Internationalistische Praxis nach dem Internationalismus?

Interviews mit VertreterInnen von NoLager/transact!, Stop the Bomb und FelS

Die Phase~2 hat VertreterInnen dreier Gruppen aus Deutschland und Österreich zu ihrer Praxis befragt. Olaf Bernau lebt in Bremen in der Stadtkommune Alla Hopp, arbeitet in einer gewerkschaftlichen Antidiskriminierungsstelle und ist politisch aktiv bei NoLager Bremen und transact! aktiv. Simone Dinah Hartmann ist die Gründerin von Stop the Bomb und Sprecherin des Bündnisses in Wien. Gemeinsam mit Stephan Grigat hat sie im Studienverlag die Bände »Der Iran. Analyse einer islamischen Diktatur und ihrer europäischen Förderer« (2008) und »Iran im Weltsystem. Bündnisse des Regimes und Perspektiven der Freiheitsbewegung« (2010) herausgegeben. Chris und Jojo sind in der AG International Solidarität der Gruppe FelS aktiv. Während NoLager/transact! und die Gruppe FelS eher in einem globalisierungskritischen Spektrum zu verorten sind und sich vor allem Fragen der Migration widmen, konzentriert sich die Kampagne Stop the Bomb ausschließlich auf den Iran. Ziel der Interviews ist, die drei Ansätze, so unterschiedlich sie auch sein mögen, auf ihre je eigene Weise als Beispiele einer international agierenden Praxis nach dem Internationalismus zu diskutieren. 

»Herrschaft und Gewalt wurden immer seltener im globalen Zusammenhang betrachtet« – Interview mit Olaf Bernau (NoLager/transact!)

Phase~2: Ende der sechziger Jahre gewann in der europäischen Linken die Solidarität mit verschiedenen Befreiungsbewegungen, deren Praxis als revolutionärer Kampf außerhalb der Metropolen interpretiert wurde, an Bedeutung. Als Teil einer globalisierungskritischen Linken seht Ihr Euch in der Tradition eines linken Internationalismus, der spätestens seit den achtziger Jahren an politischer Wichtigkeit verloren hat. Was ist Euer Begriff von Internationalismus?

Olaf Bernau: Bei allen Irrungen und Wirrungen steht für uns fest, dass der Kollaps internationalistischer Praxis nach 1989 ein handfestes politisches Desaster war – und das aus mindestens drei Gründen: Erstens weil Herrschaft und Gewalt immer seltener im globalen Zusammenhang betrachtet wurden. Problematisch war insbesondere, dass ein empirisch unterfüttertes Verständnis für das Wechselspiel zwischen gelingender Kapitalakkumulation in den Zentren und aggressiver Peripherisierung ganzer Weltregionen zunehmend verloren gegangen ist. Aber auch konkrete, unmittelbar damit verknüpfte Themen wurden Schritt für Schritt marginalisiert bzw. stillschweigend an NGOs delegiert – ob Hunger, Verschuldung oder fehlende Gesundheitsversorgung. Zweitens, weil Emanzipation und Widerstand nur noch vereinzelt als ein notwendigerweise in transnationalen Organisierungsprozessen verankertes Projekt bestimmt wurden. Schlimmer noch: Die Vielfalt und Stärke sozialer Bewegungen im globalen Süden verschwand weitgehend von der mentalen Landkarte, auch unter Bündnisgesichtspunkten. Hinzu kam, dass viele der in den siebziger und achtziger Jahren entstandenen Kooperationen zwischen südlichen und nördlichen Basisinitiativen eingeschlafen sind. Drittens, weil die oftmals apokalyptisch anmutenden Existenzbedingungen in der Peripherie kaum noch als Skandal geschweige denn als Handlungsaufforderung begriffen wurden – weder intellektuell noch emotional. Im Gegenteil: Internationalistische bzw. globale Solidarität wurde immer öfter als karitativer Schmarrn, regressive Kapitalismuskritik oder romantisierende Lobhudelei nationalistischer Befreiungsbewegungen denunziert. Dies hatte nicht zuletzt zur Konsequenz, dass die jahrzehntelang heiß diskutierte Frage zunehmend ins Abseits geraten ist, inwiefern es aus Gründen sozialer und ökologischer Gerechtigkeit geradezu zwingend sei, den materiellen Lebensstandard im globalen Norden massiv abzusenken und umgekehrt eine grundlegende Neubestimmung dessen vorzunehmen, was unter einem gutem Leben und somit gesamtgesellschaftlicher Entwicklung als solcher zu verstehen ist.

Phase~2: Aber wie würdet ihr Euch in dieser Tradition verorten, die ja berechtigterweise auch zunehmend in die Kritik geraten ist?

