(K)eine Skandalgeschichte

Das Forum Antiziganismuskritik berichtet über antiziganistische Realitäten in Deutschland 2010

Das Vorgehen der französischen Regierung gegen rumänische Roma im vergangenen Sommer wurde in deutschen Medien und der deutschen Öffentlichkeit breit thematisiert und rief beinahe einhellige Ablehnung hervor. Mediale Erwähnung fanden auch die in regelmäßigen Abständen erfolgenden Räumungen von sogenannten campi nomadiSiehe den Beitrag von Katrin Lange, Von Nomadencamps und Mobaction – Antiziganismus in Italien als gewaltsames Gebräu, in: Phase 2 32/2009. in Italien sowie gewalttätige und teilweise tödliche Übergriffe in Tschechien und Ungarn.

Zwar wurde die Berichterstattung der Dimension und der Gewalttätigkeit eines europaweit in verschiedenen Ausprägungen verbreiteten Antiziganismus keineswegs gerecht, der sich unter dem Einfluss von re-ethnisierendem Nationalismus und ökonomischer Krise weiterhin zuspitzt. Immerhin war aber doch ein gewisses Problembewusstsein bezüglich dieser Thematik festzustellen. Leider werden bei einer solchen Berichterstattung die tradierten Klischeebilder und Stereotype oftmals reproduziert.

Dabei sollte die berechtigte öffentliche Kritik an diesen Gewalttaten aber nicht davon ablenken, dass es auch in Deutschland regelmäßig zu antiziganistisch motivierten Übergriffen kommt und diskriminierende Strukturen weiterhin wirksam sind. Genau diesen Effekt hat jedoch z.B. die stark moralisch aufgeladene deutsche Berichterstattung über die französische Politik gegenüber zentral-, ost- und südosteuropäischen Migrant_innen mit Roma-Hintergrund. Ähnlich skandalöse Vorgänge in der Bundesrepublik Deutschland werden indes trotz der immer wieder betonten »historischen Verantwortung«Sichtbar in den Reden von Hannelore Kraft und Jens Böhrnsen, die bei den zentralen Gedenkveranstaltungen in der jeweils letzten Sitzung des Bundesrates vor der Weihnachtspause 2009 und 2010 gehalten wurden: www.bundesrat.de/cln_179/nn_1759312/DE/presse/pm/2010/190-2010.html?__nnntrue, www.bundesrat.de/cln_179/nn_1397630/DE/presse/pm/2009/187-2009.html?__nnntrue (Alle Internetquellen aufgerufen am 17.02.2011). konsequent ignoriert oder ausgeblendet.

So versuchte der Berliner Senat im Sommer 2009, Roma aus Bulgarien oder Rumänien mittels Bargeldzahlungen zu sofortiger Ausreise und schriftlicher Einwilligung in ein Einreiseverbot nach Frankreich zu bewegen.Markus End, Gezündelt – Die wesentlichen Elemente antiziganistischer Ressentiments anhand einer Collage der Berichterstattung des Berliner Tagesspiegels, in: Phase 2 33/2009. Eine Ausnahme hinsichtlich der weit verbreiteten Ignoranz gegenüber antiziganistischen Vorkommnissen in Deutschland stellte im Jahr 2010 die Berichterstattung über Abschiebungen von Roma in das Kosovo dar.Die noch drohenden und teilweise bereits durchgeführten Abschiebungen in das Kosovo, von denen ca. 10.000 Roma betroffen sind, werden wir deshalb in diesem Text nicht behandeln. Wir verweisen u.a. auf das Heft der Flüchtlingsräte zu »Antiziganismus«, das 2010 erschienen ist und sich ausführlich diesem Thema annimmt.

Die folgende schlaglichtartige Darstellung von Ereignissen mit antiziganistischem Hintergrund, die im Laufe des letzten Jahres in Deutschland zu beklagen waren, soll einen Beitrag dazu leisten, den antiziganistischen Normalzustand in der Berliner Republik stärker ins Bewusstsein zu bringen. Mitzudenken ist dabei, dass das hier behandelte Problem nicht isoliert betrachtet werden kann – vielmehr gilt es, stets die gesellschaftlichen Zusammenhänge, in denen sich die geschilderten Vorkommnisse ereigneten, zu berücksichtigen. Die hier behandelten Übergriffe reihen sich dabei ein in eine unüberschaubare Folge rassistischer, antisemitischer, homo- und transphober und anderer diskriminierender Angriffe und Gewalttaten.

