In der Autoritäts- und Identitätsfalle

Stichworte zur Debatte um Critical whiteness anlässlich des diesjährigen No Border Camps in Köln

Vieles spricht dafür, mit einer kurzen Rückblende zu beginnen: 2003 zerbrach in Köln der 1998 gestartete Zyklus antirassistischer Grenzcamps an massiven Konflikten innerhalb des Vorbereitungskreises. Grund für das Zerwürfnis war vor allem die Frage, inwiefern linker Antirassismus immer schon, zumindest von deutsch-weißer Seite aus, als gemischte bzw. transidentitäre Kooperation angegangen werden müsse – eine Forderung, die im Kontext der Grenzcamps vor allem gemischt Flüchtlinge und Nicht-Flüchtlinge bedeutete. Trotz aller Konflikte entpuppten sich jedoch die damaligen Auseinandersetzungen als ausgesprochen produktiv, entsprechend sind in den Folgejahren zahlreiche trans­identitäre Projekte, etwa das überregionale NoLager-Netzwerk (2002-2007) oder seit 2009 die beiden transnational verankerten Netzwerke Welcome to Europe und Afrique-Europe-Interact entstanden. Unter Schlagworten wie »Hybridität« oder »transidentitäre Organisierung« kreisten die Debatten immer wieder um die Frage, wie eine egalitäre Zusammenarbeit unter mehr oder weniger ungleichen Ausgangsbedingungen überhaupt aussehen könne. Als wichtiger Stichwortgeber fungierte dabei von Anfang an das ursprünglich aus den USA importierte Critical whiteness-Konzept, wonach in der wissenschaftlichen, künstlerischen und politischen Auseinandersetzung mit Rassismus nicht nur die Entrechtung Schwarzer oder anderer von Rassismus Betroffener, sondern auch die Kritik an weißer Vorherrschaft und der damit verknüpften Privilegien eine zentrale Rolle spielen müsse. Umso unverständlicher, ja grotesker war es, was sich beim diesjährigen No Border Camp 2012 in Köln zugetragen hat, übrigens auf der selben Wiese wie neun Jahre zuvor. Denn wieder ist es zu Zerwürfnissen gekommen, diesmal hingegen unter umgekehrten Vorzeichen: Jetzt stellten nicht weiße bzw. autonome Zusammenhänge die Kooperation mit selbstorganisierten Flüchtlingsgruppen in Frage. Vielmehr ist es durch diverse People-of-Color-Aktivist_innen wie auch weiße Aktivist_innen zur autoritären und identitätspolitischen Aufladung von Critical whiteness gekommen. Im Zentrum stand die offensiv artikulierte Kritik an tatsächlichen oder vermeintlichen Rassismen und Dominanzen seitens weißer Campteilnehmer_innen, allerdings in derart rabiater Manier, dass sich – wie schon 2003 – insbesondere zahlreiche Flüchtlingsaktivist_innen mit ihrem politischen Anliegen ins diskursive Abseits gedrängt sahen. Einige Beispiele: Bereits am dritten Tag des Camps wurde ein völliges Alkohol- und Drogenverbot gefordert, vorgeblich um die Sicherheit nichtweißer Teilnehmer_innen zu gewährleisten. Des Weiteren erhielten weiße Dreadlock-Träger_innen per Zettelchen die Aufforderung, ihre Haare wegen sogenanntem »Kulturkannibalismus« abzuschneiden. Ebenfalls energisch ist gegen unliebsame Begrifflichkeiten vorgegangen worden, etwa als ein aus Nigeria stammender Aktivist von The Voice Refugee Forum während des Abschlussplenums allen Ernstes gebeten wurde, sich nicht als »Opfer« zu bezeichnen, sondern als »negativ von Diskriminierung Betroffener«. Höhepunkt des Konflikts dürften allerdings zwei handfeste Repressionsakte gewesen sein: Einerseits die eigenmächtige Absetzung eines Workshops der Migrantinnen-Organisation agisra, nachdem es in einem ersten agisra-Workshop zu diskriminierendem Verhalten weißer Campteilnehmer_innen gekommen war – eine Vorgehensweise, die agisra mehrfach scharf kritisiert hat. Andererseits der ohne jede Erläuterung erfolgte Versuch, eine weiße Aktivistin wegen einer rassistischen Beleidigung rauszuwerfen, wobei sich sechs Wochen nach Ende des Camps die von Anfang an gehegte Vermutung einer personellen Verwechslung bewahrheitet hat. Auch wenn die weiter oben ins Zentrum gerückte Begrifflichkeit der transidentitären Organisierung in erster Linie aus den praktischen Debatten anlässlich des 5. Antirassistischen Grenzcamps 2002 in Jena hervorgegangen ist, haben theoretische Konzepte seinerzeit eine durchaus wichtige Rolle gespielt – nicht zuletzt die von israelisch-palästinen­sischen Friedensinitiativen inspirierte Arbeit der israelischen Sozialwissenschaftlerin Nira Yuval-Davis. In ihrem ursprünglich 1997 erschienenen Buch Geschlecht und Nation entwickelte sie unter Bezugnahme auf postkoloniale Theoretikerinnen wie bell hooks und Gayatri Chakravorty Spivak das einflussreiche Konzept der »transversalen Politik«, das insbesondere von zwei Prämissen ausgeht. Einerseits der Möglichkeit »transversaler Dialoge«, wonach »Erkenntnisgemeinschaften« bzw. Bündnisse auf der Basis gemeinsamer »Wertesysteme« trotz unterschiedlicher gesellschaftlicher Positionierungen herausgebildet werden könnten, andererseits der Feststellung, dass nicht jeder »Interessenkonflikt« versöhnbar sei und Dialoge daher auch unweigerlich an Grenzen stießen. Hervorzuheben ist insofern, dass sich beide Prämissen für die alltägliche Arbeit in heterogen zusammengesetzten Netzwerken als äußerst gewinnbringend entpuppt und sich somit als eine Art handlungspraktisches Fundament von Critical whiteness gleichsam aufgedrängt haben, vor allem hinsichtlich der Frage, wie auf nichtautoritäre und nichtidentitäre Weise mit Dominanz und Privilegien umgegangen werden kann. Näheres zu den Vorgängen findet sich in einem von NoLager Bremen am 25. Juli auf Indymedia veröffentlichten Bericht.

