Kollektive Amnesie

Aufstände der Anständigen sind Teil des Problems und nicht der Lösung

Wenn Deutsche den Begriff »Anstand« verwenden, sollte man besser in Deckung gehen. Spätestens seit Heinrich Himmlers »Posener Rede« Himmler sprach am 4. Oktober 1943 in Posen vor SS-Führern. In seiner Rede kam auch der viel zitierte Satz vor: »Von euch werden die Meisten wissen, was es heißt, wenn 100 Leichen beisammen liegen, wenn 500 daliegen oder wenn 1000 daliegen. Dies durchgehalten zu haben, und dabei – abgesehen von Ausnahmen menschlicher Schwächen – anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht […].« Zit. n. https://bit.ly/3kidyXY. aus dem Jahre 1943, in welcher der »Reichsführer SS« die soldatische Pflichterfüllung, den automatisierten Ablauf von Befehl und Gehorsam, entsprechend würdigte, weiß man, dass auch Kriegsverbrecher »anständige« Menschen sein können. In diesem besonderen Fall belobigte der »Reichsführer SS« die Erschießung von Juden, Rotarmisten, Partisanen sowie Bürgern im »Generalgouvernement«. Und auch wenn die Repräsentanten eines »anderen«, besseren Deutschlands nichts dergleichen im Sinn haben, wenn sie in unregelmäßigen Abständen zum zivilgesellschaftlichen »Aufstand der Anständigen« gegen die Enkel und Urenkel Hitlers und Himmlers aufrufen, lohnt es sich, genauer hinzuschauen. Angesichts des Mordes an Walter Lübcke in Kassel und der Anschläge von Halle und Hanau forderte Bundespräsident Frank- Walter Steinmeier im Frühjahr in einer Rede die Nation und besonders die »Zivilgesellschaft« auf, den »Anstand zurückzugewinnen«. Dabei stellt sich nicht nur die Frage, was dieser »Anstand« genau sein soll, sondern auch wo und warum er angeblich verloren ging? 

Der Psychoanalytiker und Soziologie Helmut Dahmer versucht sich der Sache zu nähern, indem er erklärt, Warum nach Halle vor Halle ist. Der Untertitel seiner kürzlich erschienenen Sammlung von älteren und neuen Aufsätzen mit dem Titel Antisemitismus, Xenophobie und pathisches Vergessen weist darauf hin, dass die Geschichte rechter Gewalt und der Reaktionen darauf in Deutschland auch immer eine Geschichte des Verdrängens und Vergessens ist. »Die kollektive Gedächtnisschwäche hat eine Vorgeschichte «, schreibt Dahmer: Sie »wurde in Deutschland im Frühjahr 1945 eingeübt, als die in Krieg, Raub und Massenmord ›verstrickte‹ Volksgemeinschaft durch einen Sprung in die Amnesie sich zu salvieren suchte« Helmut Dahmer, Antisemitismus, Xenophobie und pathisches Vergessen. Warum nach Halle vor Halle ist. Münster 2020, 9.. Auschwitz, der Vernichtungskrieg der Wehrmacht und das Vergessen darüber, das sich nicht nur im Verdrängen der Taten ausdrückte, sondern auch darin, dass die Millionen TäterInnen und MitläuferInnen größtenteils straffrei blieben, sind, so Dahmer, das unbewusste »kulturelle Erbe« einer jeden Generation. Rechte Gewalttaten werden folglich als »unfassbar « und »unvorstellbar« bezeichnet, weil nicht erkannt wird, dass der Terror seine Wurzeln in der Mitte der Gesellschaft hat. Die »Aufstände der Anständigen« beginnen auch deshalb stets bei der »Stunde Null«, löschen vorherige aus dem Gedächtnis, sind von kurzer Dauer und bleiben fast immer ohne Folgen, weil sie die Kontinuität verleugnen und die gesellschaftlichen Ursachen ignorieren. 

