Jenseits von Eden

Was folgt aus 20 Jahren Kapitalismus nach der Wiedervereinigung?

Es gab einmal eine Zeit, in der Kapitalismus in Deutschland ein Versprechen bedeutete: Die »Marktwirtschaft« werde für alle mehr Konsum, weniger Arbeit, mehr »Sicherheit«, mehr Bildung und deshalb auch mehr »Chancen« bringen. Es ist vielleicht das augenfälligste Kennzeichen des deutschen Kapitalismus der letzten 20 Jahre, dass er inzwischen völlig ohne diese Verheißung auskommen muss. Das bedeutet nicht, dass die BRD zu Zeiten des späten Adenauer und frühen Brandt wirklich ein ArbeiterInnenparadies gewesen wäre, doch sowohl für das Herrschaftspersonal im Sinne der zur Verfügung stehenden Instrumente (Verteilung von Reichtum) als auch für die im Kapitalismus Lebenden (Hoffnungen, reale materielle Situation) ist der Unterschied nach Jahrzehnten voller »Deregulierung« und »Sozialabbau« fundamental.

In der linken Beurteilung dieser 20 Jahre werden ganz unterschiedliche Motive erkennbar. LinkskeynesianerInnen verweisen es gerne in den Bereich neoliberaler Propaganda, wenn KapitalvertreterInnen und bürgerliche PolitikerInnen die Standortkonkurrenz ins Feld führen, um Kürzungen bei Sozialleistungen und Löhnen zu rechtfertigen und weitere zu fordern. Diese Reformlinken sehen in Rezessionen immer nur ein Argument dafür, dass angebotsorientierte PolitikAlso Politik, die die Kosten für die »Angebotsseite« der Ökonomie vermindert, in erster Linie für das Kapital. nicht funktioniert – sie selbst aber Kapitalismus viel besser machen könnten. Und die radikale Linke sieht in der Krise die Möglichkeit aufscheinen, dass die eigene Ohnmacht vielleicht doch nicht ewig währt. Die meisten Menschen halten es ja normalerweise nicht für angebracht, Kapitalismus in Frage zu stellen. Muss man da nicht als Linksradikale/r der Krise die Daumen drücken? Weil sie die »Widersprüche« des Kapitalismus so augenfällig macht, dass zur nächsten Demo vielleicht doch mal 50.000 kommen, statt der sonst üblichen 500?

Deutschland Anfang der Neunziger:

Wieder mal Krise

Krisenphasen sind so alt wie der Kapitalismus selbst. Es sind (auf allerdings schwacher empirischer und theoretischer Basis) »lange Wellen« der Kapitalverwertung mit gut 50 Jahren Dauer zu beobachten und kürzere Zyklen, die etwa alle acht Jahre einen Konjunkturtiefpunkt setzen. Ist Krise also einerseits kapitalistische Normalität, so hat sich andererseits die Intensität der Einbrüche seit Mitte der siebziger Jahre verschärft. Nach 1945 gab es sechs Jahre, in denen das deutsche Bruttoinlandsprodukt (BIP), also die Gesamtsumme der produzierten Güter, geschrumpft ist. Und von diesen sechs Jahren liegen fünf hinter der Wendemarke der siebziger Jahre (außer 1966 waren das 1975, 1981, 1992, 2002 und 2009). Die Krisenhaftigkeit des Kapitalismus hat sich zumindest graduell verändert in dieser Zeit. Wenn also Linke knapp 390.000 Google-Ergebnisse zu dem Stichwort »Krise des Kapitalismus« fabriziert haben, dann können sie für diese These erstmal empirische Belege anführen.

