Trotz ihrer derzeitigen politischen Defensive ist das Verhältnis der religiösen Rechten zur Grand Old Party der Republikaner (GOP) auch im Wahljahr 2008 relevant für die Bestimmung der politisch-kulturellen Kräfteverhältnisse in den USA. Und obwohl sich die christliche Rechte 2008 angesichts der Spaltung des konservativen Lagers nicht auf einen gemeinsamen Kandidaten einigen konnte und sie mit dem 2007 verstorbenen Jerry Falwell einen ihrer Gründungsväter verloren hat, bleibt sie – als Mehrheitsbeschafferin oder oppositioneller Störfaktor – ein wichtiger Akteur in der politischen Kultur und den Wahlkämpfen der Vereinigten Staaten; eine politische Kultur, die von den Auseinandersetzungen zwischen aufgeklärten Säkularisten und religiösen Wertekonservativen (value voters) geprägt ist. Deren aktuelles Dilemma: Der einzige Kandidat, der einen change, an den man glauben kann, repräsentiert, ist ein afro-amerikanischer Demokrat, der ausgerechnet den Zweitnamen »Hussein« trägt. Der Reigen der religiösen Rechten gleicht gegenwärtig eher einem Trauermarsch. Ihr einziger »authentischer« Verbündeter gegen die apokalyptischen Vorboten des Armageddon, der evangelikale Prediger und ehemalige Gouverneur von Arkansas, Mike Huckabee, wurde während der Primaries selbst im eigenen Lager als Hillbilly Preacher verspottet. Im Wahljahr 2008 kann die religiöse Rechte ihre Rolle als Königsmacher bestenfalls durch die Verhinderung des demokratischen oder republikanischen Präsidentschaftskandidaten ausüben. Insofern stellt sich die Frage, wie die religiöse Rechte in den USA gegenwärtig einzuschätzen ist. Und wie kann sie in der vom Spannungsverhältnis zwischen liberalem Säkularismus und den manifesten religiösen Überzeugungen der Bevölkerungsmehrheit geprägten politischen Kultur der USA verortet werden?
It 's the faith, stupid!
Endgültig war die christliche Rechte wieder in den Fokus der medialen Aufmerksamkeit gerückt durch die dramatischen Ereignisse, die George W. Bush im Jahr 2000 ins Amt verhalfen. Damals, als Bush jr. sich nur knapp gegen den demokratischen Kandidaten Al Gore durchsetzen konnte, galt die politische Abstinenz vieler Angehöriger der evangelikalen Gemeinden als Ursache für die fehlende sichere Mehrheit der GOP. Es war Bushs Chefstratege Karl Rove, der z.B. durch Kampagnen gegen die gleichgeschlechtliche Ehe ein spezielles agenda setting für weiße evangelikale Wähler entwickelte und die zuvor wenig politisierten Angehörigen der protestantischen Kirchen zur Grundlage seines Erfolges machte. 2004 waren weiße evangelikale Christen mit über 40 Prozent der Gesamtstimmen die Basis für den Erfolg des »wiedergeborenen« Amtsinhabers aus Texas.Einen kurzen historischen Abriss und Ausblick liefert Florian Meyer, Die Rolle der religiösen Rechten im Wahlkampf, in: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte 1/2 (2008), 53-55. Weiterführend dazu Josef Braml, Westliche Wertegemeinschaft? Zur Sprengkraft religiöser Werte, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ) 5–6 (2008), 21–27.
Wer für 2008 das Revival einer vitalen christlichen Rechten erwartet hatte, erlebte eine kleine Überraschung. Nicht nur in der von Flügelkämpfen geprägten GOP war der religiöse Faktor ein zentrales Thema für den Präsidentschaftskandidaten, sondern auch im Vorwahlkampf der Demokratischen Partei. Deren Kandidat Barack Obama trennte sich im März in einer aufsehenerregenden Rede von seinem spirituellen Mentor Rev. Jeremiah A. Wright jr., der in einer polemisch zugespitzten Tirade – »God damn America!« – das dominante »weiße« Amerika verflucht hatte. Die klassische religiöse Rechte kam im Rahmen der Debatte um die Skandale innerhalb der afro-amerikanischen Community aus dem Blick; Kontroversen in den Reihen der weißen Protestanten fanden eher selten ins Zentrum der Berichterstattung.