Kein »fremdenfeindlicher« Hintergrund?

Während die Brandanschläge in Ungarn mittlerweile zumindest hin und wieder Erwähnung finden, scheint das für ähnliche Angriffe in Deutschland nicht notwendigerweise der Fall zu sein. Bei einem Anschlag am 26. Dezember 2009 brannte im sächsischen Klingenhain ein Wohnhaus restlos aus. Die dort wohnende Familie befand sich zur Tatzeit nicht im Haus, sodass keine Menschen zu Schaden kamen. Bereits vor dem Brand waren die Mitglieder der Familie jahrelang als ›Zigeuner‹ beschimpft, wiederholt tätlich angegriffen und das Wohnhaus attackiert worden. Nachdem ihr Haus durch den Brandanschlag unbewohnbar wurde, verließen die Betroffenen Klingenhain. Unterstützung seitens des Staates oder der Gemeinde wurde ihnen nicht zuteil. In der Öffentlichkeit wurde dieser Anschlag kaum wahrgenommen,www.mut-gegen-rechte-gewalt.de/news/meldungen/brandanschlag-sachsen/ Tatverdächtige wurden von der Polizei bis heute nicht ermittelt. In doppelter Hinsicht bezeichnend ist dabei die polizeiliche Aussage, dass von einem »fremdenfeindlichen Hintergrund« der Tat nicht auszugehen sei. Die Polizei ignorierte damit einerseits die Anfeindungen, denen die Familie schon vorher ausgesetzt war und die eine antiziganistische Motivation für die Tat plausibel erscheinen lassen. Andererseits offenbart sich auch, dass die bis dahin in Klingenhain lebenden deutschen Sinti in den Augen der Beamt_innen »Fremde« sind.

Brandanschläge mit antiziganistischem Hintergrund sind in der Bundesrepublik Deutschland keine Seltenheit. In Gelsenkirchen brannten in der Nacht auf den 5. November 2010 insgesamt 19 Wohnwagen, die bis auf zwei alle völlig zerstört wurden. Verletzte oder gar Tote gab es glücklicherweise nicht. Der entstandene Sachschaden wird mit etwa 200.000 Euro beziffert. Der Brand ereignete sich im Stadtteil Feldmark in einer Siedlung, in der viele Familien mit Sinti- oder Roma-Hintergrund leben. Manche der Familien besaßen Wohnwagen, die sie auf einem Parkplatz abgestellt hatten. Die Polizei konnte auch hier keinen »fremdenfeindlichen« Hintergrund der Tat sehen.www.lokalkompass.de/gelsenkirchen/politik/wohnwagen-winterquartier-in-flamen-d24227.html Dass bei diesen Brandanschlägen in den letzten Monaten keine Menschen getötet wurden oder schwere physische Verletzungen davon trugen, ist wohl nur dem Zufall zu verdanken.

Auch die Gruppe von etwa 20 Anwohner_innen, die am 24. September 2010 im Uckermärkischen Milmersdorf den dort gastierenden Zirkus Happy mit Steinwürfen angriff, nahm das Risiko schwerer Verletzungen billigend in Kauf. Die Attacke wurde von Parolen wie »Zigeunerpack!«, »Asoziales Pack verschwindet!« und »Wir fackeln euch die Zelte ab!« begleitet, mehrere Fahrzeuge wurden beschädigt. Die erwachsenen Artist_innen des Zirkus waren zu diesem Zeitpunkt nicht vor Ort, die Kinder mussten sich in einen Wagen flüchten. Infolge der Ereignisse musste der Zirkus seine Zelte abbrechen und verließ Milmersdorf.www.inforiot.de/content/milmersdorfer-zirkusvertreibung-staatsanwaeltin-bstaetigt-steinwuerfe

