In Freiheit

Einige Vermutungen über Morgen, die möglichst nicht von den heute nötigen Kämpfen ablenken sollten

Eins: Lebensweise

Das Rätsel der Geschichte mag gelöst werden.

Was dann kommt, wird (da sind ausnahmsweise nahezu alle einig, die das Problem jemals ernsthaft untersucht haben, von den Anarchoiden bis zu den Parteichinesen, ohne die bei ihnen sonst üblichen Katzbalgereien) kein Zustand sein und kein Prozess.

Ein Zustand ist objektivierbar, das ist die soziale Freiheit nicht: Selbst der derbste Condorcet-Fortschrittsoptimist (erst recht die Anarchistinnen), ja sogar Engels sagt: Sie werden es selber machen. Wie es aussieht, lässt sich von hier aus (vorher) nicht sagen, malen, fotografieren. Die Freiheit hat vor dem jetzt Gegebenen voraus, dass sie offen ist.

Das macht es grundverschieden von dem, was wir als politisch und geschichtlich kennen, was wir Verfassung, Staat, Markt, Regierung nennen würden. Die verabredungsgelenkte Möglichkeit zum Wechsel des Zustands (anstelle von dessen als alternativlos gedachter Verewigung), zur autonomen Schöpfung und Aufrechterhaltung von sozialen Prozessen (statt sie als naturwüchsige zu erleiden), auf die sich Leute miteinander einigen können, arbeitsteilig produktiv, nichthierarchisch kommunikativ: So wird das Gemeinwesen der Freien sein. Es wird ihnen gehören, das heißt allen, also niemandem. Sagen wir »Freiheit« dazu; der Name ist nicht neu und wird nie alt.

Zwei: Warenlosigkeit

Kaufen in Freiheit? Verkaufen nach der Revolution?

Wenn man unbedingt will, weil man das einfache Mitnehmen zu schlampig findet, wird man frischen grünen Chili, Fiberglaskörperpanzer für Sportspiele oder leichte Platzpatronen natürlich weiterhin kaufen können. Man erleichtert so – i.e. mit Transferakten, die sich auf Geberinnen und Nehmerinnen zurechnen und, wichtiger, nach lokal nichtgleichgewichtigen Phasenwechselschemata verrechnen lassen – den kalkulierenden Produktionsclustern die wechselseitige Abstimmung und schenkt den Verkehrskoordinatorinnen eine nette Geste. Richtig notwendig wird es allerdings nicht sein, denn Verteilung, Allokation, Speicherung von Gütern wird den Menschen, wenn sie einmal die Tauschverhältnisse des Fetischismus abgestreift haben, nicht schwieriger vorkommen als etwa die Rückverstromung von per Fotovoltaik, Windgeneratoren oder Wärmekraftkopplungsanlagen erzeugter Elektrizität aus sie vorübergehend bergenden Wasserstoffspeicherelementen über Gasturbinen oder Verbrennungsmotoren heute, im Jahr 2010 christlicher Zeitrechnung, bereits wäre.