»Agenten der Intoleranz«
Mit bezeichnenden Ausnahmen: Ende Mai 2008 berichtete die New York Times in einem Editorial über Sen. McCains Agents of Intolerance.Sen. McCain's Agents of Intolarence, Editiorial der New York Times vom 24. Mai 2008. Der Präsidentschaftskandidat der Republikaner, Senator John McCain, hatte sich im Vorwahlkampf der Unterstützung zweier evangelikaler Prediger versichert, die fulminante Hasstiraden gegen Katholiken, Juden und Muslime ausstießen. Einer der Unterstützer, Rev. John Hagee, bezeichnete die katholische Kirche unter Anspielung auf die mythologische Bibelfigur »Hure Babylon« als »die große Hure«, ohne dafür zunächst Konsequenzen erwarten zu müssen. Als dann aber Aufnahmen auftauchten, in denen Rev. Hagee über Hitler und den Holocaust als Teil von Gottes Plan zur Ansiedlung der europäischen Juden in Palästina sinnierte, brach McCain mit seinem einstigen Verbündeten. Dessen Verhältnis zum religiösen Flügel der GOP bleibt gespalten. Bereits im Jahr 2000 bezeichnete McCain deren Führungsfiguren, die Prediger und Lobbyisten Pat Robertson und Jerry Falwell, als »Agenten der Intoleranz«, die durch ihre fundamentalistischen Auffassungen einen fatalen Einfluss auf die Partei Abraham Lincolns ausüben würden.
Schon ein kurzer Blick auf die Positionen der beiden Galionsfiguren der evangelikalen Rechten bestätigt diesen Befund: Pat Robertson, der Vorsitzende der Christian Coalition, sieht vor allem die außenpolitischen US-Eliten bestimmt von den Nachfolgern der Illuminati und Freimaurer, die im Bayern des 18. Jahrhunderts entstanden und als Mächte der Globalisierung im Council on Foreign Relations oder der Trilateral Comission ihre mysteriösen Fäden zögen.Nachzulesen in: Pat Robertson, The New World Order, Dallas 1991. Robertsons Traktat ist ein schillerndes Zeitdokument des antisemitisch-verschwörungstheoretischen Trashs der christlichen Rechten in den frühen Neunzigern, der in den USA ein beachtliches Publikum und hohe Auflagen fand. Rev. Robertsons Kandidatur gegen George Bush während der Primaries im Jahr 1988 brachte den Parteiapparat der GOP zeitweise in arge Verlegenheit; Robertson konnte z.B. trotz seiner exzentrischen Ansichten die Vorwahlen in Alaska und Hawaii gewinnen. Der 2007 verstorbene Jerry Falwell, lange Jahre die zentrale Reizfigur der als American Taliban bekannten fundamentalistischen TV-Prediger, benannte in Robertsons TV-Show The 700 Club unmittelbar nach den Anschlägen des 11. September 2001 die angeblichen »Helfershelfer« des Terrors: Feministinnen, Homosexuelle und die Verteidiger der Säkularisierung. »Ich zeige mit dem bloßen Finger auf all diejenigen, die versucht haben, Amerika zu säkularisieren: ›Ihr habt mitgeholfen, dass das passiert ist‹«, verkündete Falwell damals.Zit. n. Clyde Wilcox/Catrin Larson, In den Schützengräben: Amerikanische Evangelikale und der »Kulturkampf« in: Manfred Brocker, God bless America. Politik und Religion in den USA, Darmstadt 2005, 89–108, Übersetzung des Autors.