Gerhard Stapelfeldt hat sich im Anschluss an die Kritische Theorie mit dem »Niedergang des Individuums« und der damit verbundenen Genese des »Autoritären Charakters« befasst. Die entsprechende Gesellschaft sei eine »total bewusstlose, also erinnerungs- und hoffnungslose Gesellschaft, […] hinter die nichts zurück-, über die nichts hinausweist: eine Gesellschaft, die jede Kritik verstellt, die einzig die Anpassung fordert« Gerhardt Stapelfeldt, Aufstieg und Fall des Individuums. Kritik der bürgerlichen Anthropologie, Freiburg 2014, 528. Auf die postnazistische BRD übertragen heißt das: »Der Zusammenhang von Masse und Sozialatom hat sich unter dem Nationalsozialismus zum Zusammenhang von Volksgemeinschaft und autoritärem Charakter entwickelt und nimmt nun, unter dem Neoliberalismus, den Zusammenhang von Gemeinschaft und konformistischem Sozialatom an.« Ebd., 717. Sie duldet nichts »Fremdes« oder – mit Adorno zu sprechen – »Nichtidentisches «, das die bestehende Ordnung bedroht. Dabei spielt es keine Rolle, ob diese Bedrohung real oder imaginiert ist – auch, weil die bestehende Ordnung nicht hinterfragt wird. Was als freiwilliger Konformismus erscheint, ist ein allgemeiner Autoritarismus in all seinen unterschiedlichen Schattierungen. Selbst dann, wenn er gut gemeint ist. Die »konformistische Rebellion« manifestiert sich in der Gegenwart nicht nur in der autoritären und rassistischen Mobilisierung beispielsweise von Pegida, AfD oder anderen rechtsextremen bis neonazistischen Gruppierungen, sondern zum Teil auch in den Verhaltensmustern derer, die sich in Opposition zu ihnen wähnen. Ihnen gemein ist ein Gefühl der Zugehörigkeit zur Einheit – zur Nation, zur Zivilgesellschaft, beziehungsweise im Nationalsozialismus: zur nach innen und außen homogenisierten Volksgemeinschaft, die den Rahmen bilden, über den hinaus nichts denkbar ist. Alle handeln im Namen Deutschlands, im Falle des »Aufstands der Anständigen« eines anderen, »besseren « Deutschlands. »Die Volksgemeinschaft war zum klassenübergreifenden, gar klassenvernichtenden Fundament des Staates geworden. […] Das kapitalistische Deutschland bewältigt den Nationalsozialismus, indem es seiner Lebenslüge, die Demokratie hätte mit dem Führer nicht das Geringste gemein, bis zur Selbsthypnose verfiel« Joachim Bruhn, Was deutsch ist. Zur kritischen Theorie der Nation, Freiburg/Wien 2019, 78f., schreibt Joachim Bruhn mit Blick auf die Gründung der Bundesrepublik und der DDR, als die Grundlagen dafür gelegt wurden, dass selbst die Schuld nur im Kollektiv zu bewältigen und zu vergessen sei. Oder wie es Max Horkheimer mit Blick auf Auschwitz und dessen Verschwinden aus der Öffentlichkeit in seinen Notizen beschreibt: »Das Wir zu bewahren war die Hauptsache. […] Das ›Wir‹ ist die Brücke, das Schlechte, das den Nazismus möglich machte.« Max Horkheimer, Notizen 1950 bis 1969 und Dämmerung, Frankfurt a.M. 1974, 200.

 

Die zivilisierte Volksgemeinschaft 

Mit Kriegsende war der institutionelle Rahmen des entfesselten, eliminatorischen Antisemitismus zwar zunächst verschwunden und damit auch die institutionalisierte Autorität der Volksgemeinschaft. Durch die Konfrontation mit den Toten und Überlebenden von Auschwitz, Bełżec, Chełmno, Majdanek, Sobibór und Treblinka wurde die Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden jedoch nur scheinbar sichtbar; die Auseinandersetzung blieb rein äußerlich. Für die sechs Millionen Jüdinnen und Juden, die sowohl industriell ermordet wurden als auch von Einsatzgruppen erschossen wurden, und die rund 30 Millionen SowjetbürgerInnen, die dem Vernichtungsfeldzug der Wehrmacht zum Opfer fielen, war kein Platz im Alltag der Nachkriegsgesellschaft. 