Was man dann noch kauft und verkauft, wird keine Ware mehr sein. Die beliebte Runendeuterei praxisflüchtiger Wertkritik kann sich sparen, wer, wie Friedrich Engels, weiß: »Mit der Besitzergreifung der Produktionsmittel durch die Gesellschaft ist die Warenproduktion beendet und damit die Herrschaft des Produkts über die Produzenten«. Friedrich Engels, Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft (Anti-Dühring), Marx-Engels-Werke (MEW), Bd. 20, 264. Die selten zitierte Quelle sei angegeben für alle, denen solche Klarheit nicht theoretisch genug, zu vulgär- oder gleich (weil wenig kirchenväterlich) gänzlich unmarxistisch vorkommt. Leider begegnet man ja immer wieder Individuen, die zu viel Ian Steedman oder Piero Sraffa gelesen und in den falschen Hals gekriegt haben. Sie wären fallweise durchaus penetrant an etwas zu erinnern, was selbst bei den gewerkschaftlich oder sozialdemokratisch borniertesten unter den bespöttelten sogenannten alten Arbeiterbewegungsmarxisten mitunter noch präsent war: Der einzige Zweck der Abschaffung der Warenform ist die Aufhebung eines historisch entstandenen Zustands, in dem die menschliche Arbeitskraft als Ware mit spezifischem Tauschwert in den Dienst der Wertverwertung gespannt wird, anstatt ihre geschichtsbildende Potenz (zum Beispiel in Gestalt des Vermögens zur Produktion freiheitschaffender Produktionsmittel) zu verwirklichen. Der aufgedonnerte Unsinn raunender Mystagogen, deren seltsamen Lehren zufolge die Ware in der Moderne (aber eigenartigerweise nicht bei den Phöniziern, die sie doch auch schon kannten) für Sexismus, Rassismus, Antisemitismus, Krieg, Dummheit und Mundgeruch verantwortlich ist und zum Zweck von deren Überwindung in einem komplizierten exorzistischen Ritual aus Prosperos Büchern oder Harry Potters Trickkiste zu dekonstruieren sei, stammt aus einer üblen Seherlaune, die Marx mit Mani verwechseln will und den historischen Materialismus mit der Offenbarung des Johannes.

Drei: Zubereitung und Verwaltung

Siehst du uns, in Freiheit? Ist das Zukunftsmusik, spielt das im Landkreis Süd-Utopien? Ach was.

Es passiert in der Küche, Liebling.

Ich werde, weil wir ja jetzt, in Freiheit, Zeit dazu haben, dir, mir und vier bis sechs weiteren Netten aus unserer persönlichsten Welt vier große Hähnchenbrustfilets mit Zitrone und Knoblauch, Zwiebeln und frisch gehackter Petersilie zubereiten; wir werden vor den Pfannen stehen und das Ganze mit den beiden lustigen Salz- und Pfeffer-Aufziehrobotern würzen, die du mir damals, vor der Befreiung, zum Geburtstag geschenkt hast. Die Roboter kommen aus China, aber das Problem, ob wir mit solchen Importen ungerechte Ausbeutungsverhältnisse zwischen Wirtschaftsgroßräumen einerseits, sowie zwischen den chinesischen Fabrikarbeiterinnen und ihren Aufseherinnen andererseits perpetuieren helfen, wird sich aus der Menschenwelt auf Nimmerwiedersehen verzogen haben, wie der Hühnchendampf per Abzug aus unserer Küche.

In China selbst leiten zu der Zeit, da wir den Hühnern beim Schmurgeln zuschauen, künstliche Riesenhirne aus frisiertem Keimplasma die Gewürzroboterherstellung; Biocomputer, die nichts denken können, außer dass ihnen diese lockere Leitungsarbeit Funktionslust bereitet. Chinesinnen kochen derweil anderes als wir, beispielsweise Rösti, die sie mit Curry und gemahlenen Senfkörnern abschmecken. Ihre Gewürzsteuer sind umgebaute alte Handfeuerwaffen (wie wär's mit Tula-Tokarew-Pistolen, hergestellt in den späten zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts in der UdSSR?).

Beim Essen spielt für sie angenehmere Musik als für uns an diesem nachrevolutionären Abend. Der Osten ist da wieder einmal weiter – während man bei uns noch mit Elektronik arbeitet, singen bei ihnen transgene Glyzinien (»chinesischer Blauregen«).

Von Verwaltung weiß die neue Erde nur das Nötigste. Dessen Choreografie besteht aus ineinandergreifenden Arabesken: Schau mal, die nette Frau vom Lokalrat ist heute in der Ladenpassage, die war doch gestern im Krankenhausgemeinschaftsraum und vorgestern auf dem Dachgarten über der Teencity, draußen am Staudamm, hat natürlich ihren Transceiver dabei, der ist ja ihr ganzes Büro. Was sie da macht? Sie hört sich an, was es für Ärger gibt, schickt die Daten ans polyzentrale Ämtchen und sorgt so für Ordnung(en). Kann man das eigentlich noch »Social Engineering«, wenigstens »Dienstleistung« nennen? Wie enttäuschend für die Letzten, die noch bei der Revolution mitgemacht haben: Die Freiheit sieht für sie viel zu gelassen aus.

