Jenseits der Feuerwehr

Sexismusdebatten beherrscht vor allem das diffuse Verständnis von Sexualität, sexualisierender Gewalt und Gewalt in heterosexueller Sexualität

Der Titel »Jenseits der Feuerwehr« spielt darauf an, dass eine Auseinandersetzung mit sexualisierender Gewalt in linken Zusammenhängen größtenteils erst nach heterosexistischen Vorfällen geführt wird. Übergriffe, verbale Diskriminierungen oder anderes haben bereits stattgefunden und Diskussionen sollen dann im besten Falle den Schaden reparieren. Oft verschlimmern diese sogenannten Sexismusdebatten die Situation der Betroffenen durch unangemessene Reaktionen und Interpretationen. Die Perspektive des Täters wird eingenommen, die Tat bagatellisiert oder dem Opfer sogar provozierendes Verhalten unterstellt und damit die Schuld für den Übergriff zugeschrieben. Dieser Beitrag geht stattdessen davon aus, dass sexualisierende Gewalt Normalität ist und Sexismusdiskussionen nur die Spitze des Eisberges thematisieren und erfassen. Auseinandersetzungen sollten anhaltend sein, dadurch zu einer allgemeinen Sensibilisierung beitragen und nicht erst dann geführt werden, wenn wieder ein Übergriff, eine Vergewaltigung oder anderes »bekannt geworden« ist.

Differenzierte Thematisierungen von sexualisierender Gewalt werden in radikallinken Auseinandersetzungen, Foren oder Gruppen immer noch bzw. wieder durch ein implizites oder direktes Hauptwiderspruchsdenken verhindert. Die Wirkungs- und Funktionsweisen spezifischer gesellschaftlicher Strategien sexualisierender, rassifizierender, gerontophober oder anderer Herrschafts- und Machtverhältnisse werden dann als »Triple-Oppression«-Ansatz(1) und zu wenig radikal – weil nicht direkt aus dem Widerspruch des Verhältnisses von Arbeit und Kapital abgeleitet – abgetan. Eine Zeitung wie die Phase2 spiegelt diese inhaltliche Gewichtung und Wertung, entsprechend derer sich letztendlich auch Wahrnehmungen strukturieren und daraus Sensibilisierungen bilden können, in ihrem bisherigen Aufbau wieder.(2) Dennoch kann eine Kapitalismuskritik, die eine Analyse von Unterdrükkungsverhältnissen wie sexualisierender Gewalt als sekundär abtut, deren spezifische Mechanismen meist nicht erfassen und angemessen thematisieren.
 

Hat sexuelle Belästigung mit Sexualität zu tun?

Sexuelle Belästigung als Ausdruck von Herrschaftsverhältnissen zu verstehen, ist in linken Zusammenhängen ein nicht völlig unbekannter Zugang zur Realität. Im besten Fall ist diese Einordnung selbstverständlich. Dennoch folgt nach dieser Feststellung oftmals die Gegenfrage, ob denn überhaupt davon ausgegangen werden könne, dass das Leben von Sexualität frei von Herrschaftsverhältnissen, also außerhalb oder jenseits dieser stattfinden könne. Meist ist hier die »erotische« Heterosexualität gemeint. Heterosexualität, so der Gegenstandpunkt, sei per se schon immer durchzogen von Hegemonien oder Dominanzen. Die Annahme einer herrschaftsfreien Sexualität sei utopisch und somit nicht forderbar. Diese Reaktion ist symptomatisch dafür, dass ein bestimmtes »erotisches« Verständnis von Sexualität und sexualisierender Gewalt zusammengedacht und vermischt wird. Als Einwand innerhalb von Thematisierungen von sexualisierender Gewalt ist sie irreführend und problematisch. Diskussionen über sexuelle Belästigung als Herstellung eines Herrschaftsverhältnisses und die Frage der Verstrickung von »erotischer« Sexualität und Gewalt sollten strikt voneinander getrennt werden, da beide nichts miteinander zu tun haben und völlig unterschiedliche Bereiche von Sexualität betreffen. Doch was genau ist mit den bereits verwendeten Begriffen wie Sexualität oder erotische Sexualität gemeint und vor allem: Was bedeutet das für die Frage von sexueller Belästigung?