Es entstand die Fiktion vom »anständigen Deutschen«, der einer Figur entsprach, »die unbeschadet ihrer wirklichen Taten und Unterlassungen in der Seele, im Herzen so rein geblieben ist wie der sprichwörtliche arglose deutsche Michel« Wolfgang Pohrt, Gewalt und Politik. Ausgewählte Reden & Schriften, Berlin 2010, 245., wie Wolfgang Pohrt in seinem Vortrag Das »andere« Deutschland im Jahr 1986 anmerkt. Er spricht in diesem Zusammenhang von der »antifaschistischen Legende als Basis völkischer Kontinuität« und zitiert aus einer Rede des damaligen SPD-Vorsitzenden Kurt Schumacher, die dieser 1946 auf dem ersten Parteitag der Sozialdemokraten nach dem Zweiten Weltkrieg gehalten hat: »Wenn jemand von draußen nach Deutschland kommt, dann erlebt er […] das eine große Wunder, dass nach zwölf Jahren Diktatur noch so viele Menschen anständig geblieben sind. Und er erlebt das andere Wunder, dass beim Kampf, anständig zu sein, auch Tapferkeit gezeigt wird.« Ebd. Schumachers Genosse, der ehemalige Offizier und spätere Bundeskanzler Helmut Schmidt, bezeichnete später die deutsche Wehrmacht als »einzigen anständigen Verein« im »Dritten Reich«. Die Mär von der »sauberen« und »anständigen« Wehrmacht hatte die Kapitulation ebenso überlebt wie später den antiautoritären Aufstand der Achtundsechziger. Der Widerstand gegen die erste Wehrmachtsausstellung Die 1995 eröffnete Ausstellung Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944 versuchte, gegen die Legende von der »sauberen Wehrmacht« anzugehen. Die vom Historiker Hannes Herr kuratierte Wanderausstellung wurde trotz schärfster Proteste, an denen sich Mitglieder von CDU/CSU wie auch militante Neonazis beteiligten, in 34 österreichischen und deutschen Städten gezeigt und hatte fast eine Million BesucherInnen. 1999 wurde sie vom Direktor des federführenden Hamburger Instituts für Sozialforschung Jan Philipp Reemtsma wegen angeblich gefälschter Fotos zurückgezogen. Ein Jahr später, nach Prüfung durch eine internationale Historikerkommission, war die Ausstellung rehabilitiert. Ohne diese Überprüfung abzuwarten, hatte Reemtsma eine entschärfte Fassung vorbereitet. Darin kamen etwa Fotos, die von den Landsern selbst geknipst worden waren, nicht mehr vor, und an der Erforschung der Mordbeteiligung der Soldaten, von denen zehn Millionen allein an der Ostfront eingesetzt waren, bestand kein Interesse mehr. Diese »bereinigte« Ausstellung stieß auf größte Zustimmung bei Regierung, Bundeswehr, Union und reaktionären Teilen der SPD. Vgl. Hannes Heer, »Es ist eine Sisyphusarbeit«, Interview in: Jungle World vom 13.02.2020, 8ff. Mitte der neunziger Jahre steht beispielhaft dafür, dass viele Deutsche bis in die Mitte der Gesellschaft hinein nicht wissen wollten, dass deutsche Soldaten im Zweiten Weltkrieg millionenfach an Kriegsverbrechen, Erschießungen und Vernichtungen beteiligt waren. 