Die Vorgänge in Köln haben zahlreiche grundsätzliche Fragen aufgeworfen, denen ich im Folgenden nachgehen will. Dabei sei eines von Anfang an hervorgehoben: Gegenstand der Auseinandersetzung soll hier nicht Critical whiteness an sich sein, denn das Konzept ist in seinem ursprünglichen Gehalt weder autoritär noch identitär. Critical whiteness begreift Rassismus vielmehr als ein System fein abgestufter Ein- und Ausschlüsse, welches unterschiedliche Zugänge zu Ressourcen eröffnet bzw. verweigert, dies unter Rückgriff auf jene bereits im Kolonialismus entstandenen Repräsentationsregime, die Menschen entlang von Hautfarbe und anderen vorgeblich bedeutsamen Differenzierungskriterien als schwarz, weiß, arabisch etc. kategorisieren und somit zu Angehörigen unterschiedlicher Gruppen machen – inklusive je ethnisiertem Körper bzw. Selbst. Konkreter: Wenn von weiß, schwarz oder von People of Color (PoC) die Rede ist, verweist dies nicht auf Hautpigmentierungen oder andere eigens markierte Eigenschaften, sondern auf soziale Positionierungen, die in sozioökonomischer, rechtlicher, kultureller und politischer Hinsicht mit unterschiedlichen, ja gegenläufigen Erfahrungen einhergehen. Entsprechend haben sich in Köln auch Aktivist_innen als PoC bezeichnet, die rein visuell als Angehörige der Mehrheitsgesellschaft durchgehen könnten (Stichwort: »Passing«), die aber durch nichtdeutsch klingende Nachnamen oder familiäre Bezüge gesellschaftlicher Diskriminierung ausgesetzt waren bzw. sind. Der in Köln ausgebrochene Konflikt dreht sich mit anderen Worten um verschiedenartige Verständnisse von Critical whiteness, also auch die Frage, wie es überhaupt zur autoritären und identitätspolitischen Wende hat kommen können. Hierbei sollte das Augenmerk insbesondere auf jene Erfahrungen gerichtet werden, die bereits in transidentitär durchgeführten Kooperationen gesammelt wurden. Denn erst vor diesem Hintergrund dürften die Schwachstellen und Widersprüche der in Köln durchgeboxten Critical whiteness-Praxis nachvollziehbar werden, auch mit Blick auf die ebenso simple wie grundlegende Feststellung, dass sich die Frage des Umgangs mit Dominanzen und Privilegien überall dort gleichsam von selbst aufdrängt, wo Aktivist_innen mit unterschiedlichen Hintergründen bzw. Ausgangsvoraussetzungen zusammenarbeiten.