Einem weit verbreiteten Alltagsverständnis von sexueller Belästigung liegt ein Denken zugrunde, das Sexualität auf »erotische« Handlungen mit dem Ziel des Geschlechtsverkehrs zwischen den Geschlechtern »Mann« und »Frau« beschränkt. Um jedoch sexuelle Belästigung als sexualisierende Gewalt erfassen zu können, ist ein anderes Denken von Sexualität notwendig. Sexualität umfasst nach dem hier favorisierten Verständnis nicht nur sexuelle Handlungen in Form von Sex(3), sondern wird – und das ist eigentlich das Wesentliche – als ein ganzes Set gesellschaftlicher Vorschriften und Möglichkeiten begriffen. Diese sind durch soziale Praktiken gesellschaftlich vermittelt und machen aus Personen »sexuierte« oder »sexualisierte« Menschen. Sie führen dazu, dass wir entweder als »Frau« oder »Mann« »erkannt« und angesprochen werden. Zwei Aspekte an diesem Verständnis von Sexualität sind für die nachfolgenden Erläuterungen wichtig und verdienen der Hervorhebung: Sexualität umfasst im Gegensatz zum Allgemeinverständnis(4) nicht nur den Geschlechtsakt zwischen einem Mann und einer Frau oder das darauf gerichtete Verhalten, sondern meint den gesamten gesellschaftlichen Vorgang der Vergeschlechtlichung von Personen. Der zweite wichtige Aspekt im Zusammenhang mit Sexualität ist das produktive Moment. Die Produktion von Sexualität findet nach diesem Denken nicht nur bei »konkreten sexuellen Handlungen« wie dem »Aufdrängen von Küssen« oder dem »Erzwingen sexueller Handlungen« statt. Sexualität wird ebenfalls hergestellt, wenn das breite Einnehmen öffentlichen Raums einer Frau in der U-Bahn durch eine Aussage wie »Das ist ja ein Mann-Weib!« kommentiert wird. Dadurch werden Attribute einer Person als sexuelle definiert und ihrem Geschlecht zugeschrieben.

 

Sexuelle Belästigung als Akt innerhalb der heterosexuellen Matrix

Dieses Beispiel macht deutlich, dass sexuelle Belästigung eine Handlung innerhalb eines komplexen Geschlechtergefüges ist und deshalb hinsichtlich einer heterosexuellen Matrix gedacht werden sollte. Das bedeutet jedoch nicht, dass der Akt sexueller Belästigung und die heterosexuelle Matrix ein und dasselbe sind.

Was ist dann unter heterosexueller Matrix zu verstehen? Wie wird sexuelle Belästigung zu dem Begriff heterosexuelle Matrix in Beziehung gesetzt und welche Vorteile bietet das gegenüber anderen Konzeptionalisierungen von sexualisierender Gewalt?

Der Begriff Matrix verweist auf die Existenz einer gesellschaftlichen Folie, die jene Wahrnehmungen und Handlungen steuert und reguliert, die Geschlecht herstellen. Eine heterosexualisierende Matrix ist jedoch nicht etwas, das abstrakt, eigenständig und unabhängig existiert (sozusagen eine gottähnliche Existenz innehätte), sondern erlangt Materialität nur durch permanente Wiederholungen und Aktualisierungen in Form sozialer Handlungen.(5)