»Erinnerungslosigkeit gehört zum sozialen und kulturellen Haushalt unserer modernen Gesellschaft, der jedermann verschiedene Varianten des Vergessens anbietet« Detlev Claussen, Grenzen der Aufklärung. Die gesellschaftliche Genese des modernen Antisemitismus, Frankfurt a.M. 1994, 36., schreibt der Sozialwissenschaftler und Adorno-Schüler Detlev Claussen. Der von Adorno in seinem Hauptwerk Negative Dialektik formulierte kategorische Imperativ, »dass Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe« Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt a.M. 1966, 356., bleibt daher aktuell, gerade in einer Gesellschaft, die sich weigert, zu verstehen, was Auschwitz war und welche gesellschaftlichen Bedingungen den Massenmord an den europäischen Jüdinnen und Juden ermöglichten. Dafür bedürfe es »eines geschichtlichen Bewusstseins «, so Claussen, das nur »Resultat einer intellektuellen und emotionalen Anstrengung« Claussen, Grenzen der Aufklärung, 37. sein könne. Doch genau daran scheitert es in der Regel, wie auch die jüngsten Reaktionen auf die Ereignisse von Kassel, Halle und Hanau zeigen: Die Taten gelten nicht nur als »unfassbar« und »unvorstellbar«, sie werden in der Regel auch als die eines »Einzeltäters« oder eines »Verrückten« dargestellt – als hätte es den NSU, hätte es Mölln, Solingen, Lichtenhagen, Hoyerswerda und die vielen anderen rechten Morde und Pogrome seit 1990 nicht gegeben, als gebe es kein gesellschaftliches Klima, in dem Hetze und latenter wie manifester Hass auf alles »Fremde« und »Undeutsche« entstehe.

 

Die freigesprochenen Täter 

Mehr als 200 Todesopfer rechter Gewalt zählt die Amadeu Antonio Stiftung allein seit der Wende. Und auch davor war Terror von rechts präsent – wenn auch nicht im Bewusstsein der Öffentlichkeit 1980 warfen zwei Gefolgsleute des Anwalts und Neonazis Manfred Roeder eine Brandbombe in das Fenster einer Unterkunft vietnamesischer Geflüchteter. Zwei Menschen starben. Im gleichen Jahr wurden der jüdische Verleger und Rabbiner Shlomo Lewin und seine Lebensgefährtin Frieda Poeschke ermordet. Täter war Wehrsportgruppen-Mitglied Uwe Behrendt. Helmut Oxner, ein dem Verfassungsschutz bekannter Neonazi, erschoss 1982 in einem Nürnberger Club drei Menschen mit dem Ruf »Es lebe der Nationalsozialismus!«.. Das Münchner Oktoberfest-Attentat von 1980 mit 13 Toten ist vielleicht der bekannteste rechtsextremistische Terrorakt. Auch hier einigten sich Politik, Behörden und Öffentlichkeit früh auf die Version des Einzeltäters, obwohl der Attentäter Gundolf Köhler nachgewiesenermaßen Mitglied der neonazistischen Wehrsportgruppe Hoffmann war. Bayerns damaliger Ministerpräsident und Kanzlerkandidat der Union, Franz Josef Strauß, sprach unmittelbar nach dem Anschlag sogar von »linkem Terror« Strauß hatte sich trotz gesicherter Erkenntnisse geweigert, die Wehrsportgruppe als verfassungsfeindliche Organisation zu verbieten. Schließlich war es Bundesinnenminister Gerhart Baum (FDP), der das Verbot durchsetzte und dafür von Teilen der Union und der eigenen Partei kritisiert wurde.. Die Äußerung und die gesamte Aufarbeitung waren Beleg dafür, dass nicht sein konnte, was nicht sein durfte: Rechten Terror gab es in der Wahrnehmung der Bonner Republik nicht, da das Gespenst des Nationalsozialismus spätestens mit der Gründung der BRD als vertrieben galt. Schließlich hatte Bundeskanzler Konrad Adenauer 1960 verkündet: »Im deutschen Volkskörper, im moralischen Leben des deutschen Volkes, gibt es heute keinen Nationalsozialismus mehr, kein nationalsozialistisches Empfinden. Wir sind ein Rechtsstaat geworden.« Sein Kanzleramtschef Hans Globke war das beste Beispiel dafür: Er hatte sich vom Kommentator der »Nürnberger Gesetze« zum »aufrechten Demokraten« gewandelt.