Die cultural wars der Gegenwart
Es sind diese bizarren Illustrationen des cultural wars der Die-Hard-Conservatives gegen den nach fundamentalistischer Auffassung in der Folge von 1968 beschrittenen amerikanischen »Irrweg«, die das Publikum faszinieren und den Blick auf die religiöse Rechte in den USA prägen. In der Tat wäre es verdammt leicht, ihre Geschichte als amüsantes Schauspiel zu schreiben; als schrille Realsatire, besetzt mit schillernden Protagonisten und getragen von obskuren Dialogen über god, guns and gays; als Tanz der archaischen Ideologien in god's own country, in denen ein Echo aus der Urgeschichte der Siedlerbewegung, der Puritaner und der Prädestination durch god nachhallt. Ein Reigen zur Belustigung der idealtypischen ressentimentgeladenen liberals an der Ostküste und in Europa, denen das Kernland der USA, das weite Land des Mittleren Westens, eh nie ganz geheuer war. Unklar bleibt bei der beliebten Darstellung eines politischen Panoptikums der Prediger und Pietisten die Antwort auf die Frage nach den Grundlagen des erbitterten Kampfes um Hegemonie in den Debatten um gleichgeschlechtliche Ehen, Abtreibung sowie die Präsenz religiöser Symbole in öffentlichen Institutionen. Ungeklärt bleibt, was die Auseinandersetzungen um den Kreationismus, die Ablösung der darwinschen Evolutionslehre durch die Propagierung des biblischen Schöpfungsmythos, über die politische Kultur in den USA aussagen. Dort korrespondiert die rabiate Abwehr (natur-)wissenschaftlicher Welterklärung mit der staatlichen bzw. privaten Förderung von Gentechnologie und Stammzellenforschung, koexistiert buchstabengetreuer Bibelglauben mit der ideologischen Affirmation des High-Tech-Kapitalismus. Die Analyse der Rolle der religiösen Rechten im politischen System der USA schärft den Blick für die Antagonismen im Kampf um die beiden Amerikas, um die liberal-aufgeklärte Tradition eines säkularen Verfassungsstaats und die Verteidigung der Vereinigten Staaten als einer christian nation. Entlang der beiden Pole wird die zentrale Frage des Who are we? (Samuel Huntington), der politischen Bestimmung der amerikanischen Identität, ausgefochten.
»Liberals don't generally go to church«
Seit dem Erfolg der Reagan Coalition aus Fiskalkonservativen, antikommunistisch-militaristischen Falken und eben der christlichen Rechten Anfang der achtziger Jahre werden die weißen Evangelikalen dem republikanischen Lager zugeordnet. Doch bereits dem Demokraten und Südstaatenbaptisten Jimmy Carter gelang es 1976, einen großen Teil dieses heterogenen Wählerpotenzials zu mobilisieren. Bibeltreue Fundamentalisten und Pfingstler, in freien Gemeinden organisierte Charismatiker sowie vergleichsweise »moderate« Neu-Evangelikale bilden die Basis der Bewegung, die sich von der Southern Baptist Convention bis zur Episcopal Church in the USA über hunderte Kirchen verstreut. Baptisten, Methodisten, Lutheraner, Anglikaner, Presbyterianer sowie mannigfache andere Glaubensrichtungen innerhalb der mehrheitlich protestantischen Bevölkerung in den USA bilden eine kaum überschaubare Phalanx von Gläubigen, die nach einer Phase relativer politischer Apathie immer mehr in die Republikanische Partei und ihr kulturelles Umfeld drängten bzw. gedrängt wurden. Jimmy Carters Erfolge bei der Aktivierung der weißen Evangelikalen blieben historisch betrachtet eine Episode. Dass Reagans demokratischer Vorgänger zunächst dieses bis 1970 weitgehend apolitische Milieu für sich gewinnen konnte, indem er sich als authentischer Staatsmann aus den protestantischen Reihen präsentierte, zeigt, dass die evangelikale Wählerschaft keinesfalls als historisch und politisch homogener Block betrachtet werden kann. Schwarze Evangelikale, die zirka acht Prozent der Bevölkerung bilden, unterstützen beispielsweise mehrheitlich die Demokraten und eine wohlfahrtstaatlich orientierte Politik, die in der Tradition des New Deal steht.