Critical whiteness im Praxistest

Im Zentrum transidentitärer Projekte wie dem NoLager-Netzwerk oder Afrique-Europe-Interact hat zu keinem Zeitpunkt die theoretisch bzw. akademisch ausgerichtete Beschäftigung mit Critical whiteness gestanden – das wäre allein schon aufgrund völlig unterschiedlicher Bildungshintergründe kaum möglich gewesen. Thematisch sind jedoch viele der im alltäglichen Organisierungsprozess entstandenen Debatten immer wieder um jene Fragen, Probleme und Herausforderungen gekreist, die fraglos zum Kernbestand des Critical-whiteness-Diskurses gehören. Was das konkret bedeutet, sollen einige knappe Beispiele aus den letzten zehn Jahren veranschaulichen – unter besonderer Berücksichtigung des alltäglichen Umgangs mit Privilegien und Dominanzen: Auf www.afrique-europe-interact.net sind unter der Rubrik Über uns/Vorgeschichte diverse Texte aus den Jahren 2002-2011 dokumentiert, die im Zusammenhang mit den hier vorgestellten Konflikten und Debatten entstanden sind.

[a] Mehrfach ist es in der Vergangenheit bei antirassistischen Aktivitäten wie Camps oder Kongressen zu sexistischen Übergriffen durch männliche Flüchtlinge gekommen. Anstatt jedoch über gemeinsame Interventions- bzw. Präventionsstrategien nachzudenken, wurde dieser Umstand seitens weißer Gruppen immer wieder zum Anlass genommen, nicht nur die beteiligten Flüchtlingsselbsorganisationen zur besseren Beobachtung der von ihnen mobilisierten Männer aufzufordern, sondern auch entschiedenen Antisexismus zur Voraussetzung antirassistischer Zusammenarbeit zu erklären – so geschehen in einem viel diskutierten offenen Brief von Teilnehmer_innen eines Antifacamps in Weimar an The Voice Refugee Forum aus dem Jahr 2000. Entsprechend heftig fielen die Reaktionen aus, nicht zuletzt bei den unmittelbar Angesprochenen selbst. Einerseits, weil hierdurch das tief in den kolonialen Repräsentationsregimen verankerte Stereotyp bedient wurde, wonach Sexismus ein Spezialproblem schwarzer bzw. nichtweißer Männer sei. Andererseits, weil es sich bei der Kritik um eine antisexistisch verbrämte Drohung handeln würde, bei der weiße Antirassist_innen völlig unreflektiert das weiße Privileg in Anspruch nähmen, selber darüber entscheiden zu können, ob, wie und mit wem sie antirassistisch aktiv seien – einschließlich der darin mitschwingenden Option, personelle Trennungen entlang rassistisch konstruierter Scheidelinien vorzunehmen, anstatt das Problem als bewegungsinternen Konflikt anzugehen. Umso wichtiger war es, dass sich in der Entstehungsphase des NoLager-Netzwerks in intensiven Debatten darauf verständigt wurde, dass Rassismus und Sex­ismus gleichermaßen problematisch und obendrein miteinander verschränkt seien und daher auf keinen Fall hierarchisiert werden dürften. Eine Entscheidung, die auch darin zum Ausdruck gekommen ist, dass es 2003 beim Grenzcamp in Köln und bei den Anti-Lager-Aktionstagen in Fürth eine transidentitär zusammengesetzte »Ansprechgruppe im Falle sexististischer Übergriffe« unter Beteiligung von The Voice Refugee Forum gegeben hat.

