »die homosexuelle als gleichwertige Lebensform anzuerkennen.«(19)

Solche spekulativen Aussagen berufen sich hauptsächlich auf die Berichte des Schwulen Überfalltelefons Berlin, die eine erhöhte Beteiligung von »ausländischen« Jugendlichen an homophoben Gewalttaten registrieren. Andere Erklärungen geraten dabei jedoch aus dem Blick. So werden MigrantInnen der zweiten oder dritten Generation auch dann stereotyp als »Ausländer« identifiziert, wenn sie längst den deutschen Pass haben. Schon allein deshalb ist der Vergleich zwischen Bevölkerungsdaten und der subjektiven ethnischen Zuordnung der Täter durch ihre Opfer unzulässig. Darüber hinaus werden MigrantInnen generell häufiger angezeigt, während sich der Tatvorwurf vor Gericht seltener erhärten lässt. Hinzu kommt das jüngere Durchschnittsalter sowie die in wesentlich höherem Maße gegebene Unterschichtzugehörigkeit – beides mit der Gewalttendenz in der Bevölkerung unmittelbar zusammenhängende Faktoren.

In den meist sehr unseriösen, weil aus politischen Gründen geführten Statistiken zu antischwuler Gewalt werden neben schwulenfeindlichen Übergriffen auch ökonomisch motivierte Raubüberfälle registriert, bei denen die Opfer zu etwa 50 Prozent nur zufällig homosexuell sind. Während »ausländische« Jugendliche aufgrund ihrer Armut bei solchen Delikten dominieren, geben bei homophoben Hassverbrechen, wie Christoph Ahlers gezeigt hat,(20) als ›deutsch‹ Identifizierte den Ton an. Einfachste demographische Zusammenhänge werden aber selbst von ernst zu nehmenden StatistikerInnen ignoriert. »So befinden sich«, gibt Tjark Kunstreich zu bedenken, »die Schwerpunkte der Schwulenszene (Schöneberg, Charlottenburg, Kreuzberg) auch an den Lebensorten der meisten Berliner MigrantInnen. [...] Im Gespräch mit B. Finke«, dem Leiter des Schwulen Überfalltelefons, »nannte er selbst diese Faktoren, aber nicht in den Jahresberichten«.(21) Handelt es sich also um eine bewusste Unterschlagung, um Ausländer als Feindbild zu konstruieren? So zumindest deutet es Tjark Kunstreich: »In den Thesen [von Alexander Zinn - GK] wird [...] deutlich, dass die allgemeine, entpersonalisierte Homophobie, die schwer (an) zu greifen ist, auf eine konkrete Gruppe projiziert wird und so als konkretisierte Schwulenfeindlichkeit ›Namen und Adresse‹ erhält – und zugleich die Mehrheitsgesellschaft frei gesprochen wird vom Ressentiment.«(22)

»Ausländische« Jugendliche reagieren auf die Bedrohung ihrer Sexualität durch das Stigma der Andersartigkeit jedoch nicht anders als Deutsche: Sie greifen diejenigen an, die einen Teil ihres verdrängten Begehrens nach außen verkörpern. Die Konstruktion einer »kulturellen Differenz« würde hier nur die grundlegende Funktionsweise von Homophobie verdecken, nämlich die gewaltsame Abwehr der eigenen, wenn auch latenten Homosexualität durch die Projektion auf eine Minderheit. Die Homophobie von Jugendlichen ist mit dem identitären Homo-Hetero-Binarismus untrennbar verbunden und auf dessen Basis unaufhebbar.(23) An diesem Strukturzusammenhang können auch die eindringlichsten Appelle an SchülerInnen, Toleranz gegenüber dem »Anderen« walten zu lassen, nichts ändern. Die gewalttätigen Reaktionen auf die Bedrohung des eigenen Begehrens durch ein gesellschaftliches Stigma – die sich natürlich wie immer an die falschen AdressatInnen richtet – mögen, was letztlich unbewiesen bleibt, unter »ausländischen« und »inländischen« Jugendlichen unterschiedlich verteilt sein. Doch außer zur Klärung von Einflussfaktoren wie z.B. der Schichtzugehörigkeit auf die kriminelle Verarbeitung dieses Unbehagens trägt ein solcher Hinweis nicht das Geringste bei. Im Gegenteil: Er verstellt den Blick auf den zugrundeliegenden Mechanismus, indem Homophobie statt als soziales Strukturmerkmal einer Gesellschaft, die Menschen nach sexuellen Identitätskategorien sortiert, vielmehr als Ausdruck dieser oder jener kulturellen Tradition gelesen wird.

 

Fußnoten:

(1) Vgl. Tjark Kunstreich; Horst Pankow; Justus Wertmüller, Gegen den Terror negativer Gleichheit, in: konkret 3/2002.

(2) Liwat mit »Homosexualität« zu übersetzen, ist irreführend. Vielmehr spielt dieser theologische Begriff auf die »Untaten von Lots Volk« an, deren Vergehen laut katholischer Lehre in der Wollust und im »widernatürlichen« (Plato, Nomoi) Verkehr mit Männern bestand. Der Islam hat diese Interpretation übernommen, knüpfte aber an die Aufdeckung dieses »Vergehens« Bedingungen, deren Erfüllung nach einhelliger Ansicht weder gewollt noch praktisch möglich ist. Im nachrevolutionären Iran geschah die Verfolgung »Homosexueller« daher auch nicht durch das von der Shari’a geforderte Zeugnis von vier unbescholtenen Männern, die das »Eindringen des Schlüssels in das Schlüsselloch« hätten beobachtet haben müssen, sondern aufgrund des bloßen Vorwurfs »homosexueller Dekadenz«. Dies setzte voraus, dass man die westliche Konstruktion des »Schwulen« als eines »abartigen Personentyps« bereits übernommen hatte. Vgl. Maarten Schild, Islam, in: Dynes Wayne u. a. (Hrsg.), Encyclopedia of Homosexuality, New York 1990.