Olaf Bernau: Wenn es um die Internationalismus-Bewegung geht, sollte nicht aus dem Blick geraten, dass es sich zu keinem Zeitpunkt um ein homogenes Gebilde gehandelt hat: Zu berücksichtigen ist nicht nur, dass es stets unterschiedliche, sich vielfältig überlappende Strömungen gegeben hat – von AntiimperialistInnen unterschiedlicher Couleur über Moskau-treue TraditionskommunistInnen, die Kirchen, das BUKO-Spektrum bis hin zu autonomen bzw. sozialrevolutionären Strömungen, letztere vor allem im Rahmen der Mobilisierung gegen den IWF-Gipfel 1988 in Berlin. Noch wichtiger dürfte sein, dass bereits der klassische Internationalismus diverse Selbstreflexions- und Häutungsprozesse durchlaufen hat: Da gab es zunächst einmal den »Alten Internationalismus« der sechziger und siebziger Jahre, dessen ideelles Zentrum die überwiegend manichäisch aufgeladene Bewegung gegen den Vietnam-Krieg gewesen ist. In den achtziger Jahren folgte der »Neue Internationalismus«, der sich bereits als Reaktion auf die ärgsten Irrtümer und Abgründe internationalistischer Solidarität herausgebildet und oft zu völlig neuen Konzeptionen und Strategien geführt hatte – ob in der Nicaragua-Solidarität, den Kampagnen gegen das Apartheid-Regime in Südafrika oder bei thematischen Projekten wie der von der BUKO 1985 lancierten »Stoppt Futtermittel«-Kampagne. Viele der im neuen Internationalismus vorgenommenen Richtungsänderungen sind schließlich seit 1994 durch den Aufstand der Zapatistas in Mexiko noch einmal auf ein völlig neues Niveau gehoben worden – insbesondere durch deren Weigerung, die Erringung staatlicher Macht als emanzipatorische Zielsetzung zu betrachten. Wir selbst fühlen uns zwar der gesamten internationalistischen Tradition verpflichtet, auch deshalb, weil z.B. in Afrika die Unterstützung antikolonialer, auf die Gründung eigener Nationalstaaten abzielender Befreiungsbewegungen historisch gleichsam alternativlos gewesen ist. Dennoch sollte es sich von selbst verstehen, dass im Jahr 2010 die von den Zapatistas propagierte intergalaktische Solidarität ungleich mehr emanzipatorische Anknüpfungspunkte bietet.

Phase~2: In Kritik geriet der klassische Internationalismus vor allem, weil er auf der Suche nach einem »revolutionären Subjekt« nicht nur die Politik der verschiedensten Befreiungsbewegungen glorifizierte, sondern auch zu einer unhinterfragten Identifikation mit den Opfern »imperialistischer« Politik tendierte. Heute zeigt sich dieser ideologische Dualismus des antiimperialistischen Weltbildes mit seiner simplifizierenden Trennung zwischen Opfern und Tätern vielleicht am deutlichsten an der antisemitisch motivierten Unterstützung der palästinensischen Befreiungsbewegung wie auch an der Unterstützung des bewaffneten Widerstands im Irak. Spielen Ideen eines klassischen antiimperialistischen Internationalismus in Eurer globalisierungskritischen Arbeit noch eine Rolle?

Olaf Bernau: Wie schon angedeutet, die Liste der Fehler und Trugschlüsse ist sehr viel länger, als es Eure Frage vermuten lässt: Weitere Schlagworte lauten etwa »Glorifizierung nationaler Befreiungsbewegungen«, »Fetischisierung des bewaffneten Kampfes«, »simplifizierende Gut-Böse-Weltbilder«, »Solidaritätsshopping nebst mangelhafter Frustrationstoleranz«, »fehlender Bezug auf soziale Auseinandersetzungen im Norden« etc. Insofern dürfte sich von selbst verstehen, dass klassische antiimperialistische Herangehensweisen für uns keine Rolle spielen, so wie sie auch für große Teile der Internationalismusbewegung bereits in den achtziger Jahren ihre Anziehungskraft verloren haben – vor allem deshalb, weil ja die zum Teil monströsen Fehlentwicklungen in Ländern wie Vietnam, Kambodscha, Iran oder Mosambik hinreichend deutlich gemacht hatten, wozu scheinbar progressiv ausgerichtete Befreiungsbewegungen in der Lage sind – oft schon während des Befreiungskampfes, spätestens aber nach Erlangung der staatlichen Macht. Relevante Bezugsgrößen sind für uns vielmehr soziale Bewegungen: Rund um den Globus kämpfen Menschen um politische, zivile und soziale Rechte – sei es, dass sie sich für einen freien Zugang zu Land, Wasser, gesundheitlicher Versorgung, politischer Teilhabe etc. stark machen, oder sei es, dass sie sich gegen Privatisierungen, Freihandelsabkommen, Zulassung von gentechnisch manipuliertem Saatgut, Strukturanpassungsprogrammen etc. zur Wehr setzen, also gegen Maßnahmen, die gemeinhin eine Verschlechterung ihrer Situation darstellen. Hierbei macht es in unseren Augen keinen allzu großen Unterschied, ob es sich um politisch artikulierte Kämpfe, kollektive Selbsthilfe-Netzwerke oder individuelle Aneignungs- bzw. Überlebensstrategien handelt: einerseits, weil eine Verschiebung gesamtgesellschaftlicher Kräfteverhältnisse ohnehin nur möglich ist, wenn die verschiedenen Kraftfelder in großem Stil zusammenwirken, andererseits, weil die diversen Facetten sozialer Kämpfe oftmals alles andere als trennscharf sind: Beispielsweise nehmen viele MigrantInnen durch ihren irregulären Grenzübertritt das Recht auf Bewegungsfreiheit de facto wahr und verschaffen so ihrem Anspruch auf Teilhabe unmissverständlich Geltung, dennoch ist nur eine Minderheit von ihnen an politischen Kämpfen für Bewegungsfreiheit und weitere Rechte beteiligt.

Phase~2: Lasst uns zu Eurer Praxis kommen: Wie sieht diese konkret aus, seid ihr in praktische Projekte involviert?