Witze kursieren: Schon gehört? Die Nachbarschaftshilfe hat einen Architekten aus der virtuellen Baubehörde befreit, er hat sich in seinen Anträgen verlaufen.

Fast alles, was entsteht, ist wert, dass sich wer drum kümmert. Für den neuen Riesensee, wo früher Köln war, brauchen wir einen ad-hoc-Aufforstungstrupp, wegen der Stabilisierung der Böschung. Den koordiniert deine Schwester, weil sie von ihrer Malerei und Mathematik mal ein Vierteljahr ausspannen will. In Amerika haben sie jetzt einen 15-jährigen zum Präsidenten gewählt, für drei Wochen; ihren Pop-Fimmel, der sie ständig zu historical reenactments verführt, werden die wohl nie los. In Wirklichkeit erledigt das, was in den Socialist United States of America (endlich ein hübscher Name: SUSA) noch an Governance erinnert, eine Software, die man in Südafrika entwickelt hat, wo die Naturschutzgebiete immer größer werden. Das letzte Plebiszit in deren unmittelbarer Umgebung hat ergeben, dass die Abwanderungswelle von Orbit-Gardening-Freaks in die Lagrange-Städte zwischen Erde und Mond genutzt werden sollte, aufgegebene earthbound Siedlungen nicht wieder zu bevölkern, sondern das Terrain, das sie umgibt, systematisch verwildern zu lassen. Demografische Nahtechnikfolgenabschätzungsprojektionen legen die Erwartung nahe, dass Südafrika, wenn die Sache so weitergeht, der zwölfte Nationalstaat sein wird, der sich offiziell auflöst und der modularen Internationale anschließt, deren dritter Serverzikkurat (nach den beiden ersten im Amazonasbecken und nahe Warschau) demnächst in Tripolis in Betrieb genommen werden soll.

Vier: Staat geht ein

Das für den Menschenstolz Beschämendste an der Unfreiheit sind ihre vielen Scheinfunktionalitäten. Überall in der Klassengesellschaft sieht immer wieder etwas nach Arbeitsteilung aus, das in Wirklichkeit nur Befestigung von vorübergehenden Frontverläufen ist. So kannte man irgendwo in Norddeutschland vor der Einführung des liberalen Staates bourgeoiser Prägung für eine Sache, die später einfach »Landrat« heißen sollte, zweierlei Posten und Namen – »Amtmann«, wenn's bloß ein Bürger war, »Herr Landdrost«, wenn den Kram ein Adliger erledigte. Dies brachte der Bürgerstaat zum Verschwinden; aber genauso muss es einigen seiner eigenen Differenzierungen ergehen, wenn deren Klassenvoraussetzungen einst glücklich aufgehoben sind. Sehr viel Aufwand, der in einer auf Lohnarbeit als Vergesellschaftungsform gegründeten und von ihr auch im Stadium von deren Zersetzung bis in die geldlosen und scheinbar außerökonomischen Verkehrsformen durchherrschten Sozietät getrieben wird, ist nur dazu da, das Offenbarwerden der bei hohem Produktivkraftstand stets zunehmenden Fadenscheinigkeit dieser Vergesellschaftungsform zu behindern.

Mein Lieblingsbeispiel, das mein Bekanntenkreis schon nicht mehr hören mag: Nordfriesland hat Anfang des 21. Jahrhunderts christlicher Zeitrechnung 25 (!) Einzelverwaltungen mit vom Datenschutz und dem bürgerlichen Gewaltenteilungsmodell erzwungenen Mindestmitarbeiterzahlen. Man kann die meisten dieser Büroeinheiten zweifellos auflösen, sobald die netzelektronischen Bedingungen für vereinfachte Abläufe geschaffen sind. Entlassungen jedoch sind (man soll Euphemismen wie »Freisetzung« da nicht auf den Leim gehen) im Kapitalismus keine Akte des Kettenzerbrechens, sondern im Gegenteil herrschaftsstabilisierende Sanktionen gegen Leute, die keinen Profit erwirtschaften, also Unrechtsmaßregeln einer schwachsinnigen Gesellschaftsordnung.