Die Konjunkturzyklen in Deutschland decken sich zeitlich halbwegs mit der Entwicklung des Welt-Bruttoinlandprodukts, wenn auch weltweit nie eine Abnahme zu verzeichnen war, sondern bloß eine starke Verringerung des Zuwachses. Insgesamt hat sich das deutsche BIP seit Mitte der siebziger Jahre andererseits verdoppelt. Oder: Das Kapital in Deutschland hat sich verwertet, insgesamt. Zufriedenstellend im internationalen Vergleich war das trotzdem nicht. Das Wachstum in Deutschland lag abgesehen von den beiden Jahren nach der Wiedervereinigung immer deutlich unter dem OECD-Schnitt. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) hat zur Zeit 33 Mitglieder; ausnahmslos entwickelte kapitalistische Länder. In den Siebzigern hatte das BIP in Deutschland pro Jahr noch etwa drei Prozent zugenommen, in den 20 Jahren danach war der Zuwachs im Durchschnitt niedriger. Auch die Nettoumsatzrendite, das Verhältnis von Gewinn zu Umsatz der Kapitale in Deutschland, nahm mit nur leichten Schwankungen von 1970 bis Anfang der neunziger Jahre ab. Die Staatsausgabenquote, der Anteil der (unproduktiven) Staatsausgaben an der Gesamtwirtschaftsleistung, hatte 1980 schon einen Höchststand erreicht, wurde in den ersten Kohl-Jahren durch Kürzungen aller Art reduziert – nahm aber in Folge der Vereinigung Anfang der neunziger Jahre stark zu. Bei den Unternehmenspleiten hatte es schon Anfang der achtziger Jahre eine Steigerung gegeben, aber zwischen 1990 und 1992 verdoppelte sich ihre Zahl (in den alten Bundesländern) nochmal annähernd.

Zusammengefasst: War der Einbruch Mitte der siebziger Jahre ein globales Problem, so wuchs bei PolitikerInnen und KapitalvertreterInnen in Deutschland gegen Mitte der neunziger Jahre der Eindruck, dass der Kapitalismus hier nicht nur verglichen mit dem langfristigen Trend schlecht abschneide, sondern auch verglichen mit anderen kapitalistischen Ländern, z.B. mit Großbritannien, wo Thatcher bereits einige Jahre zuvor die Gewerkschaften entmachtet und die Renditen nachhaltig vergrößert hatte.

Fördern und Fordern

Die in den folgenden Jahren verfolgten Strategien, um an diesem Zustand etwas zu ändern, haben zumindest eins gemeinsam: Senkung der Arbeitskosten. Bei den Löhnen konnte das Kapital direkt mit den ArbeiterInnen »verhandeln«. Steigende Arbeitslosigkeit und die resultierende Schwächung der Gewerkschaften sorgten dafür, dass die Lohnabschlüsse zunehmend »moderat« ausfielen: Die Lohnzuwächse waren schon seit Anfang der achtziger Jahre geringer geworden, und nach 1990 kann von Zuwächsen gar nicht mehr gesprochen werden. Zwar stiegen die durchschnittlichen Bruttolöhne noch von rund 1640 auf gut 2300 Euro im Jahr 2008 (umgerechnet, alte Bundesländer), aufgrund steigender Abgaben stiegen die Nettolöhne in diesem Zeitraum jedoch nur von 1140 auf 1500 Euro. Und diese Steigerung reichte nicht einmal aus, um die Inflation in diesem Zeitraum auszugleichen – die Reallöhne sanken von 1140 auf gut 1060 Euro.

In diesen Zahlen ist die wirkliche Reallohnsenkung der letzten 20 Jahre noch gar nicht ausgedrückt. Denn in den Bereichen Rente und Gesundheit müssen Lohnabhängige inzwischen von ihrem Nettolohn einiges draufzahlen, um ein Versorgungsniveau zu erreichen, das dem der achtziger Jahre entspricht.