Carters Erfolg bei evangelikalen Wählern mobilisierte die reaktionäre Gegenseite. Alle führenden Lobbygruppen der christlichen Rechten, von Jerry Falwells Moral Majority über Pat Robertsons Christian Coalition bis hin zu James Dobsons 1977 gegründeter Vereinigung Focus on the Family, übten verstärkt Einfluss auf die GOP aus – und wurden von dieser gleichzeitig umworben. Mit ihren Publikationen, Debattierzirkeln, TV-Stationen und Radio-Shows, Think-Tanks sowie konfessionell gebundenen Hochschulen verfügt die religiöse Rechte in den USA über ein breites Netzwerk mit dem Ziel der Erlangung kultureller Hegemonie außer- und innerhalb der GOP. Ein Netzwerk, das unter George W. Bush weiter verstärkt wurde. Der bis 2005 als Justizminister in der Bush-Administration vereidigte John Ashcroft hält beispielsweise Kurse und Vorlesungen an Pat Robertsons Regent University in Virginia Beach. Zur Lobbyarbeit und politischen Strategie der religiösen Rechten zählt unter anderem ein Gesinnungs-TÜV für Kongressabgeordnete, die von den evangelikalen Aktivisten entlang ihrer Positionen zur Themenpalette von Abtreibung bis Zellforschung überwacht werden und im Fall einer abweichenden Meinung ins Visier der Glaubenskrieger geraten. Die »Vergehen« der gewählten Abgeordneten und Kandidaten werden anschließend Gegenstand von inkriminierenden Zeitungsanzeigen, TV-Spots oder Telefonaktionen bei potenziellen Wählern. Oder sie landen am Internet-Pranger der vielfältigen Homepages in der evangelikalen Blogger-Szene. Die extremste Variante des fundamentalistischen Aktivismus sind spektakuläre Anschläge auf so genannte »Abtreibungsärzte« – die radikale religiöse Rechte führt einen eifernden postmodernen »Bürgerkrieg« auf dem Terrain von Moral und Kultur.
Durch die christliche Rechte wurden zahlreiche Kirchengemeinden zur politischen Arena und mancherorts fast zur No-Go-Area für Liberale. Ralph Reed, der ehemalige Geschäftsführer der Christian Coalition, zog eine hermetische Trennlinie zwischen Christen und Liberalen: »Wir haben den Vorteil, dass Liberale und Feministinnen gewöhnlich nicht zur Kirche gehen. Sie versammeln sich nicht drei Tage vor der Wahl am selben Ort«.Zit. n. Keneth Wald/Allison Callhoun-Brown, Religion and Politics in The United States. Lanham, Maryland 2007, 206, Übersetzung des Autors. Ein Satz, der zwar die vielfältigen »liberalen« christlichen Traditionen der afro-amerikanischen Communities verkennt, aber in Bezug auf das aktivierbare Milieu der christlichen Rechten innerhalb der evangelikalen Gemeinden dennoch wahr ist. In diesen Gruppierungen, die auch außerhalb der zahllosen Kirchen Präsenz zeigen, konserviert sich ein Bild von Amerika als von Gott erwählter Christian nation, als vom Sündenfall der »Libertinage« und des Säkularismus bedrohtes New Jerusalem. Ein Amerikabild, das seine Wirkung nicht nur auf die ebenso rechtgläubigen wie verarmten Rancher im bible belt im Mittleren Westen des Landes hat, sondern durch die Meinungsmacher von FOX TV bis USA Today auch die Weltanschauung der konservativen Klientel in den Metropolen bestimmt. Gerade die säkulare liberal tradition der USA und der wohlfahrtsstaatliche New Deal sind nach fundamentalistischer Lesart Ausdruck eines Abfalls vom gottbestimmten Weg.Eine pointierte aktuelle Einschätzung findet sich bei Albert Scharenberg, Comeback der »liberal tradition«? Die USA nach Bush, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 3 (2008), 53–61. Diese Lesart ist insbesondere im bible belt virulent, wo die Aktivität zum Beispiel in der Secular Coalition for America einer klandestinen Mitgliedschaft in der kommunistischen Partei der USA gleichkommt. Gerade die Politik des New Deal und die Institutionen des Wohlfahrtsstaats sind für die evangelikale Rechte in den USA Antipoden in der politischen Auseinandersetzung. Als Regulativ kapitalistischer Krisen hat der Sozialstaat durch seine Rechtsansprüche auf Grundversorgung eine aus patriarchalen Institutionen freisetzende Wirkung. Die Familie, das weltliche Heiligtum der religiösen Rechten, verliert partiell ihre Bedeutung, wenn staatlicher Paternalismus den materiellen Schutz durch die »natürliche« Sippe ersetzen kann. Hier liegt auch ein Schlüssel zum Verständnis der Allianzen zwischen der neoliberalen Politik Ronald Reagans und der christlichen Rechten. Die Zurückdrängung des Wohlfahrtsstaates, flankiert von Reagans Kampagnen gegen afro-amerikanische welfare queens, reaktiviert die politische Relevanz der Familie und der Gemeinden, in denen das Individuum »seinen« christlichen Weg findet. Der säkulare Sozialstaat dagegen bleibt ein Eindringling im Reich der Evangelikalen.