Die Bereitschaft, zu ergründen, was der Nationalsozialismus war, worin seine Vorbedingungen bestanden und weshalb Auschwitz möglich wurde, wuchs im Nachkriegsdeutschland äußerst langsam. Die Verhaftung Adolf Eichmanns durch den Mossad 1960 und der vom hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer gegen viele Widerstände aus Justiz, Politik und Bevölkerung initiierte erste Frankfurter Auschwitz-Prozess, der von 1963 bis 1965 stattfand, waren erste Meilensteine auf dem Weg dahin, das Schweigekartell der Nachkriegszeit zu durchbrechen. Die antiautoritäre Revolte der Achtundsechziger knüpfte daran an, ohne das Bewusstsein der Massen nachhaltig und substanziell zu verändern. Der Aufstand hatte sich unter anderem gegen das Vergessen und Verdrängen der Eltern-, vor allem Vätergeneration gerichtet; gegen die TäterInnen, MitläuferInnen und ZuschauerInnen. Es war ein kurzer Bruch mit der Kultur des Schweigens, Relativierens und Revidierens: Spätestens in den 1980er Jahren einigte sich die APO weitgehend auf ein zivilgesellschaftliches Engagement im Namen des »anderen Deutschlands« als kleinsten gemeinsamen Nenner – mit den Grünen als parlamentarischem Arm. Die Ex-Maoistin und damalige Grünen-Abgeordnete Antje Vollmer konnte schließlich am 9. August 1990 im Bundestag Bilanz ziehen und behaupten: »Die europäische Welt hat keine Angst mehr vor den Deutschen, weil wir 1968 aufgebrochen sind, weil wir das Law-and-Order-Denken herausgeblasen haben aus diesem Land, weil wir, eine andere Generation, diese deutsche Gesellschaft gründlich zivilisiert haben.« Drei Monate später wurden die Grünen aus dem Bundestag gewählt, weil sie nur zögerlich in den Chor der wiedergeborenen PatriotInnen einstimmen wollten. Ein »Fehler«, den sie nicht wiederholen sollten. Noch etwas später brannten schließlich Unterkünfte und Wohnungen von MigrantInnen, in den Flammen starben acht Menschen, hunderte wurden zum Teil schwer verletzt. 

Die kritische Auseinandersetzung mit dem »Dritten Reich« blieb trotz der Achtundsechziger zunächst auf Wissenschaft, Justiz und eine politisch interessierte Minderheit beschränkt. Erst die Fernsehserie Holocaust erreichte 1979 einen Großteil der deutschen Wohnzimmer. Der Empörung über die Taten folgte allerdings schnell das Vergessen. Der Massenmord an den europäischen Jüdinnen und Juden, vermittelt durch das Fernsehen, berührte allenfalls die Oberfläche seines Wesens, wie auch Detlev Claussen anmerkt: »Nicht die gesellschaftliche Erinnerungsschwäche hat Auschwitz in einen Nebel der Vergangenheit gehüllt, sondern der kulturindustrielle Artefakt, den man ›Holocaust‹ nennt, hat Auschwitz verdrängt: Das Stichwort ›Holocaust‹ besitzt inzwischen eine sinnstiftende Funktion, weil es einen emotionalen Fluchtpunkt, vor der intellektuellen Erinnerung erfahrener Sinnlosigkeit bietet.« Claussen, Grenzen der Aufklärung, 8. Der Vorgang sollte sich anderthalb Jahrzehnte später im Zusammenhang mit Steven Spielbergs Kinofilm Schindlers Liste wiederholen. Claussen nennt es eine »Rationalisierung von Auschwitz durch Emotionalisierung«. Ebd., 13.