Offiziell werden im deutschen System der Sozialversicherungen Beiträge paritätisch von »ArbeitgeberInnen« und »ArbeitnehmerInnen« gezahlt. Das ist selbstverständlich unter Propaganda einzuordnen, denn der Sache nach gehören die gesamten Sozialversicherungsbeiträge zum Lohn und könnten genauso gut über den Umweg des ArbeiterInnenkontos in die Sozialversicherung fließen. Es macht sich aber besser, wenn das Kapital scheinbar seinen Teil zur Versorgung der ArbeiterInnenklasse beiträgt. Insofern ist es interessant, dass das Kapital den Anschein der Parität inzwischen gar nicht mehr aufrechterhalten muss.

Rentenversicherung: Die Geschichte der Rentenkürzungen in der Bundesrepublik ist inzwischen länger als die der Erhöhungen nach dem zweiten Weltkrieg. In den siebziger und achtziger Jahren wurde schon dezent gekürzt, v.a. bei der Anpassung der Renten an die Lohnentwicklung.Einzige wirklich gegenläufige Tendenz war die zunehmend bessere Anrechnung von Kindererziehungszeiten. Das Jahr 1989 brachte dann eine Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 65 Jahre; wer früher in Rente gehen will muss seitdem (und das wird bei der beschlossenen Rente mit 67 gravierender) jeden Monat bis Lebensende mit weniger Geld auskommen. Das bedeutet eine drastische Rentenkürzung, weil sich das Verhältnis von Einzahlungs- zu Auszahlungsmonaten zuungunsten der Lohnabhängigen verändert.

Das »Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetz« von 1997 bedeutete u.a. eine Fortschreibung der Armut von dauerhaft Kranken und Arbeitslosen ohne Leistungsbezug. Vorher waren für sie Beiträge für die Rentenversicherung berechnet worden, die sich am gesellschaftlichen Durchschnittseinkommen orientierte. Nun fielen diese Beiträge weg, so dass Arbeitslosigkeit in viel gravierender Weise für eine Verminderung der Rentenansprüche sorgt. Das wurde in den folgenden Jahren auf LeistungsempfängerInnen ausgedehnt.

Seit 1999 wurde die Berechnung von Rentenansprüchen mehrfach so modifiziert, dass sie nur noch mathematisch gebildete Menschen nachvollziehen können. Infolge der neuen Rentenformel im Jahr 2001 veränderte sich z.B. das Verhältnis der Normalrente einerseits zum Durchschnittsnettoeinkommen andererseits von 70,7 Prozent auf 64,3 Prozent im Jahr 2030 – zugleich wurde aber die Definition der beiden Größen in diesem Verhältnis so verändert, dass ein Rentenniveau von offiziell immerhin gut 67 Prozent herauskommt. Erreicht wurde mit diesen Maßnahmen allerdings »nur« ein halbwegs stabiler Beitragssatz knapp unter 20 Prozent, der für ambitionierte StandortpolitikerInnen nicht wirklich zufriedenstellend ist.

Ausgeglichen werden soll die relative Absenkung der Renten seit 2002 durch die Förderung privater Altersvorsorge. Das erhöht die Rentenbeiträge der Versicherten, schafft für sie ein neuartiges Anlagerisiko und stellt den Lohn der Beschäftigten direkt als Geldkapital zur Verfügung. Denn während die Beiträge der alten Sozialversicherung im Umlageverfahren gleich wieder an die derzeitigen RentnerInnen ausgezahlt wurden, nehmen die Beiträge der privaten Versicherungen den Umweg über die Geschäfte, die das Versicherungsunternehmen mit ihnen macht.