Das Abschleifen scheinfunktionaler Tätigkeitsdifferenzierungen in der Verwaltung, das man gleichwohl wünschen mag, ist, wenn es im Rahmen emanzipatorischer statt vom Akkumulationsregime diktierter Umwälzungen stattfindet, Moment eines Geschehens, das die Marxisten gern planen und die Anarchisten immer nicht abwarten wollen. Die klassische sozialistische Literatur kennt dieses Geschehen als so genanntes »Absterben des Staates«, und seine Beschreibung fällt deshalb so notorisch schwer, weil man schlecht voraussagen kann, wann und wie etwas tatsächlich vergessen werden wird, für das keine Verwendung mehr besteht. Diese Voraussageschwierigkeit rührt daher, dass einerseits Zukunftsaussichten grundsätzlich nach dem auf der Zeitachse gespiegelten Modell vergangener Entwicklung modelliert werden müssen, andererseits aber Leute (einzeln wie kollektiv) sich aus logischen Gründen nun mal nicht daran erinnern können, wann und wie genau sie etwas vergessen haben, das sie nicht mehr wissen (»Wieviele Generationen hat es gedauert, bis die Ägypter ihre Bilderschrift nicht mehr beherrschten?«, Lorenz Jäger).

Vergleicht man (ich riskiere das mal, obwohl Organismusanalogien notorisch biologistische und andere essenzialistische Tücken haben, die man sich in diesem Fall dann eben präsent halten und als Einschränkungen der Vergleichsreichweite berücksichtigen sollte) den Staat statt mit einem Organismus eher mit einer chronischen psychosomatischen Erkrankung (der Organismus wäre dann das vorstaatliche, rohe Gemeinwesen, man denke sich das in Bilder von Hobbes), so ließe sich die Idee seines Absterbens mit einer pathobiografischen Parabel fasslich machen: Als ich meinen Scheißjob in Köln hatte, litt ich unter Schlafstörungen, übersäuertem Magen und Flecken im Gesicht; ärztliche (die Metapher meint jetzt: sozialdemokratische und liberale) Diagnostika und Therapeutika griffen bei keinem der Symptome, ja, es ließ sich nicht einmal feststellen, ob das alles nun Allergien, Neurodefekte oder Infektionen waren. Nach der Kündigung aber habe ich dann irgendwann (präziser geht es nicht, siehe oben) gemerkt, dass der körperliche Ärger – ich weiß nicht wie, ich weiß nicht wann – verschwunden war. Diese Erkenntnis ereilte mich im selben Moment, als mir aufging, dass ich längst jede Lust verloren hatte, mich mit jenen kleinen Leiden überhaupt zu befassen. So geht »Absterben des Staates«: Wenn er nicht mehr da ist, wird man das daran erkennen, dass er nicht vermisst wird. Nicht einmal das Echo alter Kämpfe um ihn und gegen ihn wird noch für Nostalgie taugen.

Fünf: Was wird aus dem armen Elend?

Einem leidigen dialektischen Gesetz der Weltzeitalterabfolge gemäß, wonach Fortschritt ist, wenn die Menschen nicht mehr an den alten Krankheiten sterben, sondern an neuen, wird es nach dem Übergang von der Ausbeutung zur Freiheit weniger Autounfälle (wegen Übermüdung bei Truckerinnen, als verschleierter Suizid oder infolge ungenügender Flowchartausarbeitung bei der Verkehrsführung), weniger Burnout-Opfer, Ausdruckshemmungen, Raubüberfälle, religiöse Psychosen, intellektuelle Sehstörungen (»Ideologie«), ethische Übelkeit (»Depressionen«) und Fememorde geben, dafür aber mehr Partylärm, mehr Irrwege der Forschung, mehr lästige Privatkunstsysteme, Gammelei, tribalistischen Blödsinn (Kulte und Sekten, die nicht lange genug kohärent bleiben, um sich zu Kirchen oder Religionen zu verfestigen), leidenschaftlich-fantasievollen Streit unter Liebenden variabler Anzahl und komplexer geschlechtlicher Zuordnung (die Schiedsrichterfunktion, die ökonomische Zwänge und bürgerliches Familienrecht in primitiven Gesellschaften bei Liebeshändeln zwar selten gerecht, aber effektiv ausüben, fällt weg), schwerer erziehbare Kinder sowie längere Drogenreisen samt daraus resultierender Abwesenheit aus der Produktion. Ältere Menschen wie ich geben es ungern zu, aber man kann vom Kommunismus durchaus sagen, er sei »dance-lastig und geht voll ab« (BRAVO neulich über das neue Album von Miley Cyrus).