[b] Einer der heftigsten Konflikte zwischen deutschen Aktivist_innen aus der Grenzcampvorbereitung und The Voice Refugee Forum entzündete sich an der im Jahr 2000 beim Flüchtlingskongress in Jena ins Leben gerufenen Kampagne gegen die Residenzpflicht. Denn das Projekt wurde als »humanitär« und somit als »flüchtlingspolitisch beschränkt« abgestempelt. Zudem sah sich The Voice Refugee Forum angesichts seiner bisweilen propagandistisch anmutenden Hartnäckigkeit mit dem Vorwurf konfrontiert, auf dem schlechten Gewissen europäischer Aktivist_innen zu »surfen«, einzig mit der Zielsetzung, sogenannte »Kampagnensoldaten« zu rekrutieren. Auch diese Kritik blieb nicht unwidersprochen. Moniert wurde, dass die ablehnende Haltung Ausdruck weißer Ignoranz gegenüber einer rassistischen Sonderverordnung sei, die eine den gesamten Lebensalltag von Flüchtlingen durchdringende Erfahrung der Demütigung, Isolierung und Einschüchterung darstelle und somit maßgeblich dafür verantwortlich sei, dass viele Flüchtlinge ihr Recht auf politische Betätigung bzw. Organisierung kaum wahrnehmen würden. Darüber hinaus wurde der dominante und selbstgerechte Gestus der Kritik zurückgewiesen. Würden die deutschen Aktivist_innen doch verkennen, dass Aktionen wie die antirassistischen Grenzcamps für Flüchtlinge keine symbolische Spielwiese seien (wie es das damals geflügelte Wort vom »Ferienkommunismus« unterstellte), sondern ein politischer Raum, von dem sich handfeste Unterstützung und Vernetzung versprochen würde. Insgesamt resultierte hieraus für einen nennenswerten Teil der Grenzcamp-Community, dass sich Antirassismus ungleich stärker an den alltäglichen, mitunter kaum sichtbaren Kämpfen von Flüchtlingen, Migrant_innen und People of Color orientieren müsse. Eine Herangehensweise, die kanak attak seinerzeit als »empathische Identifizierung mit den subjektiven Reproduktionsinteressen von Migrant_innen« beschrieben hat und die fortan für eine Vielzahl grundlegender Weichenstellungen ausschlaggebend war, unter anderem das Zustandekommen des NoLager-Netzwerks.