Olaf Bernau: Im Februar haben wir zusammen mit über 40 Leuten das Afrique-Euro-Netzwerk ins Leben gerufen. Beteiligt waren AktivistInnen mit und ohne Flucht- bzw. Migrationshintergrund – viele von uns kannten sich bereits aus dem ehemaligen NoLager-Netzwerk sowie der antirassistischen Mobilisierung anlässlich des G8-Gipfels in Heiligendamm. Erklärtes Ziel ist es, transnationale Organisierungsprozesse zwischen Basisbewegungen in Afrika und Europa aufzubauen bzw. zu intensivieren. Konkrete Anknüpfungspunkte sind einerseits Verbindungen zu migrationspolitischen Gruppen in Marokko, welche sich seit dem polyzentrischen Sozialforum 2006 in Bamako herausgebildet haben, andererseits eine seit etwa 2 Jahren laufende Kooperation mit der AME – der Assoziation der Abgeschobenen Malis. Unser erstes größeres Projekt wird Anfang 2011 die Beteiligung an einer zweiwöchigen, vor allem von der AME und anderen westafrikanischen Gruppen organisierten Bus-Karawane für Bewegungsfreiheit von Bamako/Mali nach Dakar/Senegal sein – mit dem 11. Weltsozialforum als letzter Etappenstation. Erwartet werden zwischen 200 und 400 TeilnehmerInnen, überwiegend aus afrikanischen Ländern. Geplant sind mehrere Aktionen, unter anderem gegen die EU-Grenzschutzagentur Frontex, zudem sollen öffentliche Versammlungen in Dörfern und Städten entlang der Strecke durchgeführt werden. Inhaltlich soll auf der Karawane dreierlei zur Sprache kommen: Erstens die Rechte von Flüchtlingen und MigrantInnen, nicht zuletzt in den Transitländern; zweitens die strukturellen Hintergründe von Flucht und Migration, etwa die Zerstörung kleinbäuerlicher Landwirtschaft oder die Auswirkungen des Klimawandels; drittens die Situation von afrikanischen Flüchtlingen und MigrantInnen in Europa – entlang von Stichworten wie Lagerpolitik, Abschiebungen, rassistische Polizeigewalt oder prekäre Arbeitsverhältnisse.

Phase~2: Das positive Ansinnen der antiimperialistischen Arbeit bestand darin, auf die politische wie wirtschaftliche Dominanz der westlichen Staaten und deren Folgen für die Handlungsmöglichkeiten der so genannten Dritte-Welt-Länder aufmerksam machen zu wollen. In Eurer politischen Arbeit scheinen nun Migration und das Recht auf Bewegungsfreiheit als Zugang zur Thematisierung der gesellschaftlichen Situation andernorts zu dienen. Wie kam es zu dieser Schwerpunktverlagerung?

Olaf Bernau: Für viele Flüchtlinge und MigrantInnen ist die politische Beschäftigung mit der Situation in ihren Herkunftsländern absolut elementar. Erinnert sei nur an den von selbstorganisierten FlüchtlingsaktivistInnen schon seit langem propagierten Slogan »Wir sind hier, weil ihr unsere Länder zerstört«. Insofern hat es vor allem mit mangelnden Kapazitäten zu tun, dass diesbezüglich in den vergangenen 15 Jahren vergleichsweise wenig passiert ist – und natürlich mit der weitgehenden Nicht-Existenz globaler bzw. transnationaler Solidaritätspraxis. Umso erfreulicher ist, dass sich mittlerweile mit der Bamako-Dakar-Karawane ein praktischer Anknüpfungspunkt ergeben hat. Konkret erhoffen wir uns von der Beteiligung an der Karawane dreierlei: Erstens sind wir an wechselseitigem Informationsaustausch sowie einer gezielten Koordinierung der jeweiligen Kämpfe interessiert. Hintergrund ist, dass unsere Gegner schon lange global agieren – beispielsweise ist die europäische Grenzschutzagentur Frontex nicht nur vor den Küsten Westafrikas aktiv, sie überwacht auch sämtliche Grenzübergänge von Mali nach Mauretanien bzw. Algerien. Zweitens geht es uns um die Entwicklung gemeinsamer Visionen und Strategien, gleichsam als Voraussetzung dafür, zukünftig in größerem Stil gemeinsam handlungs- bzw. interventionsfähig zu werden. Drittens möchten wir ausloten, an welchen Punkten materielle und logistische Unterstützung die Kämpfe unserer BündnispartnerInnen zumindest punktuell stärken könnten.

Phase~2: Wie lassen sich partikulare politische Kämpfe, die aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Ausgangsbedingungen resultieren, überhaupt verbinden, ohne sie zu vereinnahmen oder gleichzumachen? Ihr thematisiert ja selbst die Schwierigkeit, gesellschaftlich produzierte Unterschiede zu überbrücken und die Vielfalt der Erfahrungen einzubeziehen. Welche Probleme ergeben sich also in der Zusammenarbeit?

Olaf Bernau: Eigentlich haben wir ganz gute Erfahrungen gesammelt: Ob vergangenes Jahr beim NoBorder-Camp auf Lesbos oder in NoLager- bzw. Bleiberechtskämpfen, immer wieder ist es gelungen, trotz erheblicher Unterschiede in der sozialen Ausgangssituation gleichberechtigte und stabile Beziehungen zu entwickeln. Das setzt allerdings voraus, offen mit Unterschieden umzugehen, also immer wieder Organisationsdruck und Tempo raus zunehmen und sich respektvoll auf die Realitäten des Gegenübers einzulassen. Denn nur so kann Vertrauen und langfristig gemeinsame Handlungsfähigkeit entstehen. Zudem sollte auch berücksichtigt werden, dass der Geldbeutel oder Pass nicht der einzige Maßstab für gleiche Augenhöhe ist. Genau so wichtig ist die Vielfalt unserer jeweiligen Erfahrungen. Denn sie ermöglicht so etwas wie Gleichheit in der unmittelbaren Kommunikation, vor allem wenn es um Fragen kollektiver Kämpfe oder Zukunftsgestaltung geht. Es würde insofern auch zu kurz greifen, transnationale Organisierung lediglich als bloße Notwendigkeit zu bestimmen. Vielmehr handelt es sich um spannende und horizonterweiternde Lernprozesse, also um die Herstellung hybrider Widerstandskulturen, was keineswegs mit hippiesker Esoterik verwechselt werden sollte!

Phase~2: Vielen Dank für das Gespräch.