Allerdings ist auch für uns Vergreiste gesorgt: Der Menschenkopf, ist er erst von den Verhärtungen der entfremdeten Routine befreit, bleibt, wie sich herausstellen wird, sehr viel länger lernfähig als erwartet: Noch mit 80 kann man sich die Regeln des Schachspiels aneignen; das macht die Nachmittage gar nicht so uninteressant, die in beweglichen Arbeitsgemeinschaften organisierte Hochkultur findet bis abends statt (von der man allerdings den jetzigen muffigen Namen nicht länger wissen wird. Alles, was sich auf dem großzügig ausgelegten Spektrum zwischen populärer Musik und Versepos findet, wird endlich so heißen, wie es insgeheim längst heißen will: Kunst. Die Qualitätsfrage kriegen wir auch noch geklärt).

Erst mit dem Wegfall zahlreicher Formen des Elends wird man sie als solche überhaupt erkennen und sich ein bisschen dafür schämen, dass man unter ihnen eigentlich kaum gelitten hat.

Sechs: Sicherheiten und Sanktionen

Die alte Streitfrage, ob die Umwälzung aller ungerechten Verhältnisse sich eher günstigen Zeitumständen mit viel Spielraum für die revolutionären Kräfte oder eher umgekehrt der zunehmenden Unerträglichkeit der verkehrten Zustände, materiell fassbar geworden an galoppierender Verelendung, verdanken müsse, wird in Freiheit entschieden sein, im Rückblick (ich habe wirklich keine Ahnung, wie).

 Die Vorstellung, es ließe sich noch (und womöglich: gerade) in der äußersten Bedrückung die Kraft sammeln, diese abzuwerfen, haben zwar in ihrer Feuerkopfphase selbst Marx und Engels manchmal implizit gelten lassen; es gibt Stellen im Manifest der Kommunistischen Partei, die sich direkt der Lasalleanischen Verelendungstheorie anzuschmiegen scheinen. Sobald freilich Politik gemacht wurde und es also beispielsweise galt, sozialdemokratische Programmentwürfe wie die von Gotha oder Erfurt auf ihre Tauglichkeit zur Herstellung der Freiheit abzuklopfen, wurden die beiden Alten derlei jedoch schnell los. Gegen den gesellschaftsanalytisch gemeinten Erfurter Satz von 1891 »Immer größer wird die Zahl und das Elend der Proletarier« polemisiert etwa Engels: »Das ist nicht richtig, so absolut gesagt. Die Organisation der Arbeiter, ihr stets wachsender Widerstand wird dem Wachstum des Elends möglicherweise einen gewissen Damm entgegensetzen. Was aber sicher wächst, ist die Unsicherheit der Existenz«. Friedrich Engels, Zur Kritik des sozialdemokratischen Programmentwurfs 1891, MEW Bd. 22, 225-240, Zitat: 231. Eine Schriftstelle, bei der sich wohl vor allem diejenigen geniert fühlen müssen, die aus einigen Andeutungen von Marx und Engels betreffend die Abschaffung der Arbeitsteilung im Kommunismus eine Art positive Beliebigkeit der Lebensführung als Kennzeichen kommunistischer Wirklichkeit ableiten wollen und deshalb den Begriff der »Sicherheit« nicht mögen, der solchen Grenzenlosigkeitsideen bezüglich der Flexibilität dessen, was man machen kann und was nicht, schroff entgegensteht.