Claude Lanzmanns Film Shoah, der dokumentarisch angelegt ist und Opfer, TäterInnen und HistorikerInnen zu Wort kommen lässt, wurde dagegen nur von einer Minderheit gesehen, die sich der brutalen Realität von Auschwitz und der anderen Vernichtungslager stellen wollte. Die Erfahrungen in den Vernichtungslagern prägten das Leben der Opfer und – auf ganz andere Art – das der TäterInnen nachhaltig. Im Gegensatz zu den Überlebenden der Shoah funktionierten Letztere in der Nachkriegsgesellschaft allerdings so, als sei nichts geschehen. Das zeigte sich auch in der Rezeption von Eberhard Fechners Dokumentation Der Prozess über das Düsseldorfer Majdanek-Verfahren Der Majdanek-Prozess vor dem Düsseldorfer Landgericht dauerte von 1975 bis 1981 und war das bis dahin längste Strafverfahren der bundesdeutschen Geschichte. 15 Frauen und Männer mussten sich verantworten, die zwischen 1942 und 1944 in verschiedenen Funktionen im Konzentrations- und Vernichtungslager Lublin/Majdanek als Angehörige der Lagermannschaft tätig waren.. Der Film wurde erstmals 1984 in den dritten Programmen der ARD ausgestrahlt, da die Programmverantwortlichen ihn wegen seiner »künstlerischen Strenge« nicht für das Hauptprogramm geeignet hielten. »So wird dieser Film wieder bloß Menschen erreichen, die die Schuld der Deutschen an nationalsozialistischen Verbrechen ohnehin nicht vergessen haben. Aber er wird all jenen erspart, die verdrängen oder gar leugnen wollen, was von deutschen Menschen in den Konzentrationslagern getan worden ist«, klagte Fechner. Erst 1991 wurde Der Prozess im Nachtprogramm der ARD gezeigt oder besser: versteckt.

 

Zweierlei Befreiung 

Die 1980er und 90er Jahre markierten in Teilen eine erinnerungspolitische Rückkehr hin zu Positionen, die überwunden schienen. Die Befreiung, die der damalige Bundespräsident und vormalige CDUPolitiker Richard von Weizsäcker am 40. Jahrestag der Kapitulation Deutschlands im Zweiten Weltkrieg gegen den Widerstand des Stahlhelmflügels der Union und anderer RevisionistInnen verkündete, war in Wirklichkeit eine Befreiung vom schlechten Gewissen, das alle jene umtrieb, die noch mindestens bis Stalingrad an den Endsieg Deutschlands geglaubt hatten. Jene waren ein Vielfaches derer, die tatsächlich befreit wurden: die wenigen Überlebenden der Vernichtungs- und Konzentrationslager, die Inhaftierten, Untergetauchten und Geflüchteten. 

Kurz zuvor, nach dem Regierungswechsel im Jahr 1982 hatte der neue Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) eine »geistig moralische Wende« eingefordert. Wie diese aussehen könnte, wurde schnell deutlich, als er sich kurz nach seinem Machtantritt für eine »menschlich anständige Rückführung der Türken in ihre Heimat« aussprach. Es war ein deutliches Zeichen an die GastarbeiterInnen, die mitunter schon in der zweiten und dritten Generation in Deutschland lebten, dass ihre Heimat jenseits von Rhein und Ruhr liege. Und spätestens die Wiedervereinigung war für nicht Wenige, auch in der Mitte der Gesellschaft, eine Art nationales Erweckungserlebnis. Es folgten die pogromartigen Ausschreitungen von Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen und die Brandanschläge von Solingen, Hünxe, Mölln oder Lübeck. Der damalige Innenminister Rudolf Seiters (CDU) sagte in dem Zusammenhang, dass »große Teile der Bevölkerung besorgt über den massenhaften Zustrom von Asylbewerbern« seien. Seine Konsequenz: »Wir müssen handeln gegen den Missbrauch des Asylrechts.« Vgl. »Das ›Versagen‹ war gewollt. Polizei und Politik in Rostock «, in: Analyse und Kritik, 19.11.1992. Medien wie Spiegel und Bild stimmten in den Chor ein und machten der rechtsradikalen Nationalzeitung des Vorsitzenden der Deutschen Volksunion Gerhard Frey Konkurrenz. Der Spiegel schrieb im September 1991: »In den ersten sieben Monaten dieses Jahres haben rund 234.000 Menschen politisches Asyl beantragt. Bis Ende des Jahres, so schätzt Gerhard Groß, neuer Präsident des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge, werden es etwa 500.000 sein«, und folgerte daraus: »Das Boot ist voll!« Zur Veranschaulichung war auf dem Titelbild der Ausgabe vom 9. September 1991 ein mit Hochhäusern und Shoppingmalls zugebautes, überfülltes Holzboot zu sehen, das Tausende Menschen beherbergt. Auf Transparenten stehen Sprüche wie: »Illegale Einwanderung« oder »Volkszorn «. Darüber prangt in fetten Lettern: »Ansturm der Armen« und als Untertitel: »Flüchtlinge, Aussiedler, Asylanten.« Vgl. Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung (DISS), SchlagZeilen. Rassismus in den Medien, Duisburg 1992, 34f. Die Botschaft war eindeutig. Dass die Republikaner im Juni 1991 zur Wahl der Hamburger Bürgerschaft auf ihren Plakaten das gleiche Motiv benutzt hatten, störte kaum. 