[c] Wo in transidentitären Konstellationen eng, vertraulich und kontinuierlich zusammengearbeitet wird, kommt dem Umgang mit mehr oder weniger krassen Privilegiengefällen ganz automatisch eine absolut prominente Rolle zu – beispielsweise, wenn im Rahmen der Anti-Lager-Tour (2004) Flüchtlinge auf den Plan traten, die bereits seit Jahren in abgeschiedenen Lagern in Ostdeutschland buchstäblich dahinvegetierten oder wenn bei der Bamako-Dakar-Karawane (2011) europäische Aktivist_innen bei einer Flüchtlingsselbstorganisation in Bamako (Mali) untergebracht wurden, wo kurz zuvor fünfzig gerade aus Libyen Abgeschobene eingetroffen waren. Vor dem Hintergrund derartiger Erfahrungen ist als handlungspraktische Maxime bereits früh das unter anderem aus Critical whiteness-Debatten bekannte Konzept der accountability aufgekommen, also die Selbstverpflichtung weißer Aktivist_innen, sich durch sogenanntes power-sharing zu Verbündeten von Flüchtlingen, Migrant_innen und PoC zu machen, also materielle, symbolische und zeitliche Ressourcen in langfristiger Perspektive systematisch zu teilen. Dabei ist stets unstrittig gewesen, dass die strukturellen Ein- und Ausschlüsse nicht durch individuelle Handlungen verschwinden würden; das Ansinnen war vielmehr, über die accountability die in der rassistischen Struktur der Gesellschaft fundierten Wir-Ihr-Dichotomien zumindest auf dem antirassistischen Feld aufzubrechen. Eine Vorgehensweise, zu der im Übrigen auch gehört, dass im Laufe derartiger Organisierungsprozesse unweigerlich sekundäre Betroffenheiten von Rassismus entstehen, etwa wenn es plötzlich die eigenen Genoss_innen oder Freund_innen trifft, die von Abschiebung bedroht oder an Malaria erkrankt sind, oder wenn es im gemeinsamen Interesse gilt, rassistisch motivierte Schikanen des Standesamts oder der Ausländerbehörde abzuwehren.

[d] Als programmatische Klammer dieser und ähnlicher Prozesse hat sich unterdessen die berühmt gewordene, von der (australischen) Murri-Aktivistin Lilla Watson kreierte und 2003 von der Flüchtlingsinitiative Brandenburg auf T-Shirts gedruckte Devise herauskristallisiert: »Wenn du gekommen bist, um mir zu helfen, dann verschwendest du deine Zeit. Wenn du aber gekommen bist, weil deine Freiheit mit meiner verbunden ist, dann lass uns zusammenarbeiten.« Ausbuchstabiert heißt dies bis heute insbesondere dreierlei: Erstens die Bereitschaft zur accountability im eben genannten Sinne. Zweitens die Offenheit für politische Auseinandersetzungen, auch dort, wo Schmerzgrenzen berührt werden. So ist es im NoLager-Netzwerk, um ein weiteres Beispiel zu nennen, immer wieder zu hitzigen geschichtspolitischen Debatten gekommen, unter anderem zur Frage der (Dis-)Kontinuitäten zwischen den Verbrechen des Kolonialismus und der nationalsozialistischen Tötungsmaschinerie – samt Kritik von Flüchtlingsaktivist_innen an einer eurozentristisch eingefärbten Opferhierarchisierung. Drittens das Bemühen, in der alltäglichen Kooperation sowohl ungleiche Ausgangsvoraussetzungen zu kompensieren als auch Dominanzen zu vermeiden. Hierzu gehören unter anderem die Bereitstellung von Übersetzungen, ein sorgfältiger Umgang mit öffentlichen Sprecher_innenpositionen, die Berücksichtigung davon, dass nicht alle gleichermaßen Zugang zu Internet, Telefon oder Schriftlichkeit haben, die Etablierung von Mehrsprachigkeit, die Förderung der Selbstorganisierung als ein integrales Moment der trans­identitären Organisierung, die kollektive Finanzierung der politischen Arbeit etc.