Der Marxismus, als er von der Welt noch etwas wollte, außer ihr gegenüber Recht zu haben, hat offenbar am Kapitalismus »die Unsicherheit der Existenz« durchaus missbilligt und vom Sozialismus und Kommunismus nicht nur Freiheit (auch und gerade von Not), sondern auch Verlässlichkeit und Berechenbarkeit der wechselseitigen existenziellen Abhängigkeiten der Menschen voneinander verlangt. Wie ist das gemeint? Krankenversicherung ohne (oder: bei absterbendem) Staat, Rechtssicherheit ohne Justizvollzugsknüppel, Rente ohne Einzahlung? Genau so.

Wie nämlich in vorbürgerlichen Zeiten ein Fürst seinen renitenten leibeigenen Bauern auf offener Straße mit dem Ochsenziemer verdreschen durfte, ohne die geringsten Repressalien fürchten zu müssen, während 150 Jahre später selbst der übelste Personalchef einer Kündigung nicht mehr mit der Stiefelspitze Nachdruck verleihen kann, ohne mit dem BGB Scherereien zu kriegen, gerade so wird, eine bestimmte Einrichtung der Produktion vorausgesetzt, für zahlreiche äußerst wünschenswerte Varianten solidarischen Verhaltens kein Repressionskorsett mehr benötigt werden. Polizeidrohung ist nicht der Grund, warum der Personalchef mich nicht tritt. Er weiß vielmehr: Tut er so was, begibt er sich in Gefahr, sich außerhalb der Gesellschaft zu stellen, die ihn nährt, kleidet, mit ihm redet. Wünschenswerte Varianten solidarischen Verhaltens, was heißt das? Sehr Konkretes: Wer lernen will und kann, soll das dürfen und von gesellschaftlich produzierten, dafür bereitgestellten Mitteln dabei profitieren; Alte, Kranke, von außersozialen Gegebenheiten benachteiligte Leute werden nicht mit ihren Widrigkeiten alleingelassen; verbindliche Symmetrien im Umgang miteinander werden eingehalten, pacta sunt servanda.

Die Behauptung, dass nur über ein gestaffeltes System von Anreizen und Drohungen das Zerbrechen des Großen Ganzen in vor Angstbeißerei tollwütige Scherbenmonaden verhindert werden könne, ist eine der Erzlügen der Propaganda sämtlicher historisch nachweisbarer Klassengesellschaften – in Wirklichkeit braucht nicht einmal jede Erlösungsreligion die Drohung mit der Höllenstrafe, um beherzigt zu werden. Die Zeugen Jehovas zum Beispiel kennen gar keine Hölle (ewiges Leiden der Sünder widerspräche ihrer Evangelienauslegung zufolge der göttlichen Liebe), und bei den Mormonen findet sich im Jenseits eine sanft meritokratische, niemanden im Schwefelregen stehenlassende Lösung, die an Ulbrichts Neues Ökonomisches System der Planung und Leitung erinnert: Nur ein verschwindend geringer Prozentsatz der Verstorbenen wird in die »Outer Darkness« geworfen, echte Schwerstkriminelle ohne Reue, die sich als unrettbar gesetzesfeindlich erwiesen haben. Für alle anderen gibt es, so der Mormonenprophet Joseph Smith in seinem schönen Handbuch »Lehre und Bündnisse«, die sogenannten »degrees of glory«: drei verschiedene Himmel mit unterschiedlich ausgeprägten Annehmlichkeiten – das edelsteinbesetzte »Celestial Kingdom« für die Superfrommen, das »Terrestrial Kingdom« für die normalrechtschaffenen Gläubigen und schließlich das vergleichsweise schäbige »Telestial Kingdom«, einen Dritter-Klasse-Himmel, in den außer denjenigen armen Seelen, die niemals ein Wort von Jesus erfahren haben, sogar so fragwürdige Gestalten wie Lügner, Zauberer, Ehebrecher und Unternehmensberater Aufnahme finden. Man schaut dort, im Himmelskeller, zwar nicht gerade unter Hallelujagesängen ins Angesicht Gottes. Immerhin: Selbst in dieser Abteilung herrscht nach Smith ein »Glanz, der über allen irdischen Verstand geht« (also das spirituelle Äquivalent des schönen alten bolschewistischen Scherzes, wonach man nach der Revolution auf Kloschüsseln aus Gold sitzen wird).