Diese Geschehnisse erinnern auch an die Vorfälle vom Sommer 2008 in Norderstedt, als der Zirkus Martinelly wochenlang von Jugendlichen terrorisiert, die Artist_innen antiziganistisch beschimpft und angegriffen, sowie schwere Schäden an der Einrichtung des Zirkuszeltes angerichtet wurden. Wenige Tage zuvor war der Zirkus bereits in Rahlstedt von Brandstifter_innen angegriffen worden. In keinem dieser Fälle war die Polizei willens oder in der Lage, den Schutz der Betroffenen zu gewährleisten und ein sicheres Arbeits- und Lebensumfeld zu ermöglichen.www.abendblatt.de/region/norderstedt/article553707/Als-Zigeunerpack-beschmpft.html

Am rechten Rand

Auch wenn Betroffene schwere körperliche Verletzungen erleiden, garantiert das noch keinen öffentlichen Aufschrei, keine Anteilnahme durch Politiker_innen, keine Solidaritätsbekundungen der Bevölkerung. Ein sehr schwerwiegender Vorfall mit antiziganistischem Hintergrund im Jahr 2010 wurde bis in die kritische Öffentlichkeit hinein nahezu gänzlich ignoriert, sodass nur wenige Informationen vorliegen: Anfang November 2010 wurde der Prozess gegen zwei Personen aus Nordfranken eröffnet, die im März 2010 im tschechischen Ort Aš in mindestens drei Fällen Sexarbeiterinnen entführt und brutal misshandelt haben sollen. Als Tatmotiv führte die zuständige Staatsanwaltschaft den Hass gegenüber Angehörigen der Minderheit der Roma an. Laut Anklage wurden die Betroffenen stundenlang mit Knüppelschlägen und Tritten traktiert, in einem Fall mit nationalsozialistischen Symbolen gedemütigt und waren teils sexualisierter Gewalt ausgesetzt.www.nordbayerischer-kurier.de/nachrichten/1295715/details_8.htm

In der Analyse rechter und nationalsozialistischer Ideologien und Strukturen wird Antiziganismus weithin ignoriert. In der postnazistischen BRD wurden viele der Denkmuster, diskriminierende Praxen und Akteur_innen des NS-Antiziganismus bruchlos oder nur leicht modifiziert übernommen. Eine Transformation oder Verschleierung war bis in die neunziger Jahre nicht notwendig. Die heutige Hetze fällt somit auf den fruchtbaren Boden eines seit Jahrhunderten kultivierten und nach 1945 offen fortwährenden Ressentiments.

Dem Aufruf der Rechtspopulist_innen von ProNRW (Bürgerbewegung pro Nordrhein-Westfalen) zu einer Demonstration unter dem Motto »Null Toleranz gegenüber Rechtsbrüchen einer stadtbekannten Großfamilie« folgten am 25. September 2010 ungefähr 40 Personen. Mit Parolen wie »Rumänien ruft« oder »Sarkozy nach Leverkusen« wollte die Gruppierung gegen eine Familie Leverkusener Roma Stimmung machen.aow.blogsport.de/2010/07/26/pro-nrw-will-stadtbekannter-grossfamilie-in-lverkusen-den-rang-ablaufen/ Hinter Phrasen wie etwa dem Gerede von »mobilen ethnischen Minderheiten«, die sich im Ankündigungstext zu der Demonstration finden, sind traditionelle ›Zigeuner‹-Klischees nur schlecht versteckt. Bereits Anfang der neunziger Jahre war der ProNRW-Parteivorsitzende Markus Beisicht mit seiner damaligen Partei Deutsche Liga für Volk und Heimat u.a. durch den Steckbrief und das Aussetzen eines Kopfgeldes auf eine von Abschiebung bedrohte Romni aufgefallen.www.beucker.de/2004/tk04-09-21.htm

