Islam und Moderne

Nilüfer Göle, die sich mit den »friedlichen Überschneidungen von Islam und Moderne« beschäftigt, hat einen Essay über die Durchdringung von Islam und Moderne geschrieben, der 2005 in Frankreich erschienen ist. Göle stellt zwei entscheidende Fragen: Was ist islamisch am islamistischen Terrorismus und wie verhält sich Europa zum Islam?

Göle versteht die Al-Quaida-Anschläge in Istanbul sowie den islamistischen Terrorismus im Allgemeinen als eine Wiedereinführung eines religiösen Repertoires. Damit richtet sie sich gegen die Interpretationen von Olivier Roy und Gilles Kepel, die im islamistischen Terrorismus ein letztes verzweifeltes Aufbäumen sehen gegen die Niederlage des politischen Islam, eine Gesellschaft zu organisieren. Nach Göle errichtet der islamistische Terrorismus ein islamisches Imaginäres auf einer medienwirksamen globalen Bühne.

Der Anschlag auf eine Synagoge am Sabbat galt nicht dem Abkommen zwischen der Türkei und Israel, sondern war direkt auf die Anwesenheit jüdischer BürgerInnen, wie generell der jüdischen Religion, auf islamischen Boden gerichtet. Der Anschlag auf das britische Konsulat und eine britische Bank galt nicht nur der britischen Unterstützung des Irakkriegs, sondern auch der Zinspraxis der Bank, den Wucher im islamischen Sinn. Die Wirkung des islamistischen Terrorismus besteht nicht so sehr in der Ideologie, die nur eine kleine Anzahl von Intellektuellen erreicht, sondern in der religiösen Phantasie. Er zielt auf das kollektiv muslimische Imaginäre, das ebenso global ist, wie der Terrorismus. Mit jedem Angriff werden religiöse Verbote reaktiviert und »auf virtuelle, imaginäre Weise, als bildhafte Inszenierung zieht der Terrorismus die Grenzen neu zwischen dem Islam, wie er ihn vertritt, und der modernen Welt, die er verurteilt«. Dass die Anschläge eine religiöse Resonanz haben, die von MuslimInnen weltweit registriert wird, heißt nicht, dass sie ihnen zustimmen, macht die Anschläge aber zu Bezugspunkten, zu denen MuslimInnen Stellung zu beziehen haben. Durch diese performativen Akte will der radikale Islam den öffentlichen Raum kontrollieren und dort wieder die Hegemonie des Religiösen installieren.

Der Kampf um die Öffentlichkeit wird auch in Europa geführt. Kopftuchtragende Frauen in der Öffentlichkeit werden als Angriff auf genau das Prinzip der Öffentlichkeit verstanden. In Europa ist der Zutritt zur Öffentlichkeit an Bedingungen geknüpft, dass die StaatsbürgerInnen erwachsen und vernünftig sein müssen, d.h. die Religion als Privatsache behandeln sollen. (Dass Göle bei Europa an Frankreich denkt, wird hier offensichtlich, da christliche Parteien zum europäischen Alltag gehören.) Das Anlegen des Kopftuchs wird folglich als Herabwürdigung des modernen Subjekts wahrgenommen, das definiert ist durch individuelle Wahlfreiheit, rationales Handeln und die Emanzipation der Frau. Die Frage, die sich hier stellt, ist, ob man die muslimischen Frauen mit Kopftuch mittels autoritärer Maßnahmen aus der Öffentlichkeit ausschließt und ein Erziehungsregime mit zivilisatorischer Mission einführt oder, ob die Öffentlichkeit zu einem Ort werden kann, an dem auf demokratische Weise kulturelle und religiöse Unterschiede anerkannt werden, was die Gefahr der Zersplitterung mit einschließt, die in Deutschland unter dem Begriff Parallelgesellschaften firmiert.

Göle vermutet hinter der aktuellen Präferenz für die autoritäre Lösung im Namen der Gleichheit der Geschlechter in Frankreich z.B., dass sie hier die letzte Errungenschaft im Prozess der Entfaltung des Gleichheitsprinzip ist, während in der Türkei bereits zehn Jahre vor Frankreich das Wahlrecht für Frauen eingeführt wurde. Damals galt die Emanzipation der Frau als Maßstab der Modernisierung des Landes und Frauenrechte wurden eher als Menschenrechte gewährt.

Angesichts dessen, dass alles, was zum alltäglichen Leben gehört, dem Gläubigen wichtig ist, taucht der Islam in der Öffentlichkeit auf. Aber »anders als frühere Generationen überschreiten die Mädchen, die heute das Kopftuch tragen, die Schwelle der Tradition, gehen in den öffentlichen Raum, fordern die gleiche Berücksichtigung an den Universitäten und anderswo« und weigern sich, zwischen der Moderne und dem Islam wählen zu müssen. Die Frauen wollen mit dem Kopftuch einer persönlichen Beziehung zur Religion Rechnung tragen, die nicht auf den Druck der Familie, Männer und Fundamentalisten zurückzuführen ist, aber auch nicht frei vom Zugehörigkeitsgefühl zu einer kollektiven Strömung, die auch eine Kritik an der Moderne beinhaltet. »Die Frage ist deshalb, ob man bereit ist, neu darüber zu verhandeln, was innerhalb der Grenzen des öffentlichen Raums liegt und was außerhalb bleibt«, welche Kritik an der Moderne öffentlich artikulierbar ist und welche nicht, wenn man »die Fähigkeit, die Verbindung zum anderen herzustellen, zum Fremden – man nennt das auch Demokratie« erhalten will.

Nilüfer Göle: Anverwandlungen. Der Islam in Europa zwischen Kopftuchverbot und Extremismus. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2008, 328 S., € 26,80.

LURZ ACHTERNBUSCH