Kein Nachruf

Interview mit Hermann L. Gremliza

Nach Hermann L. Gremlizas’ Tod wurde vielfach sein eleganter Schreibstil bewundert, während seine Positionen zu Israel und der DDR als inakzeptabel bezeichnet wurden. Dabei stand der Herausgeber der Konkret gerade mit diesen Positionen für ein Denken, das politische Widersprüche anerkennt. Im Jahr 2007 interviewte die Phase 2 Hermann L. Gremliza. »Wer Träume verwirklichen will, soll zum Theater gehen, nicht in die Politik«. Interview mit Hermann L. Gremliza in: Phase 2.24 (2007), 34f. In diesem Gespräch zeigte er auf, dass das, was sich hinter emanzipatorischen Begriffen verbirgt, nicht gleich Emanzipation bedeutet. Wer sich an der öffentlichen Meinung orientiere, so Gremliza, könne das Denken gleich ganz bleiben lassen. Treffender hätten wir es nicht sagen können, weshalb wir das Interview ein weiteres Mal abdrucken. Dies ist kein Nachruf.

 

Phase 2     Herr Gremliza, Anfang der neunziger Jahre erstattete der »Bund der Stalinistisch Verfolgten« Anzeige gegen Sie. Sie standen unter dem Verdacht, die Opfer des Stalinismus verleumdet und beleidigt zu haben, indem Sie sie als »Räuber und Mörder« bezeichnet hätten. Wie kam es zu diesen Vorwürfen?

 

Gremliza     Ich hatte 1990 in Konkret unter dem Titel »Ich, Josef Stalin« einen Brief »der Gesellschaft für bedrohte Völker« zitiert, in dem die letzte Regierung der DDR unter Hans Modrow und die Volkskammer aufgefordert wurden, die 160.000 Deutschen, die nach 1945 von den sowjetischen Siegern in der DDR inhaftiert worden waren, zu rehabilitieren und Wiedergutmachung zu leisten. Darauf hatte ich geantwortet, die sowjetischen Sieger hätten gewiss auch Unschuldige inhaftiert und ein paar Leute, deren Unschuld sie kannten. Die könnten Opfer Stalins genannt werden. Die allermeisten der 160.000 aber seien nicht einmal zehn Prozent der bei Kriegsende in Ostdeutschland lebenden Nazi-Funktionäre, SS-, SA- oder Wehrmachtsmänner gewesen, die gerade zwanzig Millionen Sowjetbürger ermordet hatten. »Welchen Umgang«, habe ich gefragt, »konnten diese Räuber und Mörder von den Überfallenen, ihrer Familien und ihrer Zukunft Beraubten fordern?« Daraufhin hatte die den 160.000 Volksgenossen nahestehende Bild-Zeitung gemeldet, ein Bund der Stalinistisch Verfolgten aus Leipzig habe mich wegen Verleumdung und Beleidigung angezeigt.

 

Phase 2     Im Zuge dieser Auseinandersetzung wurde Ihnen auch unterstellt selbst ein Stalinist zu sein. Darauf erwiderten Sie: »So lange als Stalinismus gilt, was die Welt von einer [...] doch überraschend großen Menge Nazis befreit hat, will ich die Auszeichnung in Ehren halten.« An anderer Stelle bezeichnen Sie die sogenannte Stalinsche Terrorherrschaft als ein recht durchschnittlich- autoritäres Regime. Das klingt wie die Antithese zum bundesdeutschen Kanon, in dem die alten »Unrechtssysteme« – Nationalsozialismus und DDR – immer gleicher werden. Verharmlosen Ihre Äußerungen aber nicht trotz des richtigen Gegners den Stalinismus?

 

Gremliza     Es war nicht die »Stalinsche Terrorherrschaft«, die ich als ein »recht durchschnittlich- autoritäres Regime« bezeichnet habe. Was ich in Konkret 1997 geschrieben habe, war ziemlich genau das Gegenteil: Zu Stalin und seinen Taten, meinte ich dort, unterhalte der Stalinismus ein bloß instrumentelles Verhältnis. Das Wort bezeichne ja nicht die Wirklichkeit der Stalinschen Terrorherrschaft, die spätestens mit dem 20. Parteitag der KPDSU, das war 1956, drei Jahre nach Stalins Tod, in ein recht durchschnittlich-autoritäres Regiment übergegangen sei, sondern werde als Synonym für jede Art Sozialismus, von Lenin bis Honecker, ja von Robespierre bis Lothar Bisky gebraucht. Marx, sagten die vereinigten Glücksmänner aller Länder, habe mit seiner Kritik der politischen Ökonomie die Basis für den Gulag gelegt, dessen Neueröffnung Sarah Wagenknecht plane, und Sozialismus sei ein endloser Massenmord. Was nun Stalin selber betrifft: Wer die Motive eines Terroristen nennt, macht ihn ja nicht harmlos. Wer sie aber nicht nennt, will die Meute blöd machen oder, in neunundneunzig von hundert Fällen: blöd halten.

 

Phase 2     Im Namen eines Sozialismus die Bevölkerung mittels Schauprozessen, Propaganda und Karrierebrüchen zu disziplinieren, mag aus instrumenteller Perspektive legitim sein, den Traum vom Kommunismus bzw. Sozialismus haben sich viele aber dann wohl doch anders vorgestellt. Zumal es doch gerade auch emanzipatorische und selbst im engeren Sinn kommunistische Ansätze waren, die der Repressionspolitik und dem dazugehörigen Apparat zum Opfer fielen. Wirklich weit scheint man also mit der »besseren Gesellschaft« nicht gekommen zu sein, oder?