Krankenversicherung: Das erste »Kostendämpfungsgesetz« wurde bereits 1977 verabschiedet und brachte Leistungsbeschränkungen und Zuzahlungen, die in den nächsten 20 Jahren immer wieder erhöht wurden. Damit wurden die Kostensteigerungen im Gesundheitswesen zunehmend den gesetzlich Versicherten aufgebürdet, womit nur noch pro forma die »paritätische« Teilung der Kosten erhalten blieb. Die Gesundheitsreform 2003/2004 erfand im Zuge der Agenda 2010 die »Praxisgebühr« hinzu, die ebenfalls nur von den Versicherten zu zahlen ist. Ein im Juli 2005 eingeführter »Sonderbeitrag« von 0,9% des Einkommens für die Versicherten hob die paritätische Beitragslast auch offiziell auf und entlastete damit das Kapital. In die gleiche Richtung geht der sogenannte »Zusatzbeitrag«, der nach Beschluss des Bundestages vom 12.11.2010 von den Krankenkassen erhoben werden darf, natürlich nur von den Versicherten – und zwar einkommensunabhängig.

Arbeitslosenversicherung: Bis in die sechziger Jahre wurde mit gesetzlichen Regelungen aus dem Jahr 1927 gearbeitet; im Vergleich zu heute unter recht humanen Bedingungen. So rasant war die Verbesserung der Lebensbedingungen im deutschen Kapitalismus auch wieder nicht. Eine Reform im Jahr 1969 brachte, neben keynesianisch inspirierten Ansätzen zur Beschäftigungsförderung, einige Verbesserungen für Arbeitslose: Zeitlich unbegrenzte Arbeitslosenhilfe, die sich nach dem letzten Einkommen richtete, enge Zumutbarkeitskriterien. Zwei Arbeitsangebote durften ohne Begründung abgelehnt werden, ohne Leistungskürzung. Das war nett gemeint und wurde mehrheitsfähig im Bundestag, weil man es nicht brauchte: Im Jahr 1970 gab es noch nicht einmal 150.000 Arbeitslose. Im Jahr 1975 waren es schon eine Million, bis Mitte der achtziger Jahre über zwei Millionen. 1976 bereits wurden Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe gesenkt und die Zumutbarkeitskriterien verschärft, die Leistungshöhe für bestimmte Gruppen aber noch angehoben. Im Jahr 1985 wurde das »Beschäftigungsförderungsgesetz« verabschiedet. Zeitarbeitsverträge und Teilzeitarbeit wurden gefördert. AusländerInnen bekamen jetzt finanzielle Unterstützung, wenn sie in ihre Herkunftsländer zurückkehren. Interessant ist, dass die Höchstbezugsdauer des Arbeitslosengeldes erstmal noch erhöht wurde – Ausdruck der Überzeugung der Kohlregierung, dieses Problem mit der richtigen Politik bald in den Griff zu bekommen. Damit aber stieg der (von ArbeiterInnen und Kapital gezahlte, s.o.) Beitrag der Arbeitslosenversicherung von drei Prozent 1980 auf 6,5 Prozent ab Anfang der Neunziger. Die Ware Arbeitskraft verteuerte sich so für das Kapital spürbar. Nach verschiedenen Leistungskürzungen unter Helmut Kohl und Gerhard Schröder wurden 2002 die Vorschläge der so genannten Hartz-Kommission vorgelegt, die Leistungskürzungen, eine Erweiterung der Verfügungsgewalt des Amtes und die umfassende Förderung prekärer Beschäftigung brachten. Mittel, um Kosten zu sparen und die in Normalarbeitsverhältnissen Beschäftigten zu immer mehr Zugeständnissen zu zwingen.

Die Lage der ArbeiterInnenklasse hat sich also in den letzten 20 Jahren spürbar verschlechtert. Die Löhne sind nicht nur langsamer gestiegen als die Produktion gesellschaftlichen Reichtums, sondern gar nicht. Lebens- und Wochenarbeitszeit steigen, und eine Umfrage des BKK-Bundesverbandes aus diesem November ergab, dass inzwischen 84 Prozent der Beschäftigten auch außerhalb der Arbeitszeit für KundInnen oder Vorgesetzte erreichbar sind. An die Stelle des Versprechens auf Versorgung ist inzwischen längst die »Chance« getreten: Die Zusicherung, dass für Einzelne ihre Anstrengung nicht vergeblich sein wird, während aber feststeht, dass es immer Verlierer gibt.