Dass sich vermeintliche oder tatsächliche »Bürgerinitiativen« zusammenschließen, um sich gegen eine Bedrohung von »Recht und Ordnung« und »unhaltbare Zustände« einzusetzen, ist ein besonders häufiges Phänomen des bundesdeutschen Antiziganismus. So beispielsweise im Sommer und Herbst 2010 in Leipzig-Volkmarsdorf, wo die Hetze gegen dort lebende Roma so weit ging, dass erzürnte Anwohner_innen die Gründung einer Bürgerwehr in Betracht zogen, um sich der angeblich bestehenden Gefahr für »Sicherheit und Ordnung« zu erwehren. Die ungeliebten Nachbar_innen wurden für Lärm und Müll im Viertel sowie für eine angebliche Zunahme von Diebstählen, Einbrüchen und Sachbeschädigungen verantwortlich gemacht. Einen entsprechenden Anstieg der Kriminalität im Viertel bestätigte die Polizei auf Nachfragen hin nicht. Nachdem die »letzten deutschen Mieter« der Gegend – wie sie sich selbst bezeichneten – ihrem Ressentiment in einem Rundschreiben freien Lauf gelassen hatten, griff auch die NPD die antiziganistische Agitation auf und begrüßte in einer Pressemeldung ausdrücklich die Gründung einer Bürgerwehr.

Zu ähnlichen Vorkommnissen wie in Leipzig war es bereits in den letzten Monaten des Jahres 2009 in Bremen gekommen, als sich eine Bürgerinitiative über vermeintliche Missstände in ihrer Straße ereiferte und der NDR mehrere antiziganistische Berichte sendete. In Bremen wie auch in Leipzig trafen bloße Mutmaßungen auf tradierte Klischees und verdichteten sich so zu handfester Stimmungsmache.

Dies gilt auch für das sächsische Schneeberg, wo im Oktober 2010 rund einhundert mazedonische Asylbewerber_innen untergebracht wurden. Ein Absatz aus der Lokalpresse fasst den ganzen Wahn dieser Stimmung unfreiwillig gut zusammen: »Ein heikles Thema beschäftigt derzeit die Menschen in Schneeberg: die Flüchtlinge, die in der ehemaligen Kaserne untergekommen sind. Rund 100 Menschen aus Mazedonien wohnen dort. Sie zählen zu den Sinti und Roma. Mit ihnen kam die Angst vor Kriminalität nach Schneeberg. Die Befürchtung, die Fremden könnten das Zusammenleben empfindlich stören. Und das Gefühl, man dürfe derartige Gedanken nicht offen äußern.«www.freiepresse.de/NACHRICHTEN/REGIONALES/ERZGEBIRGE/AUE/7505487.php

Dass die Polizei auch in diesem Fall keinen Anstieg der Kriminalität feststellen konnte, vermag die Schneeberger_innen nicht zur Besinnung zu bringen. Erst die Ankündigung auf einer von der NPD beantragten Bezirksversammlung, dass die Unterkunft mit Sicherheit innerhalb der nächsten zwölf Monate wieder geschlossen werde, brachte die Stammtische dazu, ihrem Furor nicht gewaltförmig Ausdruck zu verleihen.

Jene Angst, »die Fremden könnten das Zusammenleben empfindlich stören« wurde angeheizt von Medien wie dem Spiegel, die im November 2010 die passenden Schlagzeilen lieferten: »Sinti und Roma: Asylbewerberwelle vom Balkan beunruhigt Länder«. Die Bundespolitik reagierte: Als erste Sofortmaßnahme wurde beschlossen, Asylbewerber_innen aus Mazedonien und Serbien die Rückkehrhilfen zu streichen, weil »nicht auszuschließen ist, dass die Beihilfe der eigentliche Grund für die Einreise war«, wie der Spiegel das Bundesinnenministerium zitiert.Beide Zitate von http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,729006,00.html So sieht die »historische Verantwortung« gegenüber den im Nationalsozialismus Verfolgten und ihren Nachfahr_innen in Deutschland 2010 aus. Zur Erinnerung: Harald Turner, der Chef der deutschen Militärverwaltung in Serbien, brüstete sich bereits 1942 damit, Serbien als »einziges Land, in dem Judenfrage und Zigeunerfrage gelöst«Ernst Klee, Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945, Frankfurt a. M. 2005, 633. seien, präsentieren zu können. Dass auch und in erster Linie zentral-, ost- und südosteuropäische Roma Opfer des nationalsozialistischen Massenmordes wurden, stellt im deutschen Geschichtsbewusstsein einen blinden Fleck dar. Folglich findet diese Tatsache auch in Debatten um Aufenthaltsrecht oder vermeintlichen »Asylmissbrauch« keine Berücksichtigung.