Critical whiteness in der Identitäts- und Autoritätsfalle

Die explizite Verknüpfung von Critical whiteness mit transidentitärer Organisierung wurde im Zuge des Kölner No Border Camps immer wieder als eine Art Wohlfühlprogramm für Weiße denunziert, angeblich weil in der gemeinsamen Zusammenarbeit die Auseinandersetzung über weißes Dominanzverhalten zu kurz käme. Vor dem Hintergrund der oben skizzierten Erfahrungen dürfte nicht nur die absolute Realitätsferne dieser Kritik deutlich werden, sondern auch das gehörige Maß an Paternalismus, das in solcherart Fokussierung auf weiße Dominanz mehr oder weniger unfreiwillig zum Tragen kommt. So ist die Marginalisierung flüchtlingspolitischer Anliegen in Köln durch die nicht-transidentitäre Critical whiteness-Fraktion ausschließlich auf weißes Dominanzverhalten zurückgeführt worden, ohne allerdings mit einer Silbe dem Umstand Rechnung zu tragen, dass die Mehrheit der Flüchtlingsaktivist_innen in einer am letzten Tag veröffentlichten Erklärung ihre »Isolierung und Ignorierung« genauso wie die »Monopolisierung des Camps durch eine bestimmte Gruppe« (gemeint ist besagte Critical whiteness-Strömung) unmissverständlich an den Pranger gestellt hat. Unerwähnt blieb auch, dass in weiteren Stellungnahmen von Flüchtlingen bzw. flüchtlingspolitischen Gruppen von einer »Atmosphäre der Angst und Beklommenheit« die Rede war, nicht zuletzt davon, dass sich weiße Aktivist_innen zu völlig inadäquaten Solidaritätsbekundungen hätten hinreißen lassen, einzig aus der Angst heraus, ansonsten als Rassist_innen zu gelten. Offensichtlich ist also, dass die Vorkommnisse rund ums Kölner No Border Camp 2012 in erster Linie Ausdruck eines äußerst fragwürdigen Verständnisses von Critical whiteness waren. Hierzu noch einige Überlegungen:

Obwohl im Critical-whiteness-Diskurs die diskursive und somit performativ verankerte Hervorbringung ethnisierter Identitäten betont wird (etwa analog zur Zweigeschlechtlichkeit), waren in Köln stark essentialisierende und somit dichotomisierende Begrifflichkeiten vorherrschend. Und das mit fatal anmutenden Pigmentierungseffekten, wie unter anderem einem offenen Brief entnommen werden kann, der anlässlich eines ähnlich gelagerten Konflikts in Berlin verfasst wurde: »Wir weiße (Personen), unsere Körper, unsere Stimmen, unsere Gedanken sind immer rassistisch. (…) Entweder wir werden angefragt oder wir halten den Mund!« Soziale Kämpfe, Brüche oder transidentitäre Organisierung scheint es in dieser Welt nicht (mehr) zu geben, stattdessen werden die gesellschaftlichen Akteure umstandslos mit ihren jeweiligen Ausgangspositionen kurzgeschlossen. Es dürfte insofern auch kein Zufall gewesen sein, dass die hier kritisierte Critical whiteness-Strömung vor und während des No Border Camps Bezugnahmen auf transidentitäre Projekte systematisch ignoriert, bisweilen auch verhindert hat – einschließlich der unverdrossen ventilierten, aber kaum mit konkreten Beispielen unterfütterten Behauptung, dass es seitens weißer Aktivist_innen nicht das geringste Interesse an selbstkritischer Auseinandersetzung mit Privilegien, Dominanzen und Verletzungen gegeben habe.

Des Weiteren hätten die identitätspolitischen Dichotomisierungen bzw. Polarisierungen in Köln keine derartige Wirkmächtigkeit entfalten können, wäre es nicht, wie eingangs skizziert, zur Verschränkung mit einem ganzen Set autoritärer bzw. repressiver Vorgehensweisen gekommen. Als legitimatorische Grundlage fungierte in diesem Zusammenhang vor allem die von Critical whiteness-Aktivist_innen gebetsmühlenartig propagierte These eines spezifischen Erkenntnis­standortes, wonach kritisches Wissen über Rassismus einzig von PoC, Migrant_innen oder Flüchtlingen stamme – eine zweifelsohne ins sektenartige abdriftende Verkennung des Umstandes, dass die Produktion kritischer Kunst und Wissenschaft nicht in segregierten Milieus erfolgt, sondern von der Vielfalt globaler, mithin hybrider Perspektiven und Erfahrungen sämtlicher am jeweiligen Diskurs Beteiligter lebt. Nicht minder wichtig war aber auch der bereits im Vorfeld des No Border Camps zustandegekommene Rückgriff auf das ursprünglich aus antisexistischen Kontexten stammende Konzept der »Definitionsmacht«, wonach im Falle körperlicher, psychischer oder verbaler Gewalt nicht irgendwelche vermeintlich neutralen Instanzen, sondern die Betroffenen selbst maßgeblich definieren sollten, was passiert ist und welche Konsequenzen zu ziehen sind. Einziger Haken: Unter dem Schlagwort des »erweiterten Gewaltbegriffs« ist es in den letzten Jahren vielerorts zu einer völligen Entgrenzung und Entformalisierung von Definitionsmacht gekommen, wodurch willkürliche Vorgehensweisen wie in Köln überhaupt erst möglich gemacht wurden.