Gute Geschäfte

Diese Politik der Arbeitskostensenkung war und ist kein Anzeichen von Krise sondern ein Mittel gegen sie. Und diese Politik war erfolgreich.Natürlich bestand diese Politik auch aus anderen Maßnahmen in anderen Politikbereichen. Die Rolle der Europäischen Währungsunion und die deutschen Interessen darin wären z.B. einen eigenen Artikel wert. Die Kürzungen auf der Ausgabenseite ermöglichten es Deutschland, dem weltweiten Trend zur Senkung der Unternehmenssteuern nachzukommen – das aber gleich von gut 56 Prozent Mitte der neunziger Jahre auf knapp 30 Prozent heute. Leiharbeit, die sich seit Mitte der Neunziger auf zur Zeit etwa 750.000 LeiharbeiterInnen verfünffacht hat, flexibilisiert die Verfügbarkeit der Arbeitskraft und macht sie billiger. Zusammen mit den Sozialreformen und den sinkenden Löhnen führte das zu einer Senkung der Lohnstückkosten (Lohnkosten im Verhältnis zur Produktivitätsentwicklung) auf zur Zeit etwa 88 Prozent des Wertes von 2002. Das wiederum trug bei zu einer Steigerung der deutschen Exporte, zu einem steigenden Anteil der Unternehmensgewinne am »Volkseinkommen« und zu einer steigenden Umsatzrendite, also zu mehr Gewinn pro eingenommenem Euro.

Probleme, die in die »Finanzkrise« geführt haben, bestehen allerdings weiter. Schon jetzt sind »Spekulationsblasen« erkennbar (»Irland!«, »Portugal!«), die beim nächsten Crash JournalistInnen werden fragen lassen, ob »Politik und Wirtschaft« nicht die Krise hätten kommen sehen müssen. Diese besondere Krisengefahr geht auf die Liberalisierung und Ausweitung der Finanzmärkte zurück, zu der die Privatisierung von Sozialversicherungen in vielen Ländern ihren Beitrag geleistet hat. Aber diese Politik war zum einen eine recht erfolgreiche Reaktion auf die Krise der Weltwirtschaft ab den späten siebziger Jahren. Die Boom-Jahre unter Clinton darf man nicht verschweigen, wenn man über Kreditblasen redet. Wenn eine liberale Politik in diesem Sinn Risiken mit sich gebracht hat, so ist das kein Argument gegen ihre, gemessen am Kapitalzweck, Erfolge. Und zum anderen kommt die nächste Krise sowieso. Fünf Jahre gute Geschäfte reichen als Argument im Kapitalismus völlig aus.

Versucht man also ein Zwischenfazit der letzten 20 Jahre Kapitalismus in Deutschland zu ziehen, kann man sagen, dass es dem Kapitalismus hier wieder halbwegs gut geht und den Leuten zunehmend schlecht. Und das eine hat mit dem anderen etwas zu tun.

Keine Riots in Regensburg

Die BundesbürgerInnen nehmen die Aufkündigung des Versorgungsversprechens halbwegs klaglos, auf jeden Fall aber weitgehend aktionslos hin. Zwar ist die Zustimmung zum politischen System und zur Wirtschaftsweise nicht so üppig, wie die VolksvertreterInnen sich das wünschen, aber zu einer grundsätzlichen Abkehr vom System hat das Ende des Mythos vom Versorgungskapitalismus nicht geführt. Dass Menschen, die nach Hartz IV verwaltet werden, kaum bei Kundgebungen zu finden sind, liegt auf der Hand. Leute, die mit bürgerlicher Ideologie groß geworden und klein gemacht worden sind und gleichzeitig seit Jahren im Elend leben, sehen sich nicht als mögliche AkteurInnen politischer Prozesse. Doch auch in den klassischen SPD-Schichten ist die Bereitschaft gering, gegen sinkende Einkommen zu kämpfen.