Sexuelle Belästigung vor dem Hintergrund einer heterosexualisierenden Matrix zu denken,(6) ist hilfreich. So legt zum Beispiel ein Terminus wie Patriarchat, der von Feministinnen der siebziger Jahre geprägt wurde, nahe, dass sich Geschlecht in der Dominanz von Männern über Frauen äußert. Angesprochen wird eine Vorstellung, in der sich die Herstellung von Geschlecht bzw. von unterworfener Weiblichkeit durch die direkte Konfrontation mit einem Mann oder einer Gruppe von Männern vollzieht. Vorgänge von Sexualisierung dagegen als ein komplexes Gefüge und einen vielfältigen Prozess zu verstehen, bietet den Vorteil, auch weitere, subtilere Prozesse, in denen Heterosexualitäten hergestellt werden, erfassen, denken und problematisieren zu können. So ist eine heterosexualisierende Matrix auch dann regulierend wirksam und hat Effekte, wenn gar keine Männer anwesend sind und Sexismus scheinbar gar nicht praktiziert wird. In den Fokus der Kritik gelangen dann sexualisierende Handlungen, die auf den ersten Blick gar nicht als sexuelle Belästigung etikettiert wurden. Das Augenmerk wird so auf die betriebliche Wirklichkeit und jegliche darüber hinausgehende Form des Arbeitsalltages(7) gelenkt, in denen nicht nur das »Busengrapschen« eines männlichen Beschäftigten gegen eine Kollegin als sexuelle Belästigung definiert wird, sondern auch die vielen subtilen Vorgänge sexualisierender Gewalt. Sexuell belästigend wirkt dann auch das Verhalten innerhalb linker Männergruppen, in denen durch Bemerkungen, Gesten oder anderes ein heterosexistisches Klima – sei es während Arbeitstreffen, sei es auf Partys – hergestellt wird. Die ausschließenden Effekte unterscheiden sich dann nicht mehr von Männerstammtischen. Abwertungen und Ausschluss durch andauernde Sexismen, die den Alltag unerträglich machen und den größten Anteil an sexualisierenden Handlungen bilden, fallen dann ebenfalls unter die Bezeichnung Belästigung, ohne dass es zu persönlichen, direkten oder schwerwiegenden Übergriffen kommt. Zudem wird mit Bezug auf eine heterosexualisierende Matrix, die heterosexualisierende Bewegung in diesen Akten sichtbar. Sexuelle Belästigung ist dann kein geschlechtsneutrales Vorkommnis, das Menschen ungeachtet ihres Geschlechtes gleichermaßen trifft, sondern setzt im hierarchischen und heteronormativen Geschlechtergefüge an unterschiedlichen Stellen regulierend an und stellt gleichsam unterschiedliche soziale geschlechtlich markierte Positionen her. Sexuelle Belästigung ist sexualisierende Gewalt, die Frauen »aufgrund ihres Frauseins« trifft, homosexuelle Männer und lesbische Frauen aufgrund ihrer Abweichung von hegemonialen Männlichkeits- und Weiblichkeitsidealen und Transsexuelle aufgrund ihrer Unterwanderung dieser binären Ordnung.

Wenn aber sexuelle Belästigung als Akt der Zuweisung eines untergeordneten Platzes in der heterosexuellen Matrix gedacht wird, bedeutet dann jede Verortung durch sexualisierende Ansprache Belästigung? Welche Handlungen sind belästigend und welche nicht?

Bereits die Art der Fragestellungen ist problematisch und wenig weiterführend. Gefordert wird implizit, Handlungen als sexuell belästigend festzulegen und zu identifizieren. Die Folge müsste eine Politik sein, die eine Liste von Handlungen aufstellt, die zu verbieten und zu eliminieren wären. Das wäre der optimale Fall, denn dann würden wir in kürzester Zeit in einer von Sexismus befreiten und geschlechtslosen Welt leben. Doch Praktiken sind nicht an sich emanzipatorisch oder antiemanzipatorisch,(8) sondern müssen in ihrem Funktionszusammenhang und Stellenwert hinsichtlich eines größeren gesellschaftlich-kapitalistischen Gefüges gesehen werden. Bestimmte sexualisierende Handlungen müssten dann in einer Analyse- und Theoriepraxis nicht danach befragt werden, was sind sie – nämlich per se sexuelle Belästigung oder nicht – sondern wie sie funktionieren und welche Effekte sie haben.

 

Queeres Begehren und sexualisierende Gewalt im hippen Differenzkapitalismus

Doch mit der Feststellung, dass »Was-Fragen« nach Kriterien zur Beurteilung von Handlungen sexueller Belästigung nicht weiterführen und lediglich die Problematisierung von sexualisierender Gewalt auf einer anderen Ebene wiederspiegeln, ist es nicht getan. Wann ist ein Akt der Verortung in der heterosexuellen Matrix sexuelle Belästigung und ist nicht das offensive Zurschaustellen queeren Begehrens selbst schon differenzkapitalistische Praxis und schon lange kein Zeichen mehr für diskriminierende Unterordnung?