Das öffentliche Erinnern an den nationalsozialistischen Massenmord an als ›Zigeuner‹ stigmatisierten Menschen bleibt im deutschen Gedenkdiskurs insgesamt eher randständig. Eine löbliche Ausnahme stellte beispielsweise eine auf Initiative der Geschichtswerkstatt Merseburg aufgestellte Stele zur Erinnerung an die im Nationalsozialismus ermordeten Merseburger Sinti und Roma dar. Dieser im Dezember 2009 eingerichtete Gedenkort wurde allerdings bereits im Verlauf des Jahres 2010 drei Mal geschändetzentralrat.sintiundroma.de/content/downloads/presseschau/198.pdf.

Spezifisch postnazistisch muss in diesem Zusammenhang auch das von der Freien Presse erwähnte übermächtige Gefühl, »derartige Gedanken nicht offen äußern« zu dürfen, interpretiert werden. Hier zeigt sich die Imagination eines Sprechverbotes und das Bedürfnis, dies endlich ablegen zu dürfen. Ebenso kann das Bedürfnis, nicht von einer kritischen Erinnerungskultur an die Verbrechen gemahnt zu werden, als Element eines spezifisch deutschen Antiziganismus nach 1945 gelten.

Offensichtlich fühlte sich ein U-Bahnfahrer in Hamburg Anfang November 2010 von einem solchen imaginierten Sprechverbot nicht eingeschränkt. Das Zusteigen einer Gruppe von Musiker_innen kommentierte er per Lautsprecher folgendermaßen: »Sehr geehrte Fahrgäste, bitte passen Sie auf Ihre Wertsachen auf… Es sind Zigeuner im Zug«. An dieser Durchsage störte sich offenbar nur einer der Fahrgäste genug, um beim Hamburger Verkehrsverbund Beschwerde einzureichen. Dort bekundete man, den Vorfall aufklären und den betreffenden Mitarbeiter zur Verantwortung ziehen zu wollen.fotoagentur.wordpress.com/2010/11/18/u-bahn-hamburg-vorsicht-es-sind-zigener-im-zug/ Für die anderen Fahrgäste der U-Bahn kann angenommen werden, dass sie den Zusammenhang zwischen Diebstahl und ›Zigeunern‹ genauso selbstverständlich herstellen konnten wie ihr U-Bahnfahrer oder die Schneeberger Bürger_innen.

Die geschilderte Gemengelage aus Medienhetze, mobilisiertem Volk, Politiker_innen, die ihren Ressentiments freien Lauf lassen und offen rechter Agitation stellt die Mischung dar, die sich in der BRD, speziell nach der sogenannten »Wiedervereinigung« bereits in den neunziger Jahren, in verschiedenen Fällen zu pogromartigen Ausschreitungen zugespitzt hat. Die Konstellation kurz vor den antiziganistischen Pogromen in Rostock-Lichtenhagen 1992Die Pogrome in Rostock-Lichtenhagen können nicht allein aus antiziganistischer Motivation heraus erklärt werden. Vielmehr lag hier ein Gemenge verschiedener rassistischer Ressentiments vor. war durchaus ähnlich: Überfüllte Aufnahmelager für Asylbewerber_innen, antiziganistische Stimmungsmache von Seiten der radikalen Rechten (damals hauptsächlich durch die DVU), Unterstützung aus dem BlätterwaldDer Spiegel 36/1990 titelte beispielsweise »Asyl in Deutschland – Die Zigeuner«., Zeter und Mordio schreiende »Bürgerinitiativen« und Anwohner_innen voller Ressentiments.