(3) Vgl. Amnesty International Sektionsgruppe 2918, Uganda: Museveni hetzt gegen Homosexuelle, in: Rundbrief 14 (März 2000).

(4) Zit. u. übers. n. Joseph Boone, Vacation Cruises, in: John C. Hawley (Hrsg.), Postcolonial, Queer. Theoretical Intersections, Albany 2001, 55.

(5) Zit. u. übers. n. Edmund White, Once a sodomite, twice a philosopher, in: The Harvard Gay & Lesbian Review III/1 (Winter 1996).

(6) Zit. u. übers. n. Joseph Boone, ebd, 52.

(7) Zit. ebd., 47 (übers.).

(8) Die genannten Untersuchungen werden referiert bei: Stephen O. Murray, The Will Not to Know, in: Stephen O Murray; Will Roscoe (Hrsg.): Islamic Homosexualities. Culture, History, and Literature, New York/London 1997, 35 f.

(9) Zit. n. www.memri.de/uebersetzungen_analysen/themen/europa_und_der_nahe_osten/eu_zwei_reisen_02_08_02.html

(10) Huwaidi, der über die Ausrichtung einer heterosexuellen »Verkehrsparade« in Berlin (vielleicht der Fuck Parade) erzählt bekommen hat, erregt sich darüber mit den Worten: »Als ich dies hörte, sagte ich, das ist das, was auch die Tiere machen, wobei die Tiere immer noch besser als die Schwulen seien [shazz bedeutet so viel wie ›abnorm‹, ein Wort für ›schwul‹ existiert im Arabischen nicht – G.K.], da wir wenigstens nichts darüber wüssten, ob Tiere – egal ob Männchen oder Weibchen – mit Gleichgeschlechtlichen verkehren würden« (zit. ebd.).

(11) Detailliert ausgewertet wurde die Berichterstattung ägyptischer Zeitungen von Götz Nordbruch, Sexualität als Vehikel der Globalisierung, in:

Gigi 16 (2001).

(12) Frauenliebe (sihaq), traditionell nicht weniger verbreitet als ihr männliches Pendant, wird in arabischen Länder hingegen nach wie vor kaum problematisiert (vgl. Mona Naggar, ...wie das Reiben von Safran, in: taz, 14. März 1996). Zum einen kann sich ihre Verurteilung nicht durch den Verweis auf den Koran oder die Hadithen des Propheten kulturell authentifizieren, zum anderen – und dies ist sicher ausschlaggebender – ist die Öffentlichkeit von männlichen Interessen, aber eben auch Ängsten dominiert.

(13) Vgl. James D. Steakley, Iconography of a Scandal: Political Cartoons and the Eulenburg Affair in Wilhelmin Germany, in: Martin Duberman u. a., Hidden from History. Reclaiming The Gay & Lesbian Past, New York u. a. 1990.

(14) Jens Brodzinski, Pack die Badehose wieder aus ...!, in: gay-press.de 3 (2002), 10.

(15) Mit dem Begriff der »epistemologischen Falte« adaptiere ich eine berühmte Formulierung Michel Foucaults. Wie dieser vom Menschen behauptete, so lässt sich wohl mit noch größerem Recht über »den Homosexuellen« sagen, dass er »lediglich eine junge Erfindung ist, eine Gestalt, die noch nicht zwei Jahrhunderte zählt, eine einfache Falte in unserem Wissen, und daß er verschwinden wird, sobald unser Wissen eine neue Form gefunden haben wird«. Vgl. M. Foucault, Die Ordnung des Wissens. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, 3. Aufl., Frankfurt a. M. 1980, 27

(16) www.gayforum.de/queer/szene/04767.shtml

(17) www.news.scotsman.com/topics.cfm

(18) www.smh.com.au/articles/2002/06/08/1022982784608.html

(19) Zit. n. Tjark Kunstreich, Diskriminierung als Medium der Anpassung. Kritische Überlegungen zur Identitätspolitik der Schwulenbewegung, Berlin 2000, 50 f.

(20) Vgl. Christoph J. Ahlers, Gewaltdelinquenz gegen sexuelle Minderheiten, in: LSVD-Sozialwerk e.V. (Hrsg.), Hassverbrechen. Neue Forschungen und Positionen zu antihomosexueller Gewalt, Köln 2000, 123.

(21) Tjark Kunstreich, ebd., 37 f.

(22) Ebd., 51.

(23) Dass sich der Binarismus zwischen homo und hetero parallel zur »Emanzipation« von Lesben und Schwulen nur noch tiefer in die Gesellschaft eingegraben hat, demonstriert eine Längsschnittstudie zur Jugendsexualität in Deutschland. So machten Ende der sechziger Jahre noch fast zwanzig Prozent der männlichen Jugendlichen gleichgeschlechtliche sexuelle Erfahrung. 30 Jahre später sind es nur noch zwei Prozent. »Seitdem die Homosexualität als eine eigene Sexualform öffentlich verhandelt wird, kommt die Befürchtung der Jungen hinzu, womöglich als ›Schwuler‹ angesehen zu werden«, erklärt der Sexualwissenschaftler Volkmar Sigusch dieses Ergebnis. Vgl. Jugendsexualität – Veränderungen in den letzten Jahrzehnten, in: Dt. Ärzteblatt 95 (1998): A-1240–1243 [Heft 20].

Georg Klauda
Der Autor ist Kulturreferent im AStA der FU Berlin