Die praktische Enthaltung geht mit innerer Zustimmung einher. Gerade wurde zwar eine Umfrage des Bankenverbandes veröffentlicht, nach der nur noch 48 Prozent der Bundesbürger die Soziale Marktwirtschaft für gelungen halten und nur gut die Hälfte das von der Demokratie in Deutschland sagt. Rechnet man die halbwegs Zufriedenen und die Unentschiedenen hinzu, ist das aber immer noch ein recht ordentlicher Wert. Sollte sich eine neue Krise abzeichnen, dürfte das die Zustimmung zum System eher erhöhen, wie man das bei der Finanzkrise gesehen hat. Im September 2008 äußerten sich nur 31 Prozent zufrieden mit der Regierungsarbeit, Im April 2009 dagegen bewerteten 64 Prozent die Arbeit Merkels positiv.Zit. n. http://www.infratest-dimap.de/uploads/tx_nosimplegallery/dt0809_bericht_02.gif. Die Gründe für diese Treue der deutschen Bevölkerung zu Staat und Kapital sind vielfältig. Haltungen zu »denen da oben«, zu »Leistung«, »Pflicht« usw. haben in Deutschland eine lange Tradition und werden kulturell vererbt. Dazu trägt die Nachwirkung der alten bundesrepublikanischen Einbindungspolitik bei: Eine relativ hohe soziale Sicherheit wurde verbunden mit einem restriktiven Streikrecht, das politische Streiks verbietet und mit einer betrieblichen Mitbestimmung zumindest in Großbetrieben bei gleichzeitiger Trennung von Gewerkschaften und Betriebsräten.

Bisher ist es dem politischen Personal in Deutschland zudem gelungen, sich als handlungsfähig darzustellen und den Leuten immer wieder das Gefühl zu vermitteln, dass von ihrer Entscheidung bei Bundestagswahlen etwas abhinge. Der Wirtschaftspolitik stehen von keynesianischer Nachfragestimulation bis zu liberaler Angebotspolitik ganz unterschiedliche Instrumente zur Verfügung. Die »neoliberalen« Konzepte erhöhen direkt die Kapitalrentabilität. Nachfrageorientierte Konzepte können in Situationen, in denen es an »Vertrauen« ins Geschäft mangelt als Anschub der Kapitalverwertung funktionieren. Beides funktioniert aber nur, um später die Probleme auf neuer Stufenleiter zu reproduzieren: Bei nachfrageorientierten Konzepten in Form zu hoher Produktionskosten, bei angebotsorientierten Konzepten in Form von Nachfrageeinbrüchen und Schäden an der (privatisierten) Infrastruktur. Es scheint, als sei das deutsche Parteiensystem mit seinen relativ wenigen Parteien bisher in der Lage, diese Varianten bürgerlicher Politik als wirkliche Alternativen zu inszenieren, an die periodisch immer wieder Hoffnungen geknüpft werden.

Die radikale Linke, insbesondere ihr antideutscher Teil, schaut angesichts dieses Einverständnisses der »Massen« mit wohliger Scham nach z.B. Frankreich, wo Autoreifen brennen, wenn Sarkozy das Rentenalter anheben will. Und es stimmt: Nicht nur Vorstadtjugendliche aus MigrantInnenfamilien sind streitbarer in anderen Ländern. In Deutschland wird z.B. im internationalen Vergleich auch wenig gestreikt. Im Zeitraum von 1998 bis 2007 fielen in Deutschland pro 1000 Beschäftigte und pro Jahr durchschnittlich vier Streiktage an gegenüber 75 in Italien, 93 in Frankreich und 130 in Spanien.Zahlen von der Hans-Böckler-Stiftung.