Für die Ereignisse in Leipzig-Volkmarsdorf, Bremen und Leverkusen kann erfreulicherweise festgehalten werden, dass Gegenaktivitäten organisiert wurden: In Leverkusen fanden Aktionen antifaschistischer Gruppen gegen die Demo von ProNRW statt und in Leipzig-Volkmarsdorf wurde ein antirassistisches Fußballturnier mit jugendlichen Roma aus jener Gegend unter dem Motto »Abspielen statt Abgrenzen – Bürgerwehr und Rassismus wegkicken« ausgetragen. Erstaunlichen Erfolg konnte die Bremer Gruppe Polypol mit ihrer inhaltlichen Kritik an der Berichterstattung des NDR erreichen: Die antiziganistischen Beiträge wurden von der Homepage gelöscht.

Von Arbeitsgruppen und anderen Übeln

In Leipzig zeigte sich noch ein weiteres häufig auftretendes Phänomen im Gesamtkomplex des bundesdeutschen Antiziganismus: Vermeintlich wohlmeinende regionale oder städtische Akteur_innen schließen sich zu Runden Tischen oder Bündnissen zusammen, um die vorgeblich anstehenden Probleme zu beheben. Hier gründete sich im Rahmen des Aktionsbündnisses Sicherheit im Leipziger Osten, eines Zusammenschlusses aus Behörden, Initiativen und Vereinen eine AG Roma. Diese machte die anwohnenden Roma für »Lärm« und »Verschmutzung« verantwortlich und empfahl »Bürgern mit Zivilcourage« die Roma »beherzt anzusprechen«Siehe das Flugblatt »Rassistische Stimmungsmache gegen Roma in Volkmarsdorf«, das in Leipzig verteilt wurde.. Die Sprache solcher AGs ist meist eher gemäßigt, Ressentiments werden nicht offen geäußert, sondern fließen eher unterschwellig ein. Häufig sind aber bereits die Namen entlarvend. Worin der Zusammenhang zwischen Roma und der »Sicherheit im Leipziger Osten« besteht, bliebe unklar, ohne das Wissen um die lang tradierte Stigmatisierung von Roma zum »Sicherheitsproblem«. Ebenso unvermittelt benannte sich die AG Illegales Wohnen im Berliner Stadtteil Wedding, die sich seit mindestens 2009 trifft, Anfang 2010 umstandslos in AG Roma um, auch hier muss der Zusammenhang im Ressentiment gesucht werden. Sie besteht aus Vertreter_innen verschiedener Ämter, der Polizei und Anwohner_innen-Initiativen, aus Sozialarbeiter_innen sowie – im Gegensatz zur Leipziger AG – aus Roma-Vertreter_innen. Wurde die AG zunächst gegründet um sich mit der namengebenden vermeintlichen Problematik des »Illegalen Wohnens« zu befassen, ist sie nun damit befasst, alle »Probleme«, die vermeintlich mit der Anwesenheit von Roma zusammenhängen, anzugehen.

Bereits in der Perspektive auf Angehörige der Minderheit der Sinti und Roma und andere als ›Zigeuner‹ und ›Landfahrer‹ Stigmatisierte als zu lösendes Problem wird die antiziganistische Tradition des polizeilichen und ordnungspolitischen Zugriffs reproduziert. Unter unverfänglichen Namen wie »Arbeitsgruppe« oder »Runder Tisch« übernehmen Ordnungs-, Sozial- und Jugendämter aber auch nichtstaatliche Akteur_innen wie Quartiersmanagment, Ortsvereine und Sozialarbeiter_innen die Aufgabe, für »Sicherheit und Ordnung« zu sorgen. Die ordnungspolitische Arbeit solcher AGs kann als weichgespülte Variante der früheren ›Landfahrerzentralen‹ der LKAs verstanden werden. Auch dort war es jahrzehntelang üblich, sprachlich abzurüsten, ohne den grundsätzlichen Ansatz zu überdenken. In dieser Tradition steht unter anderem auch der von ProNRW verwendete Begriff der »mobilen ethnischen Minderheit«, der als »MEM«-Kategorie in verschiedenen Polizei-Formularen gebildet wurde. Bereits die historische Konstruktion der Kategorie ›Zigeuner‹ ist auf ordnungspolitische und polizeiliche Maßnahmen zurückzuführen. Im 16. und 17. Jahrhundert setzte sich diese als Sammelbezeichnung für alle möglichen als deviant angesehene Gruppen durch.Leo Lucassen, Zigeuner. Die Geschichte eines polizeilichen Ordnungsbegriffes in Deutschland 1700-1945, Köln 1996. Zur Tradition der polizeilichen Erfassung in Deutschland nach 1945 Wolfgang Feuerhelm, Polizei und »Zigeuner«, Stuttgart 1987.