Doch bei aller Virulenz der christlichen Rechten in den USA bleiben ihre Erfolge bei der Erlangung kultureller Hegemonie mittels Graswurzelrevolution und Basisarbeit hinter den selbst gesteckten Zielen. Das Bild von den monolithischen, mehrheitlich von Erzkonservativen geprägten USA ist ebenso verführerisch wie einseitig. Als 2004 über den Anteil wertekonservativer Wähler aus den red statesEntlang der politischen Farbenlehre in den USA sind red states Staaten mit mehrheitlich republikanischen Anteil; blue states wiederum sind von demokratischer Dominanz geprägt. Hierzu und zur Politik der christlichen Rechten vor dem Wahlsieg von George W. Bush 2004 siehe Thomas Frank, Was ist mit Kansas los? Wie die Konservativen das Herz von Amerika eroberten, Berlin 2005. diskutiert wurde und weltweit ein Bild vom erzkonservativen Amerika gezeichnet wurde, setzte der Kolumnist der New York Times, Frank Rich, einen Kontrapunkt: On »Moral Values«, It 's Blue in a Landslide.Frank Rich, On »Moral Values«, It 's Blue on a Landslide, The New York Times, 14. November 2004. Rich variierte die Argumentation von Thomas Franks What 's the matter with Kansas?, einer profunden Analyse der christlichen Rechten im Rahmen der politischen Kultur der USA, und zeigt nüchtern auf, dass auch erzkonservative Medienmogule wie Rupert Murdoch (FOX TV) ihren finanziellen Gewinn ganz ordinär gemäß den Regeln von sex sells erzielen. Aktuelle Führungsfiguren der Republikanischen Partei wie John McCain, Arnold Schwarzenegger oder Rudy Guiliani entsprechen in ihren jeweiligen Positionen zu gay rights, Abtreibung oder Stammzellenforschung keineswegs den Zielvorgaben der evangelikalen Tugendwächter. Diese verorten deshalb den säkularen Feind auch in den eigenen Reihen.