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»Stop the Bomb versteht sich als eine dem Antifaschismus im besten Sinne verschriebene Organisation « – Interview mit Simone Dinah Hartmann (Stop the Bomb)

Phase~2: In unserem Schwerpunkt geht es um die Frage, wie die hiesige radikale Linke sich sinnvoll auf politische Kämpfe in anderen Teilen der Welt beziehen und eine gemeinsame Perspektive entwickeln kann. Warum die zentrale Beschäftigung mit dem Iran und was sind Eure Ziele? Mit wem geht ihr politische Bündnisse ein, wem gilt Eure politische Unterstützung in der iranischen Opposition?

Simone Dinah Hartmann: Zunächst möchte ich festhalten, dass Stop the Bomb sich als überparteiliches Bündnis versteht, in dem AktivistInnen aus ganz unterschiedlichen politischen Zusammenhängen gemeinsam arbeiten. Unter uns finden sich Anhänger fast aller politischen Parteien und Strömungen, mit Ausnahme der extremen Rechten natürlich. Insofern ist es eine Fehlannahme davon auszugehen, dass Stop the Bomb ein Projekt der radikalen Linken ist. Die Auseinandersetzung mit Antisemitismus und Antizionismus, die Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus sowie die parallel zur zweiten Intifada aufgekommene Israel-Solidarität bei Teilen der Linken hatte dennoch eine nicht unwesentliche Bedeutung bei der Entstehungsgeschichte von Stop the Bomb. Deswegen würde ich sagen, dass der kategorische Imperativ Adornos, nachdem alles zu tun ist, um ein zweites Auschwitz zu verhindern, einer der tragenden Gedanken von Stop the Bomb ist. Leider sind sich viel zu wenige wirklich darüber bewusst, dass durch das iranische Nuklearwaffen- und Raketenprogramm erstmals seit 1945 wieder die reale Möglichkeit besteht, dass Vernichtungsdrohungen gegen Juden und Jüdinnen demnächst in einem unvorstellbaren Ausmaß auch in die Tat umgesetzt werden könnten. Darüber hinaus stellt das iranische Regime auch eine der größten Gefahren für alle freiheitsliebenden Menschen dar, ob konservativ, liberal oder links-radikal, da es letztlich die Unterjochung der Welt unter den Islam anstrebt, mithin also den Kampf gegen jene Ideen begonnen hat, die den Gedanken an Befreiung überhaupt erst möglich machen.

Die Dramatik der weltpolitischen Entscheidung, vor der wir heute stehen, erfordert daher, insbesondere angesichts der jahrelangen Kollaboration europäischer Staaten mit dem iranischen Terrorregime, eine Herangehensweise, die – um das Schlimmste zu verhindern – tatsächlich etwas bewirken kann. Im Rahmen der gegebenen Verhältnisse sind die Spielräume natürlich eng bemessen, dennoch hat unsere Arbeit der letzten drei Jahre deutlich gemacht, dass man auch in so einem begrenzten Rahmen Veränderungen in die Wege leiten kann, die entscheidend für das europäisch-iranische Verhältnis sind. Als Beispiel wäre hier unsere Kampagne gegen die Revolutionsgarden zu nennen, die in einigen europäischen Staaten zu parlamentarischen Anfragen und Beschlüssen geführt und mit dazu beigetragen hat, dass die Garden nun auch von der Europäischen Union sanktioniert werden. Mittlerweile existieren Stop the Bomb-Koalitionen in mehreren europäischen Staaten, nicht nur in Österreich und Deutschland, sondern beispielsweise auch in Spanien und Italien und, unter dem Namen Iran Comité, ganz aktiv auch in den Niederlanden.

Prinzipiell gehen wir Bündnisse mit all jenen ein, die unsere Ziele teilen – also Verhinderung der Bombe, ein freier, demokratischer und säkularer Iran sowie Sicherheit für Israel, scharfe und umfassende politische und ökonomische Sanktionen gegen das Regime. Das schließt natürlich bereits eine Menge an Organisationen aus, etwa jene iranische Exil-Linke, die in puncto Antisemitismus dem Regime oftmals um nichts nachsteht. Ebenso versteht es sich von selbst, dass Stop the Bomb als eine sich dem Antifaschismus im besten Sinne verschriebene Organisation die Zusammenarbeit mit Rassisten und Antisemiten ausschließt.

Phase~2: Was unterscheidet die politische Perspektive der Antideutschen auf den Iran, Afghanistan oder den Irak von klassischem linkem Internationalismus? So gab es zumindest in der deutschen Linken seit dem Besuch des Schah 1967 verschiedene Wellen der Iran-Solidarität mit unterschiedlichen Bezugspunkten. Wie ordnet ihr Euch in diese Tradition der Iran-Solidaritätsarbeit ein, bzw. was unterscheidet Euch? Welche Rolle spielt dabei das Ideal des Universalismus?

Simone Dinah Hartmann: Da sollte man die Antideutschen fragen. Stop the Bomb ist, wie bereits erwähnt, ein überparteiliches Bündnis, in dem verschiedene Ansichten zu diesen Themen existieren. Insofern gibt es auch keinen Bezug zur Iran-Solidarität früherer Jahre, die ja im Übrigen beizeiten auf Seiten der Mullahs gestanden hat. Der universalistische Gedanke, der bei der Linken nur selten zuhause war, ist für uns schon deswegen von Bedeutung, da wir auch all jenen einen liberal-demokratischen Rechtsstaat und die Freiheit von religiösem Tugendterror wünschen, denen die europäischen Kulturrelativisten dies offenbar nicht gönnen.