Der moraltheologische Kniff dabei, der sich leicht ins revolutionär Soziale übersetzen lässt, wenn man nur will, ist ein sehr simpler – die Strafe für die Deklassierten in den schlechteren Königreichen nach dem Gerichtstag besteht schlicht darin, dass sie wissen: Es gibt etwas Besseres, in dem sie sich jetzt fläzen könnten, wenn sie sich nur ein bisschen mehr zusammengerissen hätten.

Sieben: Reichtum

Die Voraussetzung aufseiten Gottes für eine dermaßen schlaue Politik nennen die mormonischen Monotheisten »Allmacht«. Ins Gesellschaftliche transponiert wird man vom Kommunismus (dem terrestrischen, telestialen und celestialen), damit er auf staatsförmig verfasste Höllenstrafen so gut verzichten kann wie der Mormonenweltherrscher auf transzendente, wohl verlangen müssen, was Marx und Engels von ihm verlangt haben: »Überfluss«. Das ist nichts Abstraktes, Unquantifizierbares, sondern meint bloß soviel Mehrprodukt, dass man seine Verwandlung in Mehrwert und andere auf Ausbeutung und mit dieser korrelierte Unterdrückung angewiesene abstrakte Zugewinnformen nicht mehr braucht, um das Gemeinwesen in Betrieb und zusammenzuhalten. Der Überfluss tut dann, was sein Name sagt: Er fließt. Das tut er freilich, wenn mehr gesellschaftliche Arbeitszeit in den Schutz der Menschen vor lebensbeschädigenden Zufällen, in Erziehung, Kunst, Verkehrswege, menschenwürdigen Wohnraum inklusive Städtebau etc. gesteckt wird, nicht ganz so rasch wie im Schlaraffenland, weil diese Dinge aufwendiger sind als selbst der irrste Luxus für ein paar Superreiche. Ein bisschen geruhsamer wird die Sache »Fortschritt«, auf die man auch in Freiheit nicht wird verzichten wollen, schon laufen müssen. Aus der geknackten Warenform fallen weniger Süßigkeiten, als man auf den luxuriöseren Plätzen der unfreien Industriegesellschaften abgreifen kann. Vielleicht aber (den Gedanken servierst du mir zum Nachtisch, wenn wir das Hühnchen fertig abgenagt haben) wird das einzelne Ding (Buch, lustiger Dildo, Kohlezeichnung, Salz- und Pfefferroboter) dann, wenn man's jenseits der Warenform als eine Art zuhandener Konkretion gerechter, solidarischer, eben humaner Verhältnisse in den Gebrauch nimmt, dadurch ja zugleich wertvoller als das teuerste Prachtgut in der Warenwirtschaft hätte sein können.

Acht: Bereitschaft

Was weiß denn ich, wie es in Freiheit sein wird? Fantasien dieser Art sind Stretching für die Denkmuskeln Einzelner. Ins Wünschen wird, solange die Menschen noch nicht komplett legebatterienreif sind, immer Subjektives Eingang finden, das heißt: Utopie ist, als Stretching, eine solitäre Aufwärmübung am Spielfeldrand, Weltveränderung aber ist ein Teamsport.

Ob ich gleich mitspielen darf, später eingewechselt werde oder auf der Bank sitzen bleibe, kann ich als Fantast, der ein paar Ideen beisteuert, nicht wissen.

Aber am Ergebnis bleibe ich vital interessiert, selbst wenn mich im entscheidenden Moment niemand ins Getümmel schickt oder zieht.

~Von Dietmar Dath. Vom Autor erschien zuletzt bei Suhrkamp Der Implex und bei Diaphanes Lost.