 

Gremliza     Wer Träume verwirklichen will, soll zum Theater gehen, nicht in die Politik. Obwohl es keinen Sinne macht, ja – wie ich zum Ende der DDR schrieb – geradezu reaktionär ist, dem gewesenen Sozialismus in Nostalgie nachzuhängen, muss auch daran erinnert werden, wer den Kommunisten, den Freunden einer Gesellschaft der Freien und Gleichen, ihren verfluchten Kriegskommunismus aufgezwungen hat, wer ihnen nach der Oktober-Revolution mit der Besetzung von zwei Dritteln Russlands an der Seite der blutrünstigen Weißgardisten klar gemacht hat, dass ihm zur Beseitigung der Kommunisten jedes Mittel recht sein würde. An nichts werden die Antikommunisten heute so ungern erinnert wie daran, dass die USA einst Hitler gewähren ließen, bis die Wehrmacht die Sowjetunion von ihrer Westgrenze bis vor Moskau dem Erdboden gleichgemacht hatte, und dabei auch die ihnen bekannte Vernichtung von Millionen Juden in Kauf nahmen. Heute sind die kapitalistischen USA der Schutzschild, unter dem die Juden in Israel leben. Sie verdienen dafür Dank und Anerkennung. Etwas vormachen sollte man sich dennoch nicht: Brächte dieses Engagement die Interessen des US-Kapitals einmal ernsthaft in Gefahr, stünde Israel bald ganz allein da.

 

Phase 2     Das sozialistische Experiment scheint heute gescheitert. Und mit ihm scheint die Möglichkeit gescheitert zu sein, dem Kapitalismus zu entkommen, indem man umfassende Programme einer anderen Gesellschaft, einer anderen Denkart, einer anderen Kultur oder einer anderen Weltanschauung entwirft. Was bleibt also von dem utopischen Potential des Kommunismus?

 

Gremliza     War der Sozialismus ein Experiment? Und ist dann nicht jede Revolution eines? Von den Bauernkriegen bis zur Großen Französischen Revolution ist, sagt Lenin, wenn die unten nicht mehr wollen und die oben nicht mehr können. Wie 1789 in Paris und 1917 in Petersburg. Nach der Wende wurde die Parole ausgegeben, die Weltgeschichte sei zu Ende, der Kapitalismus also die Erfüllung der Menschengeschichte. Und in der Tat ist es schwer vorstellbar, die Funktionäre der Kapitalherrschaft ließen sich noch einmal so übertölpeln wie vor neunzig Jahren. Andererseits scheint der Kapitalismus dem Wegfall der Grenzen, den ihm die weltpolitische Konkurrenz gesetzt hatte, nicht gewachsen. Seine globale Freiheit ist auch die Freiheit zur Selbstzerstörung. Ein Stundenlohn von 2,46 Euro für ein sogenanntes Zimmermädchen in einem Luxushotel in Hamburg, einer der reichsten Städte der Welt, wird für die Herrschaft auf Dauer kein sanftes Ruhekissen sein. Dass an ihrem Ende noch ein so vergleichsweise menschenfreundliches Unternehmen stehen wird, wie es das von 1917 war, ist leider sehr unwahrscheinlich. Viel näher liegen heute religiöspopulistisch-völkische Aufstände, zu denen ich meine Meinung schon gesagt habe: Lieber Kapitalismus als noch größere Barbarei.

 

Phase 2     Die Utopie des Kommunismus ist für das öffentliche Bewusstsein eine kaum zu lösende Verbindung mit dem bekannten Sozialismus und mit dem Stalinismus eingegangen. Besteht nicht die Gefahr, dass mit wachsendem zeitlichem Abstand zum Sozialismus die Linke glaubt, das Stalinsche Modell sei vielleicht doch nicht so schlecht? Und ist es deshalb nicht eine notwendige Aufgabe, den Stalinismus als Antikommunismus, der den Kommunismus verwirklichen wollte, in den schwärzesten Farben zu malen?

 

Gremliza     »Das öffentliche Bewusstsein«, also die herrschende Meinung, ist stets die Meinung der Herrschenden. Wer sich an ihr orientiert, stellt das Denken besser gleich ganz ein. Es geht nicht darum, etwas zu »malen«, also Stimmung zu machen, sondern um Kritik. Stalin war ein grausamer Herrscher. Und Stalin hat Hitlerdeutschland daran gehindert, Europa bis zum Ural der Naziherrschaft zu unterwerfen. Beides zugleich zu denken, ist vielleicht schwer, aber Denken ist nun mal nicht leicht. Solange deutsche Söhne auf Podiumsdiskussionen jeden Kritiker ihrer Vaterlandsliebe mit einem Stakkato von Stalin/Stalinismus/stalinistisch eindeckten, bis ihre Züge zu jenem Ausdruck entgleisten, den das Wort Stalingrad auf den Gesichtern der Herren Eltern hervorzurufen pflegt, habe ich in der vorhin zitierten Kolumne vor 17 Jahren geschrieben, verstünde ich den Vorwurf, ein Stalinist zu sein, als Ehrung. Dabei soll’s bleiben.

 

Phase 2     Vielen Dank für das Gespräch!