Handelt es sich um einen Akt der Unterordnung in der heterosexuellen Matrix, wenn zum Beispiel eine Frau in einem hippen Call Center mit ihrem auf »das gleiche Geschlecht« gerichteten Begehrens kokettiert, in der betrieblichen Hierarchie und dem Arbeitsalltag dadurch Vorteile genießt und über die eigenen »Selbstverortungen« hinaus auch »Fremdverortungen« des Umfeldes begrüßt? Welchen Gewinn bringt in diesem Szenario noch die Konzeptionalisierung der Handlung sexuelle Belästigung im Hinblick auf eine heterosexuelle Matrix?

Zwar wird deutlich, dass der Bezug zur heterosexualisierenden Norm und hierarchisch-strukturierenden Matrix auch hier vorhanden ist und in die Wahrnehmung hineinspielt bzw. diese dominiert. Die Selbstbezeichnung und die Aufforderung zur Verortung funktionieren im »queeren« hippen Call Center jedoch nicht als sexuelle Belästigung. Männliche Heterosexualität bildet an diesem Ort nicht (mehr) die Norm und das »Label« Lesbe fungiert hier nicht in Relation dazu als etwas Abweichendem. Die Frau wird nicht privatisierend diskriminiert, indem ihre sexuelle Praxis als Wesensmerkmal festgeschrieben wird und sie dadurch Ausschlüsse und Benachteiligungen fürchten muss. Das Arbeitsumfeld ist nicht feindselig und heterosexistisch.

Dennoch sind die Praxen kritikwürdig, da sie nicht mehr der Überschreitung und dem Angriff von hegemonialen Herrschaftsregimes dienen. Stattdessen geht es um die Selbstvergewisserung der eigenen hippen queeren Identität. Queere Praxen haben sich an diesem Ort selbst zu einem positiven Attribut der sozialen Ordnung im kapitalistischen Gefügen entwickelt. Sie sind in das Herrschaftsprojekt Kapitalismus eingebunden und zu einem Distinktionsmerkmal geworden. Ehemals subversive Begehrenspraxen sind in diesem Szenario so gewendet, dass sie an Produktionsregime gekoppelt sind und somit erneut Herrschaftszwecken dienen. Disziplinierende Praktiken sind in diesem Umfeld zwar dem Ziel entwendet, die Frau als Lesbe auf ihre in Relation zur Heteronormativität abweichende Identität festzuschreiben, dadurch wird ihr weder ein untergeordneter sozialer Platz zugeordnet noch als Folge Ressourcen, Anerkennung oder anderes vorenthalten. Dennoch ist die Praxis nicht emanzipatorisch.

Das beschriebene Beispiel dient dazu, aktuelle Transformationen des kapitalistischen Gefüges und entsprechende Selbstverhältnisse sichtbar zu machen und zu diskutieren. Doch wäre es politisch schwierig, diese Wendung queerer zu herrschaftsförmigen differenzkapitalistischen Praktiken als Beispiel für eine kapitalistische Totalität zu verstehen. Daraus verallgemeinernd zu schließen, dass Homophobie und Zwangsheterosexualität abgeschafft sind und es mittlerweile angesagt und hip ist, mit dem eigenen queeren Begehren zu kokettieren, ordnet sich wohl eher in eine Backlashstrategie ein. Denn Heterosexualität und Heteronormativität existieren nicht bloß auf der ideologischen, diskursiven oder kulturellen Ebene, sondern stellen, ein herrschendes Ordnungsmuster und einen regulativen Apparat dar, »der die Organisation des sozialen Lebens in kapitalistischen Gesellschaften mit anderen sozialen Verhältnissen (Ethnisierung, Rassismus, Sexismus) verkoppelt«.(9) In diesem Sinne ist auch hier wieder zu fragen, wer die Kritik äußert. Dient sie der Feststellung bestimmter Transformationsprozesse des sozialen kapitalistischen Gefüges und der Begehrens-, Identitäts- und Subjektivierungsökonomien oder ist sie dazu da, sich der eigenen heterosexuellen Radikalität zu versichern, die betont, dass es eigentlich um Kapitalismuskritik und die Widersprüche im Verhältnis von Kapital und Arbeit geht? Die Leidenschaft, mit der sich KritikerInnen an Repräsentationen von Schwulen und Lesben in der Werbung oder am Auftreten des schwulen Managers, der in seinem direkten Arbeitsumfeld nicht diskriminiert wird, abarbeiten, ist dann ein Zeichen für die noch immer vorhandene Wirkmächtigkeit heterosexueller Normen. Mit einer emanzipatorischen Kritik an sozialen Unterdrückungsverhältnissen hat dies nichts zu tun.