The spirit of resistance
An der Front zwischen Säkularismus und Christian nation verlaufen die Linien, die die politische Kultur der USA prägen und den Kulturkampf zwischen liberals und value voters erklären. Für Thomas Jefferson, eine Ikone der Verfechter der Säkularisierung, war Religion ein Werkzeug der Tyrannei, die Grundlage für die Inquisition und Kreuzzüge in der Alten Welt. Die Bartholomäusnacht, das war Europa. Der Einfluss der Religion auf die Regierungsgeschäfte müsse verhindert werden – was sich jedoch nicht gegen den Glauben an sich richtet, der für das Individuum prägend bleiben solle. Selbst das von der französischen Erfahrung inspirierte Revolutionspathos Jeffersons kommt nicht ohne Bezug auf Gott aus: »Gott behüte uns davor, zwanzig Jahre ohne eine solche Rebellion auskommen zu müssen. […] Welche Nation kann schon ihre Freiheit bewahren, deren Führer nicht von Zeit zu Zeit daran erinnert werden, dass das Volk den Geist der Revolte nicht verloren hat?«Thomas Jefferson, Letter to William Smith, Paris, 13. November 1787, Übersetzung durch die Redaktion. Bereits der junge Marx zeigte sich in der Judenfrage fasziniert vom Verhältnis zwischen Religiosität, Staat und politischer Emanzipation in Nordamerika.Vgl. Karl Marx, Zur Judenfrage, Marx-Engels-Werke Bd. 1. Nichtsdestotrotz bleiben atheistische Traditionen in den USA marginalisiert. Auch die jüngst für mediale Furore sorgenden New Atheists um den Evolutionsbiologen Richard Dawkins, Autor des Bestsellers The God Delusion, blieben abgesehen vom Medienereignis eine relativ marginale gesellschaftspolitische Kraft. Andererseits: Selbst wenn die »neuen Atheisten« nur ein Medienereignis gewesen sein sollten, können sie in einer Mediengesellschaft eine relevante politische Kraft sein; etwa in der Bloggersphäre, wo die vehementen virtuellen cultural wars toben.
American Creed
Die Trennung von Staat und Kirche ist zudem die Voraussetzung für die spezifische US-amerikanische Zivilreligion. Im American Creed, dem politischen Glaubensbekenntnis der USA, wird die Verfassung zum quasi-religiösen Kanon.Vgl. zum American Creed Gunnar Myrdal, An American Dilemma. The Negro Problem and Modern Democracy. New York/London 1944. In diesem eklektischen Konglomerat aus dem politischen Denken Jeffersons, Abraham Lincolns Gettysburgh Adress und Schlüsselpassagen der amerikanischen Verfassung wird die Liebe zur Konstitution, zur Nation und ihren Machtsymbolen beschworen; der melting pot, der verschiedene ethnische Gruppen, Einwanderer und religiöse Glaubensbekenntnisse durch einen gemeinsamen Kanon stabilisiert, ebenso wie der demos – »we the people« – erst qua Verfassungstext zum politischen Subjekt ermächtigt wird. Eine Religion, eine Konfession oder eine Kirche hätte die (staatliche) Homogenisierung einer vielfältig fragmentierten Gesellschaft nur durch Gewalt durchsetzen können. Wenn heute europäische Kultursnobs die vermeintliche Unkultiviertheit der yankees verlachen, wird eine historische Voraussetzung übersehen: Die Verfassung der USA war eine Konsequenz aus dem »Naturzustand« in Europa. Dass der erste Verfassungszusatz von 1791 die Dominanz einer Konfession oder die staatliche Förderung einer Religion verbietet, bleibt eine historische Zivilisierung, die heute noch den – vom linken Antiamerikanismus ignorierten – progressiven Kern der USA prägt. »Der große Vorteil der Amerikaner besteht darin, dass sie die Demokratie erlangten, ohne eine demokratische Revolution durchmachen zu müssen, und dass sie als gleiche geboren sind, statt es erst zu werden«, schreibt Alexis de Tocqueville über die amerikanische Demokratie.Alexis de Tocqueville: Über die Demokratie in Amerika, Frankfurt am Main/Hamburg 1976 [1835]. Auch wenn Familiendynastien im Laufe der Geschichte in den USA den Charakter von Ersatz-Monarchien annahmen und noch die jüngere amerikanische Geschichte durchzogen ist von den sozialen und politischen Kämpfen jener Minoritäten, die nicht als Gleiche am öffentlichen Leben teilnehmen konnten (und können), begünstigte das Fehlen der überkommenen Hierarchien des alteuropäischen ancien regime eine historisch neuartige soziale Flexibilität. Der auf Eigentumsrechten und einem auf Abwehrrechten gegen den Staat basierenden, auf formaler (nicht sozialer!) Gleichheit vor dem Gesetz gründende Freiheitsbegriff ist ein Spezifikum des »American Exceptionalism« (S.M. Lipset). Diese Freiheit war auch eine Voraussetzung für die Freiheit der atemberaubenden wissenschaftlich-technischen Dynamik in den USA. Die Ungleichzeitigkeit und Disparität der unbändig-rasanten Entwicklung der Produktivkräfte nahm wenig Rücksicht auf die wissenschaftlich-analytische Durchdringung der auch technologisch neuen Welt durch die in ihrer überwältigenden Mehrheit von den Bildungsinstitutionen ferngehaltenen Massen. Nicht zuletzt daher rührt die irritierende Koexistenz von High-Tech, Nobelpreisen und trivialstem Aberglauben in den USA. Bis heute: Noch der spinnertste Verschwörungstheoretiker der religiösen Rechten kann im hinterwäldlerischsten Teil des bible belt via Web 2.0 seinen weltanschaulichen Trash verbreiten.