Phase~2: In den Argumentationen für Sanktionen gegen den Iran spielt die Bedrohung Israels eine wichtige Rolle. In der Analyse und Bewertung islamischer Regimes bzw. des islamischen Antisemitismus wird oft auf den Export deutscher Ideologie verwiesen. Welche Rolle spielt dieser Aspekt in Eurer Arbeit? Gilt es nicht auch erstmal »vor der eigenen Haustür zu kehren« und die Verhältnisse in Deutschland und Österreich zu thematisieren? Bietet sich die iranische Oppositionsbewegung nicht auch als ein Terrain an, in dem man einen politischen Aktivismus umsetzen kann, dem man in der Auseinandersetzung mit den postnazistischen Gesellschaften mittlerweile entsagt hat?

Simone Dinah Hartmann: Der Export antisemitischer bzw. nationalsozialistischer Ideologie in den Nahen und Mittleren Osten ist natürlich ein ganz wesentlicher Punkt in der Analyse der deutsch-iranischen Beziehungen, wie auch Matthias Küntzel in seinem Buch »Die Deutschen und der Iran« sehr ausführlich dargelegt und auch in Wien auf unseren Veranstaltungen einer breiteren Öffentlichkeit präsentiert hat. Allerdings geht es nicht nur um einen Export. Man darf den eigenständigen Beitrag der islamischen Gesellschaften zum heute existierenden Antisemitismus nicht vernachlässigen. Ähnlich wie die europäischen Gesellschaften haben auch die orientalischen den Antisemitismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts selbst hervorgebracht.

Stop the Bomb konzentriert sich seit seiner Entstehung – als einzige Organisation in Europa – auf die Iran-Politik der jeweiligen Nationalstaaten, in denen das Bündnis existiert. Viele der bei Stop the Bomb Engagierten sind auch in anderen politischen oder gesellschaftskritischen Projekten aktiv und beschäftigen sich dort natürlich auch mit anderen Dingen als dem Iran. Das ist und kann aber nicht die Aufgabe von einem Bündnis wie Stop the Bomb sein. Bei aller Kritik an den österreichischen oder deutschen Verhältnissen gilt es sich vor Augen zu halten, dass das Terrorregime in Teheran heute drauf und dran ist, seine apokalyptischen Ambitionen in die Tat umsetzen zu können, unter anderem auf Grund der Unterstützung, die es in den letzten 30 Jahren gerade aus Österreich und Deutschland erhalten hat. Es gibt zwei Möglichkeiten, auf diesen Umstand zu reagieren: manche resignieren, sei es, weil ihnen die eigene Ohnmacht zu erdrückend erscheint oder weil sie meinen, dass man den Teufel in Gestalt des iranischen Regimes nicht mit dem Beelzebub – also jenen europäischen Staaten, die seit jeher das Bündnis mit den Diktaturen des Nahen Ostens suchen – austreiben kann. Wir versuchen dagegen, mit den uns zur Verfügung stehenden Mitteln auf diese unmittelbare Bedrohung zu reagieren und wider die Verhältnisse Änderungen herbeizuführen, was uns bis dato in einem Umfang gelungen ist, den wir zu Beginn unserer Arbeit nicht für möglich hielten. So haben wir durch unsere Aktivitäten – um ein konkretes Beispiel zu geben – zur vorläufigen Annullierung des geplanten Milliardengeschäfts der österreichischen OMV entscheidend beigetragen. Wäre es zu diesem strategisch wichtigen Milliardendeal gekommen, hätte er weitreichende Auswirkungen gehabt und weitere Megageschäfte europäischer Energieunternehmen nach sich gezogen. Österreich hätte hier wie so oft, wenn es um den Iran geht, eine Vorreiterrolle eingenommen.

Eure Annahme, das Engagement gegen den Iran sei eine Kompensation des aufgegebenen Aktionismus hier vor Ort, finde ich abstrus. Stop the Bomb macht seine Aktivitäten nicht von der iranischen Oppositionsbewegung abhängig, sondern kooperiert mit jenen ihrer Fraktionen, die unsere Ziele teilen. Natürlich unterstützen wir den Kampf der demokratischen und säkularen Opposition gegen das verbrecherische Regime im Iran und fordern von der europäischen Politik, dasselbe zu tun, anstatt sich mit Vertretern eines Regimes zu treffen, das geradezu den Tod personifiziert. Große Teile der Linken haben die iranische Opposition längst verraten, hetzen sie doch lieber gegen Israel und lassen das »palästinensische Volk« hochleben, anstatt all jenen Empathie entgegenzubringen, die sich aus den Fesseln der islamischen Despotie befreien wollen. Ein Regime Change im Iran, der mit der Verfassung der islamischen Republik bricht, wäre ein welthistorischer Akt, der weit über die Befreiung der IranerInnen hinausgehen würde. Djihadistische Terrororganisationen wie Hamas und Hizbollah würden damit ihren Hauptsponsor verlieren, womit sich auch die Sicherheitslage Israels entspannen würde. Der Islamismus und seine Bewegungen würden einen schweren Schlag davon tragen, was sich vermutlich auch im Westen bemerkbar machen würde. Gleichzeitig würde damit jenen Kräften Auftrieb gegeben, die auch in anderen Teilen der islamischen Welt für rechtsstaatlich-demokratische und säkulare Verfassungen kämpfen und dem islamischen Angebot den Finger zeigen. Und langfristig ist ein Sturz des derzeitigen Regimes auch die beste Möglichkeit, das iranische Nuklearwaffenprogramm zu stoppen und Israel ein wenig mehr Luft zum Atem zu geben.

Phase~2: Im Sommer letzten Jahres kam es bei einer Kundgebung im Rahmen eines Iran-Aktionstages in Berlin zu Auseinandersetzungen bezüglich des Zeigens von Israelfahnen. Zugunsten des Bündnisses mit exiliranischen Gruppen und der Unterstützung der iranischen Protestbewegung wurde eine öffentliche Israelsolidarität hintangestellt. Wie geht man als israelsolidarische Kampagne mit derartigen Konflikten um?