Dennoch wäre es vorschnell, in den protestierenden Gruppen der südeuropäischen Länder ein Vorbild für linksradikale Arbeit in Deutschland zu sehen. Vergleicht man die Streiktage international, fällt nämlich noch etwas auf: Der Trend ist in allen Ländern gleichförmig seit den siebziger Jahren. In Spanien z.B. nahmen in 30 Jahren die Streiktage ab von durchschnittlich 879 auf 130, in Italien von 1461 auf 75. Es ist in allen Ländern seit den achtziger Jahren eine Wechselwirkung zu beobachten von Schwächung der ArbeiterInnenorganisationen als Folge von zunehmender Arbeitslosigkeit, leichter durchsetzbarer Deregulierung und weiterer Schwächung der ArbeiterInnenorganisationen. Größere Kampfbereitschaft hat diesen Trend nirgendwo aufhalten können.

Auch in der Lohnhöhe, der Rentenhöhe, der Arbeitszeit oder auch der Ungleichheit der Einkommen haben die systemtreuen Deutschen über die Jahrzehnte nicht wesentlich schlechter abgeschnitten als ihre Nachbarn. Einen längeren Trend einer sinkenden Lohnquote (also des Anteils der Löhne an den gesellschaftlichen Einkommen) gibt es neben Deutschland z.B. auch in Griechenland, den Niederlanden, Österreich und Spanien.

Wie auch anders? Das macht ja gerade das »Systematische« des Kapitalismus aus, dass Verbesserungen für die Arbeitenden zwar zu erreichen sind, dann aber schnell zum ökonomischen Dämpfer werden. Insofern wird die jüngste Lohnsenkung in Deutschland die ArbeiterInnen in anderen Ländern zunehmend unter Druck setzen. Anders könnte es nur ausgehen, wenn die ArbeiterInnenklasse in den kapitalistischen Zentren koordiniert vorginge.

Strategische Konsequenzen

Wer die Gesellschaften umorganisieren will, braucht Mehrheiten und kaum jemand wird behaupten, dass diese allein aus Bildungsveranstaltungen und Kongressen hervorgehen können. Soll also ein Moment aus dem gesellschaftlichen Prozess selbst hinzukommen, ein Moment von Erfahrung, dann scheint es nahezuliegen, dort hinzugehen, wo schon Protest ist. Als es so aussah, als würde sich 2004 aus Anlass der Hartz-Reformen eine Protestbewegung entwickeln, konnte man in der radikalen Linken zwei Extrempositionen erleben, die sich scheinbar konträr entgegen standen. Ein Teil der antideutsch motivierten Linken scheute vor dem schwarzrotgoldenen Mob zurück, der da unterwegs war; die auf soziale Bewegungen konzentrierte radikale Linke nahm hin, mit DGB und Attac hinter Reform-Transparenten zu marschieren in der Hoffnung, so die eigene Marginalisierung zu vermindern.

Rückblickend haben beide Positionen Entscheidendes gemeinsam: nämlich die Frage nicht ernsthaft zu stellen, was genau Leute dazu bringen könnte, sich dauerhaft in Opposition zu Staat und Kapital zu setzen. Die antideutsche Position hält Leute letztlich für nicht veränderbar und wurde dadurch ungewollt anthropologisch, die sozialbewegte hält eine Veränderung für gar nicht nötig bzw. hofft, der soziale Kampf selbst werde die Leute schon klüger machen, wenn man mit ein paar Flugblättern nachhilft.