Aus der institutionalisierten Trennung von Offizialreligion und Volksglaube rührt die bis in die Gegenwart andauernde Spannung zwischen der säkularen und der religiösen, genauer: christlichen Tradition. Zur protestantischen Mehrheit mit ihren zahllosen Kirchen, Gemeinden und Sekten kommt als größte Einzelkirche mit über 62 Millionen Mitgliedern die römisch-katholische Kirche, die durch die Zunahme des Anteils der Hispanics aus Lateinamerika an der Gesamtbevölkerung beständig wächst und die evangelikale Rechte zunehmend als gesellschaftspolitische Kraft herausfordert. Antikatholische Ausfälle wie die des Rev. Hagee haben hier ihren »materiellen« Kern. Auch die Angehörigen der minoritären Religionen in den USA – Juden, Muslime, Hindus sowie die kaum überschaubaren freireligiösen Abspaltungen – prägen alleine schon mit ihren Zentren das architektonisch-öffentliche Leben und die Stadtbilder in den Staaten. Weil sie demographisch eine christliche Nation sind, sind die USA in ihrer politischen Kultur trotz säkularer Verfassungsgebung deshalb von zahllosen religiösen Traditionen durchzogen. Zum Beispiel trägt der auffällige Patriotismus im öffentlichen Leben der Vereinigten Staaten nicht nur die Züge einer Zivil-, sondern einer Ersatzreligion. Ist der amerikanische »Gott« der Verfassung ein konfessionsloser Nathan der Weise, gleicht der öffentliche Schwur auf die Werte der Nation einem säkularen Gottesdienst. Selbst die radikalsten Gegner Amerikas nehmen vor Ort Maß an den qua Verfassung verbrieften »amerikanischen« Werten; eine sozialistische oder »befreiungsnationalistische« Systemkritik von außen blieb immer auf historische bzw. regionale Episoden beschränkt. Stets reagieren linke Amerikareisende aus Europa irritiert, wenn auf Antikriegsdemonstrationen wie selbstverständlich die Nationalhymne geschmettert wird oder US-Progressive mit patriotischer Emphase Stars & Stripes schwenken. Amerika bleibt der projektiv aufgeladene Sehnsuchtsort auch der Majorität der Kritiker des dominanten American Way of Life. God damn America! – und helfe uns, ein besseres zu schaffen, bleibt das Credo selbst radikaler Gesellschaftskritiker in den USA. Der Amerikaglaube hat eine eigene Dialektik: Der Rekurs auf das »wahre« Amerika wird zur Munition gegen den politischen Gegner im Land, zur Hetze gegen die »unamerikanischen« Aktivitäten politischer Minoritäten. Amerika bleibt Sehnsuchtsort für Progressive und Reaktionäre zugleich; ein fiktiver Ort, der im liberalen Massenbewusstsein nicht selten reale Klassenwidersprüche überformt und die Geschichten der Unterdrückung überlagert.
