Bei der Betrachtung des Vokabulars, das zur Beschreibung der europäischen Verfassung seit Beginn der Krise im öffentlichen Diskurs verwendet wurde, fällt auf, dass speziell solche Formulierungen eine große Popularität genossen, die ein hochdramatisches Ende der Europäischen Union heraufbeschworen. Angstvolle Meldungen von ihrem »Auseinanderbrechen« und vom »Zusammenbruch« bestimmten in den vergangenen Jahren die mediale Berichterstattung. Bei dieser Rhetorik kam man fast nicht umhin, sich die jüngste Krise des Kapitalismus als eine Art Katastrophe biblischen Ausmaßes vorzustellen, die einen gesamten Kontinent mit apokalyptischem Getöse im Nichts verschwinden lassen würde.
Heute sehen die deutschen Medien bereits das Ende der Krise am Horizont aufscheinen und feiern die Krisenbewältigungsstrategien der Politik. Der befürchtete europäische Untergang blieb bisher aus. Oder doch nicht? Bis heute hat sich Europa als politische oder wirtschaftliche Union zwar nicht aufgelöst, dennoch sind die Folgen der Krise verheerend und regressive Tendenzen auf mehreren Ebenen zu erkennen. In seinem neuen Buch Europa zwischen Weltmacht und Zerfall spricht Rainer Trampert in diesem Zusammenhang von einem »Zerfallsprozess« oder auch »Prozess der Fäulnis«.
Trampert widmet sich in der im Schmetterling Verlag erschienenen Monographie diesem europäischen Zerfallsprozess. Neben den Ursachen dafür, dass Europa zum »Sanierungsfall des Weltkapitalismus« wurde, beschreibt er ausführlich, welche Folgen das für die gesamte Weltordnung hat. Das thematische Spektrum der insgesamt zwölf Kapitel erstreckt sich dabei von der Auseinandersetzung mit Krisentheorien wie dem (Links)Keynesianismus oder der Theorie der sinkenden Profitrate über die jüngsten politischen Entwicklungen in der Ukraine, der europäischen Migrationspolitik bis hin zum von der Krise beförderten Antisemitismus in den europäischen Staaten. Er beschreibt die wachsenden Disparitäten innerhalb der Europäischen Union, das stete Auseinanderdriften Europas in Kerneuropa und Peripherie, und widmet ein Kapitel der deutschen Hegemonie, deren Vorbedingungen laut Trampert bereits in den Jahren nach dem zweiten Weltkrieg geschaffen wurden. Der Autor verharrt mit seiner Analyse jedoch nicht auf der europäischen Ebene, sondern sieht vielmehr eine neue Epoche anbrechen, die gekennzeichnet sei von einer »Stagnation der Kapitalbildung und des Wirtschaftswachstums im hoch industrialisierten europäischen Kapitalismus und gleichzeitigem Aufschwung der Schwellen- und Entwicklungsländer«. Während Europa in der Krise stecken bleibe und die ebenfalls angeschlagenen USA mit Mühe versuchten ihre Wirtschaft zu sanieren, begebe sich die halbe Welt, besonders Asien, Brasilien, Saudi-Arabien, die Türkei, Mexiko und Südafrika »auf den Weg der größten Industrialisierung aller Zeiten«. Trampert konstatiert eine macht- und wirtschaftspolitische Verschiebung in der Krise zugunsten von Asien und Afrika, die dazu führe, dass die Länder dieser Kontinente zu den »Gläubigern der ›ersten Welt‹« würden und der Westen einen Bedeutungsverlust erleide: »Wer auf die USA als Abonnementsfeind programmiert ist, muss sich umorientieren. Imperialismus ist kein Privileg der USA und der europäischen Kolonialmächte mehr«.
Diese Beschreibung der Krisenfolgen auf ökonomischer Ebene wird von Trampert durch Ideologiekritik ergänzt. Sehr gelungen sind die Abschnitte des Buches, in denen er sich mit dem Massenbewusstsein auseinandersetzt, das sich in der Krise an der Nation oder Region festklammert, während das expansive Kapital diese Grenzen längst hinter sich gelassen hat. Das von ihm gezeichnete Bild ist düster: Die Krise spült altbekannte Ideen von einer Überlegenheit der »nordischen Rasse« gegenüber der Imagination eines kulturellen Südens wieder hoch, rechtskonservative bis offen faschistische Parteien gewinnen an Popularität und antisemitische Verschwörungstheorien sind längst salonfähige Krisendeutungen. Linke Gegenstrategien, die sich für die soziale Befreiung einsetzen, sind dagegen nicht in Sicht. Mit einem »Europäismus« wird der Nationalismus von linker Seite auf europäischer Ebene zelebriert und auf den Neoliberalismus geschimpft, anstatt die Systemfrage zu stellen.
Insgesamt handelt es sich bei Europa zwischen Weltmacht und Zerfall um eine detailreiche und stilistisch zugängliche Bestandsaufnahme vom Europa in der Krise, die jedoch von einer etwas stärkeren Verengung des thematischen Fokus profitiert hätte. Obwohl das hochkomplexe Thema eine Auseinandersetzung mit all seinen Facetten vorzugeben scheint, wäre an einigen Stellen stattdessen eine weiter in die Tiefe gehende Analyse wünschenswert gewesen.
Nichtsdestotrotz ist das Buch lesenswert und besonders für die Menschen geeignet, die unter einer Kritik am Europa in der Krise etwas anderes verstehen als das Campen vor Banken, Hetze gegen so genannte Krisenprofiteure und eine Reform des Kapitalismus.
Anika Noetigenfalls
Rainer Trampert: Europa zwischen Weltmacht und Zerfall. Schmetterling Verlag, Stuttgart 2014, 240 S., € 14,80.