 

Geständnistiere und sexualisierende Gewalt

Eine Argumentation in Diskussionen über sexualisierende Gewalt, die sich auf geschlechtliche Körper als Basis bezieht, ist bereits an vielen Stellen als benachteiligende Strategie für Frauen – zum Beispiel in Form des männlichen Triebtätermodells – entlarvt und angegriffen worden.(10) Zwar zirkuliert diese Vorstellung auch in linken Zusammenhängen noch immer, um sexuelle Gewalt zu legitimieren, interessanter ist an dieser Stelle jedoch die Auseinandersetzung mit kulturalistischen Argumentationen. Damit ist ein Verständnis von sexualisierender Gewalt gemeint, das sich auf »kulturell geprägte Begehrensstrukturen« beruft. Männliche Heterosexualität, die gern Grenzen überschreitet und sich in hegemonialen männlichen Codes bewegt, wird dann nicht mehr durch Verweis auf einen unberechenbaren und unzähmbaren Sexualtrieb legitimiert, sondern durch die Berufung auf die gesellschaftliche Sozialisation. An die Stelle des natürlichen Sexualtriebes tritt dann die kulturelle Prägung. Statt Natur oder Anatomie wird die Kultur oder unsere derzeitige Konstituiertheit als sexuelle Wesen zum Schicksal erklärt. Es geht hier nicht darum, denjenigen in den Rücken zu fallen, die geronnene relativ stabile männliche Identitäten und Verhaltensweisen feststellen und kritisieren. Dies wird noch immer viel zu selten getan. Es gibt jedoch einen Unterschied zwischen der Feststellung und Markierung von hegemonialen geschlechtlichen Selbstverhältnissen, um diese zu verändern, und der Beschwörung und erneuten Bennennung derselben mit dem Ziel der Selbstvergewisserung. In selbstvergewissernden Darstellungen wird immer wieder betont, dass wir nun mal zu Männern und Frauen gemacht wurden, dass auch linke Frauen eigentlich immer noch auf aktive Männer stehen und dass es sehr, sehr schwer sei, diese Begehrensökonomien überhaupt zu verändern. Argumentation und Selbstkonzeptionen dieser Art schreiben Identitäten immer wieder aufs neue durch die Betonung fest. Dem liegt die Idee zugrunde, dass wir nun mal durch unsere Sozialisation ein für alle Mal geprägt und in unserem Begehren und Gefühlsökonomien festgeschrieben sind. Sozialisation erscheint in diesem Szenario wie das übergeordnete alles dominierende Prinzip, das man im günstigsten Fall bedauernd benennen kann. Verändern lässt sich diese wesenhafte Kraft jedoch kaum oder nur unter sehr anstrengenden und zermürbenden Kämpfen. Zu fragen ist jedoch nach dem politischen Einsatz und dem emanzipatorischem Gehalt dieses Argumentes. Wer betont immer wieder aufs neue die derzeitigen »konstruierten« jedoch unbedingt vorhandenen Begehrensstrukturen? Warum ist es so wichtig, immer wieder zu beteuern, ausführlich zu beschreiben und zu gestehen, wie wir derzeitig konstituiert sind? Diese vor allem in »linken« gemischtgeschlechtlichen Zusammenhängen zirkulierenden Erzählungen dienen vorwiegend dem Gewinn des männlichen heterosexuell-lebenden Sprechers.(11) Der Vorteil besteht darin, sich selbst seiner zwar problematischen jedoch aufgrund der eigenen Geschichte so gewordenen Begehrensökonomie zu versichern. Grenzüberschreitungen und Übergriffe können dann durch Verweis auf die eigene männliche Sozialisation zum Beispiel als ausgeprägtes Bedürfnis nach körperlicher Zuneigung beschönigt und als kulturelles Schicksal des eigenen Begehrens beschworen werden. Diese Erzählungen der eigenen Begehrensbiografie nehmen dann so absurde Formen an, wie die eigenen Phantasien zu plausibilisieren, indem die ersten sexuellen Begegnungen oder die fehlende körperliche Zuneigung durch die Mutter als Ursprung dargestellt werden. Begehren ist jedoch nichts, was in der Kindheit geprägt wird und dann ein für allemal feststeht. Begehren ist eine Struktur, die permanent hergestellt, benannt und praktiziert werden muss, um Existenz zu erhalten. Veränderung entsteht durch Veränderung des Verhaltens und nicht, indem man sich zu einem Geständnistier macht. Gestanden wird auch meistens dem weiblichen Gegenüber, wodurch ein Feld von Verhaltensmöglichkeiten erst geschaffen und Beziehungen selbst strukturiert werden. Zum einen betont dies eine Determinierung unserer derzeitigen gelebten Realität durch unsere Vergangenheit. Zum anderen riskieren diese Positionierungen nichts mehr, sondern wiederholen le-diglich eine weit verbreitete Standardformel, die meist auf wenig Widerstand trifft und Sicherheit im Bezug auf eigene Selbstbilder schafft.