Simone Dinah Hartmann: Ich weiß nicht, was damals passiert ist und wer involviert war. Allerdings erinnere ich mich an eine Stellungnahme einer linken Gruppe aus Berlin, in der erklärt wurde, warum Israelfahnen nichts auf Solidaritätsaktionen für die iranische Freiheitsbewegung verloren haben. Das ist nicht nur falsch, sondern auch paternalistisch. Neben vielem anderen ist eines unserer Motive für die Solidarität mit diesem Freiheitskampf die Sorge um Israel. Warum sollte man das irgendjemandem gegenüber verbergen? Wie ich bereits sagte, kooperiert Stop the Bomb nicht mit antisemitischen oder antizionistischen Gruppen. Auf unseren eigenen Kundgebungen wehen kurdische, diverse iranische, israelische und ab und zu auch rote Fahnen. Jede einzelne davon hat schon zu Diskussionen unter den KundgebungsteilnehmerInnen geführt, aber genau darum geht es ja auch. Auch in der deutschsprachigen Linken gab es eine jahrzehntelange Auseinandersetzung zu diesen Themen, die den Bruch mit klassisch linken Essentials erst möglich machte. Diese Auseinandersetzung wird nun vermehrt auch in der iranischen Opposition geführt, wozu auch die Gründung von Stop the Bomb beigetragen hat. Gleichzeitig gilt es sich immer vor Augen zu halten, dass jene Iraner und Iranerinnen, die öffentlich Solidarität mit Israel einfordern, mit ganz anderen Konsequenzen zu kämpfen haben als der oder die ordinäre deutsche Linke. Unsere iranischen MitstreiterInnen haben bereits mehrfach Drohungen erhalten, weil sie den Antisemitismus ihrer Landsleute denunziert haben und mit pro-israelischen Kräften zusammenarbeiten. Wer die Brutalität des iranischen Regimes kennt, weiß, was das im Einzelnen bedeuten kann.

Phase~2: Vielen Dank für das Gespräch.

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»Wer grenzüberschreitenden Herrschaftsstrukturen den Kampf ansagt, muss sich grenzüberschreitend vernetzen.« – Interview mit Jojo/Chris (FelS)

Phase~2: Von Ende der sechziger bis in die achtziger Jahre hinein gab es in Europa eine starke internationale Solidarität mit verschiedenen Befreiungsbewegungen als TrägerInnen des revolutionären Kampfes außerhalb der Metropolen. Die »Antiimperialistische Internationale« hat in den vergangenen Jahren erheblich an Kraft verloren. In der globalisierungskritischen Linken, als deren Teil ihr Euch begreift, sammeln sich Gruppen, die auch heute noch an der Möglichkeit internationaler Kämpfe festhalten und mit politischen Bewegungen anderer Länder zusammenarbeiten. Wie würdet ihr Euch in diesem Teil linker Geschichte verorten? Was ist Euer Begriff von Internationalismus?

Jojo: Für mich und für uns als Gruppe ist der inter- oder transnationale Aspekt politischer Arbeit immens wichtig. Wer grenzüberschreitenden Herrschaftsstrukturen den Kampf ansagt, muss sich grenzüberschreitend vernetzen. Dazu zählt die Solidarität mit emanzipatorischen Bewegungen in anderen Ländern genauso wie der Kampf gegen Rassismus und Migrationskontrolle »vor der eigenen Haustür«. Die Grenz- und NoBorder-Camps sind Beispiele von Versuchen, diese Ebenen miteinander zu verbinden. Nach meinem Verständnis geht es nicht um Solidarität zwischen oder mit bestimmten Nationen; es geht um Solidarität zwischen Menschen, die in unterschiedlichen Staaten leben, aber (wenn auch in durchaus unterschiedlicher Weise) mit den gleichen Herrschaftsverhältnissen zu kämpfen haben: der Kampf gegen Rassismus, gegen Sexismus, gegen Kapitalismus und Homophobie ist transnational, er muss es sein, will er nicht in die nationalistische Falle treten.

Phase~2: Für uns sieht es so aus als hättet ihr Euren Arbeitsschwerpunkt von der Solidarität mit internationalen Befreiungsbewegungen auf die Forderung nach »internationaler Bewegungsfreiheit« verlegt, das heißt konkret: ihr beschäftigt Euch vor allem mit Migrationspolitik und dem europäischen Grenzregime. Wie kam es zu dieser Schwerpunktverlagerung?

Chris: Die Entscheidung war ein Prozess, auf dessen Weg die Themen Antimilitarismus und die globalisierungskritische Bewegung lagen. Nachdem wir erfolgreich nach Genua und Evian mobilisiert hatten, stellten wir fest, dass unsere politische Arbeit darauf beschränkt blieb, sich zu den jeweiligen Ereignissen in Form von inhaltlicher Auseinandersetzung und Vernetzung zu beschäftigen. Nach dem Event endete die Beschäftigung damit. Diese Art Politik wurde wegen fehlender Kontinuität als nicht ausreichend erachtet. Es gab innerhalb der Gruppe das starke Bedürfnis, sich grundsätzlich mit der Frage des Internationalismus zu beschäftigen. Beginnend mit Frantz Fanon über die Solidaritätsbewegungen der siebziger und achtziger Jahre bis hin zur globalisierungskritischen Bewegung setzten wir uns mit der Theorie und Praxis von internationaler Solidarität auseinander. Wir kamen zu dem Schluss, dass das Konzept der nationalen Befreiungsbewegungen als systemüberwindendes Projekt gescheitert war, sich aber aus der konkreten Praxis und den gemachten Fehlern Schlüsse für die praktische Arbeit heute gewinnen lassen. Weiterhin fiel uns auf, dass die Zusammenarbeit mit den Menschen aus den jeweiligen Ländern, die in Westdeutschland als MigrantInnen lebten, vor allem am Ende der sechziger Jahren vielmehr durch eine gemeinsame Praxis und Diskussionen gekennzeichnet war als im späteren Verlauf. Hier tauchten mehr und mehr paternalistische Züge auf. Auch wurden die gescheiterten Hoffnungen der Systemüberwindung hierzulande auf die Entwicklungen im Süden projiziert. Gleichzeitig nahmen wir die Befreiungsbewegungen als historische Versuche war, sich gegen Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnisse zu wehren. Dass diese bis heute durch die zerstörerische Wirkung des Kolonialismus und der Fortführung durch den Postkolonialismus weiter bestehen, liegt dabei auf der Hand. Der Zusammenhang zu Rassismus und Migration wurde uns dann bei der Vorbereitung zur Demonstration in Berlin gegen Kolonialismus und Postkolonialismus anlässlich des G8-Gipfels in Gleneagles mit dem Schwerpunkt Afrika besonders deutlich. Dort wurde von Gruppen der Flüchtlingsselbstorganisierung der Slogan formuliert »Wir sind hier, weil ihr unsere Länder zerstört habt«. Dies verdeutlicht, dass Migration heute auch Widerständiges beinhaltet, wenn auch nicht nur und in der Regel nicht kollektiv, sondern individuell. Da wir weder den Fehler der Projektion noch den des Paternalismus machen wollen, war es für uns nur logisch, dass internationale Solidarität heute die Bekämpfung von Rassismus bedeutet.