Insgesamt haben die erwähnten Fallstricke im Laufe des No Border Camps zu einer extremen Moralisierung des politischen Diskurses geführt, ja zu einer »Disziplinierung des Subjekts durch moralische Anrufung«, wie kanak attak-Mitbegründer Vassilis Tsianos in einem Interview treffend meinte. Jungle World Nr. 32, ?9. August 2012. Hierzu gehörte nicht nur die auf typisch bürgerliche Sprachfixierung verweisende Praxis, Kommunikation durch begriffliche Hygienemaßnahmen pausenlos reglementieren zu wollen – etwa durch die Forderung, von »Geflüchteten« anstatt von »Flüchtlingen« zu sprechen. Oder die ritualförmige Benennung der eigenen Privilegien, insbesondere bei der ebenso obligatorischen wie oberflächlichen Selbstpositionierung zu Beginn von Redebeiträgen (»Ich spreche aus weißer Perspektive, bin frauisiert, komme aus der Mittelschicht und profitiere von Behindertenfeindlichkeit.«). Vielmehr wurde auch vor eklatanter, ja hochgradig widersprüchlicher Doppelmoral nicht Halt gemacht: So ist immer wieder der Vorwurf laut geworden, die positive Bezugnahme weißer Aktivist_innen auf kritische Stellungnahmen von Flüchtlingsaktivist_innen sei Ausdruck einer im Kolonialismus wurzelnden Teile-und-herrsche-Strategie, während innerhalb der Critical whiteness-Community auf dem No Border Camp die Orientierung an den Einschätzungen der beteiligten PoC als unhintergehbares Gesetz stark gemacht wurde.

Auch wenn die weiter oben ins Zentrum gerückte Begrifflichkeit der transidentitären Organisierung in erster Linie aus den praktischen Debatten anlässlich des 5. Antirassistischen Grenzcamps 2002 in Jena hervorgegangen ist, haben theoretische Konzepte seinerzeit eine durchaus wichtige Rolle gespielt – nicht zuletzt die von israelisch-palästinensischen Friedensinitiativen inspirierte Arbeit der israelischen Sozialwissenschaftlerin Nira Yuval-Davis. In ihrem ursprünglich 1997 erschienenen Buch Geschlecht und Nation entwickelte sie unter Bezugnahme auf postkoloniale Theoretikerinnen wie bell hooks und Gayatri Chakravorty Spivak das einflussreiche Konzept der »transversalen Politik«, das insbesondere von zwei Prämissen ausgeht: Einerseits der Möglichkeit »transversaler Dialoge«, wonach »Erkenntnisgemeinschaften« bzw. Bündnisse auf der Basis gemeinsamer »Wertesysteme« trotz unterschiedlicher gesellschaftlicher Positionierungen herausgebildet werden könnten, andererseits der Feststellung, dass nicht jeder »Interessenkonflikt« versöhnbar sei und Dialoge daher auch unweigerlich an Grenzen stießen. Hervorzuheben ist insofern, dass sich beide Prämissen für die alltägliche Arbeit in heterogen zusammengesetzten Netzwerken als äußerst gewinnbringend entpuppt und sich somit als eine Art handlungspraktisches Fundament von Critical whiteness gleichsam aufgedrängt haben, vor allem hinsichtlich der Frage, wie auf nichtautoritäre und nichtidentitäre Weise mit Dominanz und Privilegien umgegangen werden kann.

~ Von Olaf Bernau.