 

 

Fußnoten:

(1) Den »Triple-Oppression«-Ansatz verstehen seine KritikerInnen meist als eine Konzeption, die verschiedene Unterdrückungsverhältnisse gleichwertig und parallel nebeneinander stellt.

(2) Damit wird nicht entsprechend eines kausalen Verhältnisses angenommen, dass allein durch das Abdrucken von Artikeln die Leserschaft »aufgeklärt« und notwendigerweise für bestimmte Themen sensibilisiert wird. Das Verhältnis zwischen Texten und LeserInnen ist komplexer.

(3) Hier ist das deutsche Wort Sex gemeint, das im Gegensatz zum englischen »sex« und französischen »sexe« auf das betont Lustvolle abhebt und im allgemeinen engen Verständnis sexuelle Handlungen zwischen »Männern« und »Frauen« beschreibt (Küssen, Geschlechtsverkehr u.a.). Vgl. Michel Foucault, Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, Frankfurt/Main 1983, S. 14.

(4) Unter »Allgemeinverständnis« wird entsprechend den bisherigen Ausführungen zum Beispiel auch die Definition von Sexualität in »Meyers Grosses Taschenlexikon« gefasst. Dort steht: »das auf die Befriedigung der sexuellen Bedürfnisse und die geschlechtl. Vereinigung (Geschlechtsverkehr) gerichtete Verhalten (Geschlechtstrieb) beim Menschen und bei Tieren.«

(5) Zwischen dieser Art von Matrix und den entsprechenden Praktiken gibt es eine Gleichursprünglichkeit. Vorstellungen von Geschlecht verändern sich nicht unabhängig von Praktiken der Vergeschlechtlichung, sondern nur in ihnen und durch sie. Das

gleiche gilt umgekehrt.

(6) Sexuelle Belästigung soll im Zusammenhang mit dem Begriff Matrix gedacht werden. Dies heißt nicht, dass beide dasselbe sind oder eine Identität bilden.

(7) Hier sind Arbeitsverhältnisse gemeint, die nicht entlohnt werden.

(8) So können Sprech-Akte und andere Akte sexualisierender Gewalt scheitern bzw. keine Verletzung oder tatsächliche Sexualisierung der AdressatInnen nach sich ziehen. Das Band zwischen Akt und Verletzung ist brüchig und eröffnet dadurch die Möglichkeit des Gegensprechens oder – handelns. Vgl. dazu die Hate-Speech-Debatte und die Diskussion möglicher Formen von Widerstand. Z.B. Judith Butler, Hass Spricht, Berlin 1998.

(9) Katharina Pühl, Queere Politiken im Neoliberalismus?, in: arranca 26 (2003), S. 21-26.

(10) Ruth Seifert, Krieg und Vergewaltigung. Ansätze zu einer Analyse, in: Fenske (Hrsg.), Geschichte der politischen Ideen von der Antike bis zur Gegenwart, Frankfurt a.M. 1999.

(11) Frauen äußern diese Argumente auch. Meine persönliche Einschätzung ist jedoch, dass Frauen aufgrund eines anderen Erfahrungshintergrundes und ihrer Verortung in der Hierarchie, eher die Veränderbarkeit und Prozesshaftigkeit von Selbstverhältnissen betonen. Wie dies in queeren Zusammenhängen aussieht, kann ich nicht einschätzen.

Ute Kalender
Die Autorin gehört zu KRAC, einem Arbeits- und Diskussionszusammenhang aus Berlin