Ganz abgesehen von den zu erreichenden materiellen Verbesserungen sind politische und ökonomische Kämpfe wichtig für ein »Subjektgefühl«, für die erste Ahnung davon, dass man sein Schicksal auch in die eigenen Hände nehmen könnte. Doch was genau führt in einem »Kampf« dazu? Sicher, es ginge den nationalen ArbeiterInnen heute schlechter ohne ökonomische und politische Kämpfe. Die vielen Streiktage, die die ItalienerInnen in den siebziger und achtziger Jahren angehäuft haben, konnten allerdings nicht nur den »Sozialabbau« in Italien nicht aufhalten, sondern haben auch trotz der akkumulierten Erfahrung die alte Kommunistische Partei nicht vor dem Niedergang bewahren können. Und Rifondazione als »eigentliche« Nachfolgepartei der KommunistInnen gibt kein wirklich besseres Bild ab als die Linkspartei hier. Auch in Spanien ist keineswegs eine Blüte der radikalen Linken zu beobachten. Es ist offensichtlich, dass, gemessen an dem Ziel eines tatsächlich wirkmächtigen Widerstandspotenzials (mal ganz abgesehen von einer revolutionären Veränderung), Protest nicht automatisch weiterführt. Zum einen können Kämpfe scheitern und die Geschichte des Kapitalismus der letzten Jahrzehnte zeigt ein Zurückweichen der ArbeiterInnenorganisationen auf ganzer Linie, überall. Und wenn sie erfolgreich sind, können sie Leute auch einfach zufrieden machen mit dem, was sie erreicht haben: Eine Lohnerhöhung für die nächsten zwei Jahre oder Kündigungsschutz für die nächsten drei – was genau soll die Leute dazu bringen, aus so einem Konflikt heraus KommunistIn zu werden?

Die radikale Linke kann sich mit Schlecker-Betriebsräten solidarisieren und vor den Filialen Flugblätter verteilen. Das ist sympathischer als ein Großteil der linksakademischen Textblasenproduktion, doch ist unwahrscheinlich, dass das eine Kassiererin in eine kommunistische Organisation bringt oder auch nur radikalisiert. Warum sollte es? Der Wunsch nach Tariflohn und geregelten Arbeitszeiten ist etwas ganz anderes als der nach Befreiung. Und es ist auch nicht zu erwarten, dass die radikale Linke unter gegenwärtigen Bedingungen dadurch gestärkt wird. Es führt weder gedanklich noch praktisch ein Weg von sozialreformerischer Politik zum Kommunismus.

Soziale Kämpfe bringen gemessen am Ziel der Kapitalismusüberwindung nur dann etwas, wenn man den Leuten einen Rahmen bietet, in dem sie ihre Erfahrungen reflektieren können – und sozial eingebunden sind als Gegengewicht zu den falschen Erfahrungen, die sie jeden Tag machen. Als bürgerliches Subjekt hat man keinen Grund, sich auf einen organisierten Rahmen einzulassen. Ein Ausweg aus diesem Dilemma zeichnet sich noch nicht ab. Aber grob kann man die Richtung angeben, in die wir denken müssen:

Auf inhaltlicher Ebene muss zum einen der Unterschied zur keynesianistischen Reformlinken deutlich gemacht werden und die Begrenztheit ihrer Konzepte. Denn der Gedanke, Kapitalismus sei schön, wenn er nur richtig gemacht werde, ist das Gegenteil von dem, was wir wissen und verbreiten wollen. Und wenn der Grund, radikal zu werden, nicht unmittelbar aus dem Kampf gegen Lohnsenkungen und Sozialabbau plausibel wird, dann ist das ein Grund mehr, neben der Erklärung solcher Entwicklungen und von Armut und Elend aus dem Kapitalismus, auch mit unserer Zielvorstellung zu werben – dem Kommunismus.

Und wir müssen auch »Gerade-so-Linken« Argumente liefern, sich zu organisieren, damit sie zu KommunistInnen werden können. Bis eine Organisation einen wirklichen Vorteil bringt z.B. in Sozialen Kämpfen, dürfte es dauern. Bis dahin muss der Grund fürs Organisieren in den Organisationen selbst liegen: Indem es sich in ihnen schon jetzt besser arbeiten, diskutieren, leben lässt als außerhalb und sie so eine Vorahnung liefern, wie freie Assoziation funktionieren wird.

RÜDIGER MATS

Der Autor lebt in Leipzig.