Die religiöse Rechte 2008
Die religiöse Rechte befindet sich 2008 als wahlpolitischer Block in der Defensive. Der republikanische Kandidat John McCain ist für das evangelikale Lager in den harten konservativen Themen zu wenig konturiert, um tatsächlich an die Erfolge von George W. Bush anknüpfen zu können. Bei den Führungsfiguren der christlichen Rechten steht ein Generationenwechsel bevor. Pat Robertson und James Dobson sind beide über siebzig Jahre alt und der Nachwuchs verfügt (noch) nicht über die mediale Bekanntheit und interne Akzeptanz. Rev. Robertson hatte während der Vorwahlen wegen dessen vermeintlichen Erfolgsaussichten gegen Hillary Clinton auf den ehemaligen New Yorker Bürgermeister Rudy Guliani gesetzt. Dieser scheiterte jedoch deutlich. Der demokratische Kandidat Barack Obama knüpft da an, wo zuletzt Jimmy Carter erfolgreich war. Sein Versuch, evangelikale Wähler an die demokratische Partei zu binden, zielt unter dem Label The Joshua-Generation Project auf Erfolge bei religiösen – evangelikalen und katholischen – Jungwählern. Diese haben die klassische Agenda der value voters erweitert und stellen Themen wie Klimaerwärmung, den Irakkrieg oder die Armut der working poor in den Mittelpunkt. Gegenwärtig machen sich interne Kritiker der religiösen Rechten bemerkbar und formulieren Gegentendenzen, wie zum Beispiel die Verfasser des Evangelical Manifesto; ein Weckruf von Protestanten, die sich – bei aller Nähe zur traditionellen Theologie der Evangelikalen – aus der Umklammerung des politischen Fundamentalismus der Erbfolger Falwells lösen wollen.http://www.evangelicalmanifesto.com. Der explizit parteipolitisch orientierte Flügel der religiösen Rechten war in den Jahren der Ära Bush jr. primär rhetorisch in der Offensive. Gemessen an den Maximalforderungen der Evangelikalen bleibt die realpolitische Umsetzung ihrer Forderungen in der Ära Bush eher eine Enttäuschung. Dass Bushs Nachfolger McCain ein säkularer Konservativer ist, paralysiert die christliche Rechte als aktiven Part innerhalb der Republikanischen Partei. Breitenwirkung erzielt die demokratische Konkurrenz: 2008 verkörpert Obama die säkulare Tradition und das biblische »Prinzip Hoffnung«, die Symbiose aus liberaler Tradition und religiöser Rhetorik.
Innerhalb der GOP in die Defensive gerückt, wird die religiöse Rechte – wie in den Clinton-Jahren – ihre Lobbyarbeit verstärken und den Generationenwechsel vollziehen. Als politische Kraft wird sie nicht verschwinden; ihre Defensive ist primär Konsequenz der internen Verschiebungen innerhalb der GOP und einer gesellschaftlichen Realität, die zu pluralistisch und dynamisch ist, um alleine von der religiösen Rechten bestimmt zu werden. Ihr – regional unterschiedlich ausgeprägtes – Wirkungsfeld wird der vorpolitische Raum, ihr Erkennungsmerkmal eine reaktionäre Variante der Politik des Kulturellen. Ihre Spezialität sind antiliberale Neuauflagen des gegen die darwinsche Lehre gerichteten »Affenprozesses« der zwanziger Jahre, jener modernen Uraufführung der wider die Säkularisierung gerichteten Gegenaufklärung. Was folgen wird, ist ein altertümlicher Reigen, der an die Kulturkämpfe Mitte der Neunziger gemahnt; jener Phase des demokratischen Clinton-Interregnums während der langen Welle der Reagan Years 1981 bis 2000Der Historiker Sean Wilentz hatte die originelle Idee, die Reagan-Ära sogar bis 2008 zu datieren: Sean Wilentz, The Age of Reagan: A History 1974-2008, New York 2008. Seit 1994 führte der »konservative Revolutionär« Newt Gingrich die republikanische Kongressmehrheit gegen Bill Clinton an. Gingrich war einer der Wortführer in der Tradition Reagans, die den Einfluss konservativer Positionen auch während der demokratischen Präsidentschaft sicherten. – als schließlich der »wiedergeborene« George W. Bush die politischen Bodentruppen für den Kampf gegen die Vorboten des Armageddon sammelte.
RICHARD GEBHARDT
Der Autor ist Politikwissenschaftler in Aachen und Herausgeber des Sammelbands Rosen auf den Weg gestreut. Deutschland und seine Neonazis, Köln 2007.