Phase~2: Das positive Ansinnen der antiimperialistischen Arbeit bestand darin, auf die Dominanz der westlichen Staaten gegenüber den so genannten Drittweltstaaten bzw. der Peripherie aufmerksam zu machen, die die politisch-ökonomischen Handlungsmöglichkeiten entscheidend einschränkte. Spielen Ideen eines klassischen antiimperialistischen Internationalismus in Eurer globalisierungskritischen Arbeit noch eine Rolle?

Jojo: Es bleibt immens wichtig, sich mit der Geschichte des Kolonialismus und dem Fortbestehen postkolonialer Machtverhältnisse durch ökonomische Abhängigkeitsverhältnisse auf dem kapitalistischen Weltmarkt zu befassen. Weder Rassismus noch globaler Kapitalismus können ohne diesen Hintergrund analysiert werden. Auch die Migrations(kontroll)politik der ehemaligen Kolonialmächte muss in diesem Kontext gesehen werden – allein der Vergleich der weltweiten Migrations- und Reisefreiheit eines Deutschen und einer Namibianerin verdeutlicht die postkolonialen Kontinuitäten und damit verbundene Privilegien. Die Solidarität mit Bewegungen, die sich in den (ehemals) kolonisierten Ländern gegen Kolonialismus und dessen moderne Kontinuitäten zur Wehr setz(t)en, erscheint also erst einmal als linke, progressive Selbstverständlichkeit. Das Problem mit dem antiimperialistischen Internationalismus war vielmehr, dass er nicht fähig bzw. willens war, die Komplexität von Machtverhältnissen auch innerhalb kolonisierter Gesellschaften, auch innerhalb antiimperialistischer und antikolonialer Bewegungen zu begreifen. So wurden die kolonisierten »Völker« zu per se emanzipatorischen »Befreiungsbewegungen« homogenisiert. Reaktionäre Ideologien und Praxen wurden ausgeblendet. Als der antiimperialistische Internationalismus sich dann auch noch auf die Solidarität mit dem »palästinensischen Befreiungskampf« gegen das »imperialistische Israel« konzentrierte, wurde es vollends wirr, weil man sich nun nicht mehr gegen die ehemaligen Kolonialmächte stellte, sondern gegen einen jungen Staat, dessen Existenz aufgrund des deutsch-europäischen Antisemitismus notwendig wurde.

Phase~2: Eine maßgebliche Kritik am klassischen Internationalismus galt der Projektion gesellschaftlicher Veränderung auf »revolutionäre Subjekte« andernorts und die Identifikation mit den Opfern »imperialistischer« Politik. Auch im antirassistischen Spektrum gab es diese Auseinandersetzung um die Projektionen auf »migrantische Subjekte« als Kräfte gesellschaftlicher Veränderung, so z.B. in der Auseinandersetzung um die »Autonomie der Migration«. Spielt diese Frage eine Rolle in Eurer Arbeit?

Jojo: Dass Migrant_Innen als Subjekte wahrgenommen werden müssen, die – ob politisch motiviert oder nicht – gesellschaftliche Verhältnisse verändern, ist keine Projektion, sondern eine Selbstverständlichkeit. Der Diskussion um die Autonomie der Migration kommt das Verdienst zu, die Perspektive darauf gelenkt zu haben, dass Migrant_Innen keineswegs einfach »Opfer« nationalstaatlicher Politik sind, sondern dass sie durch kollektive Praxen durchaus wirksam staatliche Kontrollpolitik unterlaufen und damit die »Umstände der Migration« verändern. Dass es sich hierbei um kein Aufeinandertreffen auf gleicher Augenhöhe handelt, ist klar – deswegen wäre es auch falsch, tatsächlich von einer völligen »Autonomie« von Migrationsbewegungen gegenüber den staatlichen Versuchen, sie zu kontrollieren, auszugehen. Der Ansatz der »Autonomie der Migration« sollte vielmehr als Anregung für einen Perspektivwechsel gelesen werden, der durchaus sinnvoll ist, da politische wie wissenschaftliche Diskurse über Migration diese sonst oft aus der Perspektive von Nationalstaaten und deren Kontrollinteressen thematisieren. Gleichwohl besteht die Gefahr einer Abwertung von Ansätzen, die schwerpunktmäßig Fluchtgründe thematisieren und sich demzufolge auf diejenigen Menschen konzentriert, die über genügend Ressourcen (z.B. Geld oder soziale Netzwerke) verfügen, um halbwegs »erfolgreich« zu migrieren.