Werden von den zeitgemäßen AGs praktische Maßnahmen ergriffen, treten die Ressentiments meist wieder offen zutage. Dies wird beispielsweise an dem Plan der Weddinger AG Roma deutlich, Handzettel mit Piktogrammen zu drucken und an Roma im Viertel zu verteilen. Auf diesen waren stereotype Darstellungen von »unerwünschten Verhaltensweisen«, die Roma angeblich aufweisen, zu sehen. Wie aus dem internen Schriftverkehr der AGDieser liegt den Verfasser_innen in Teilen vor. hervorgeht, ging es den beteiligten Polizeibeamt_innen darum, das »unerwünschte Sozialverhalten nicht-sesshafter Osteuropäer (Roma)« zu unterbinden. Zwar werden die von der AG Roma bei einem Grafiker in Auftrag gegebenen Piktogramme infolge interner Kritik in der Praxis nicht eingesetzt, was jedoch nichts daran ändert, dass offenbar bei einigen Beteiligten eine Sicht auf Roma vorherrscht, die diese pauschal mit vermeintlichen Missständen in Verbindung bringt und so zum »Problem« erklärt.

Auch die Berliner Schulbehörde scheint eine ähnliche Sichtweise zu teilen, wie aus ihrer Herangehensweise an eine Affäre im Berliner Stadtteil Neukölln im Januar dieses Jahres deutlich wird. Dort wird nicht gemeldeten Kindern mit Roma-Hintergrund der Schulbesuch verweigert, obwohl im Berliner Schulgesetz ausdrücklich festgehalten ist, dass eine Beschulung unabhängig von Aufenthalts- oder Meldestatus erfolgen muss. Nachdem sich eine mediale Debatte um dieses Thema ergeben hat,www.tagesspiegel.de/berlin/roma-kinder-zum-schwaenzen-verurteilt/3704724.tml. forderte die Schulsenatorin daraufhin alle Bezirke auf, Fragebögen auszufüllen, in denen detailliert abgefragt wurde, in welcher Schule wie viele Schüler_innen mit Sinti- oder Roma-Hintergrund beschult werden und wie deren Motivation und Elternhaus einzuschätzen sei. Dass die Zugehörigkeit der betroffenen Kinder zu einer »nationalen Minderheit« für sie nicht von Interesse zu sein hat, dass sie stattdessen lediglich dafür zu sorgen hat, dass alle Kinder gesetzesgemäß beschult werden, kam ihr dabei offensichtlich nicht in den Sinn.

Wir wollen diesen Bericht als Versuch verstanden wissen, auf die vielen, teils sublimen Formen hinzuweisen, in denen Antiziganismus aktuell auftritt. Ein solcher Bericht kann und will keine Vollständigkeit beanspruchen. Vorfälle wie die hier behandelten, kann es noch unzählige mehr gegeben haben. Sie sollen exemplarisch stehen für die Gegenwart eines breiten Spektrums antiziganistischer Praxen in Deutschland. Durch die Aufzählung solcher Ereignisse kann allerdings die alltägliche Dimension des Antiziganismus nicht sichtbar gemacht werden: Die ›ganz gewöhnliche‹ Diskriminierung auf der Straße, im sozialen Umgang und die strukturelle Diskriminierung durch Ämter und Behörden, die flankiert wird durch eine Wissenschaft, die sich der ›Erforschung‹ der »Kulturen der Roma/Zigeuner«So die Konzeption des von Bernhard Streck geleiteten Forum Tsiganologische Forschung an der Universität Leipzig. http://www.uni-leipzig.de/~ftf/konzept/konzept.html verpflichtet hat.

Forum Antiziganismuskritik

Das Forum besteht seit 2010 mit dem Ziel, eine Kritik des Antiziganismus auf praktischer wie theoretischer Ebene anzustoßen und weiter zu führen.