Phase~2: Wie sehen Eure politischen Kooperationen aus? Auf welche politischen Kräfte stützt ihr Euch? Welche Probleme ergeben sich in der Zusammenarbeit?

Jojo: Wir arbeiten im »Bündnis gegen Lager« mit verschiedenen Gruppen und Einzelpersonen aus dem antirassistischen Spektrum zusammen. Im Rahmen der »Lagerinventour« wollen wir Kontakte zu Flüchtlingen in Lagern in Berlin und Brandenburg aufbauen und mit ihnen gemeinsam Widerstandsstrategien gegen das rassistische Lagersystem entwickeln. Das Projekt steckt noch in den Kinderschuhen, ist jedoch sehr erfolgreich angelaufen. Unsere ersten Erfahrungen lassen uns glauben, dass unter den Flüchtlingen durchaus großes Interesse an einer Vernetzung mit anderen Akteur_innen besteht, die sich gegen staatlichen Rassismus wehren. Natürlich muss bei einer Zusammenarbeit der unterschiedliche Ausgangsstatus reflektiert werden: Als Gruppe, die größtenteils aus »Weißen« und »Deutschen« besteht, ist für uns politische Arbeit wesentlich einfacher und mit weniger Risiken behaftet als für Migrant_innen mit prekärem Aufenthaltsstatus. Wir setzen uns quasi in unserer »Freizeit« mit diesen Themen auseinander; wenn wir nach Hause gehen oder in Urlaub fahren, sind die Lager für uns plötzlich weit weg. Für die meisten Flüchtlinge hingegen ist das Lager das »Zuhause«, und In-Urlaub-fahren scheitert an Residenzpflicht und Geldmangel. Wer dieses Privilegienverhältnis nicht mitdenkt, kann viel falsch machen. Die Überprüfung der eigenen Politik und Netzwerkarbeit auf paternalistische Momente ist sehr wichtig. Wir versuchen, hierauf zu reagieren, indem wir versuchen, die Probleme und Wünsche der Flüchtlinge in den Mittelpunkt zu stellen und sie zu aktivieren, sich selbst für ihre Interessen einzusetzen.

Phase~2: Vereinfacht gesagt, operiert der Antiimperialismus mit einem dualistischen Weltbild: auf der einen Seite stehen die imperialistischen Staaten, auf der anderen Seite die antiimperialistischen Befreiungsbewegungen. In den Auseinandersetzungen um den Israel-Palästina-Konflikt in der europäischen Linken und anhand der deutschen Friedensbewegung, die den bewaffneten Widerstand im Irak gegen die «imperialistischen Besatzer« politisch und finanziell unterstützen, zeigt die Schwäche des Antiimperialismus am deutlichsten bzw. diskreditiert sich im Falle antisemitischer Tendenzen selbst. Wie geht ihr mit diesen Solidaritätsbewegungen um, bzw. welche Haltung nehmt ihr demgegenüber ein?

Jojo: Ich habe vorhin bereits kurz erwähnt, dass aus dem – in seiner antikolonialen Ausrichtung zunächst an sich richtigen – »Antiimperialismus« stark vereinfachte bis reaktionäre Welterklärungsmodelle entstanden sind. In Deutschland zeigte der Applaus der RAF für den Mord an israelischen Olympiateilnehmern durch das palästinensische Terrorkommando »Schwarzer September« im Jahr 1972 die hässlichste Fratze des »antiimperialistischen Internationalismus«. Seit den neunziger Jahren hat sich in der Linken in Deutschland nach meiner Einschätzung in dieser Hinsicht viel getan; durch die verstärkte Problematisierung von linkem Antisemitismus, Antizionismus und Antiimperialismus ist es gelungen, in breiten Teilen der Linken eine weit höhere Sensibilität diesen Themen gegenüber zu etablieren. Es ist seit längerem nicht vorgekommen, dass Gruppen, mit denen wir zusammengearbeitet haben, einen reaktionären »Antiimperialismus« vertreten haben. Vielleicht liegt das auch an unserer Themenverschiebung. Wobei hierin auch die Kehrseite des kritischen Diskurses gegen den Antiimperialismus liegt: Er hat dazu geführt, dass sich in der Linken in Deutschland weniger mit sozialen Bewegungen in anderen Ländern auseinandergesetzt wird, vermutlich weil die richtige Kritik an der falschen Solidarität mit reaktionären »Befreiungsbewegungen« heute »internationale Solidarität« und teilweise sogar »Antirassismus« schon begrifflich in Verruf gebracht haben. Die (Ent-)Solidarisierung deutscher Linker mit sozialen Bewegungen in anderen Ländern orientiert sich offenbar zu einem nicht unwesentlichen Teil daran, inwiefern sich diese für die eigenen politischen Ziele in innerdeutschen und -linken Grabenkämpfen instrumentalisieren lassen. Für uns gilt, dass soziale Bewegungen in anderen Ländern differenziert und im Rahmen ihren jeweiligen gesellschaftlichen Bedingungen zu betrachten sind. Sozialer Protest ist nicht per se fortschrittlich; jedoch ist auch klar, dass für Bewegungen, die unter völlig anderen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen agieren als wir, die Bewertungsschablonen aus deutschen linksradikalen Diskursen nicht unbedingt taugen. Solidarisierungen mit als progressiv eingeschätzten Bewegungen oder Bewegungsteilen halte ich weiter für unabdingbar, wenn wir nicht den Blick für die globale Dimension von Herrschaftsverhältnissen und sozialen Kämpfen verlieren wollen. »Antinationale« Solidarität kann und sollte »internationale« Solidarität keineswegs ersetzen; vielmehr sind sie miteinander in Verbindung zu setzen.

Phase~2: Vielen Dank für das Gespräch.

Phase~2, Leipzig