Autonomen und antifaschistischen Gruppen gelang es zwar vor allem in den westlichen Bundesländern, bedrohte Flüchtlingsunterkünfte vor militanten Nazis zu schützen; die Mitte der Gesellschaft, verkörpert durch die viel beschworene »Zivilgesellschaft«, konnten sie dorthin allerdings kaum mobilisieren. Deren Ächtung der rassistischen und antisemitischen Gewalttaten beschränkte sich auf Lichterketten während der Weihnachtszeit. Die Mehrheit sorgte sich vor allem um das Ansehen Deutschlands im Ausland. Das hatte sie mit den VolksvertreterInnen gemein. Für Helmut Kohl war es demnach »das Wichtigste, der Welt klar zu machen […], dass Fremdenfeindlichkeit eine Schande für unser Land ist«. Norbert Blüm ergänzte: »Deutschlands Ruf ist in Gefahr.« Zwei Tage später titelte Bild panisch: »Das Ausland prügelt wieder auf die Deutschen ein.« Vgl. Ebd., 39f. Das Bild vom anständigen Deutschland sollte wiederhergestellt werden. »In Berlin war man stolz darauf gewesen, dass einige hunderttausend Bürger sich versammelt hatten, um unter Anleitung des Bundespräsidenten zu versichern, man dürfe andere Menschen nicht einfach totschlagen«, kommentierte Eike Geisel den Triumph des guten Willens in der taz. »Derlei Äußerungen gelten in Deutschland schon als festes Bekenntnis zur Demokratie und nicht als Beleg, wie notdürftig die Barbarei im Zaun gehalten ist.« Eike Geisel, Die Wiedergutwerdung der Deutschen. Essays & Polemiken, Berlin 2015, 161. Bild hatte zu den Kundgebungen mit dem Slogan »Deutsche, wehrt euch!« aufgerufen – ob man sich dabei unfreiwillig oder mutwillig bei der SA bediente, blieb offen. Wenige hundert Leute verweigerten sich dem Schauspiel und schmissen Tomaten und Eier auf die RepräsentantInnen der Republik, was fortan als die eigentliche Schande galt. Für einige Tage waren die TäterInnen von Rostock, Hoyerswerda und Mölln aus den Schlagzeilen verschwunden. »Man betont mit großem Nachdruck, 1992 sei nicht 1938, und verbietet sich damit die naheliegende Frage, ob 1992 nicht vielleicht 1923 ›sei‹. […] Man ereifert sich, wenn der Bundespräsident, den die Polizei schützt, mit Eiern beworfen wird, doch bleibt eine Erregung, die dem entspräche, aus, wenn ›Fremde‹ umgebracht werden«, schreibt Helmut Dahmer 1992 in seinem Aufsatz Deutschland im Herbst. Dahmer, Antisemitismus, 27.

Die Lichterketten leuchteten später auch in Hamburg, München und anderswo. Um die tatsächlichen Opfer der Anschläge kümmerte sich die Zivilgesellschaft allerdings nicht wirklich. »Gegen ihre drohende Abschiebung, gegen die vorbereitete Abschaffung des Asylrechts und gegen die beschlossene Abschottung der Bundesrepublik sagte keine Stadt nein«, konstatiert Geisel. Der »Umgang mit Flüchtlingen« sollte allein Aufgabe der staatlichen Gewalt sein. »Von Leuten, die allenfalls ihre Frau oder ihre Kinder verprügeln, aber einem Ausländer bestimmt kein Haar krümmen würden, war in diesen Tagen kein Satz so oft zu hören, wie: ›Wir schämen uns als Deutsche.‹ Ohne Kollektiv keine Scham. Schamgefühl alleine macht hierzulande offenbar noch keine menschliche Regung aus, weshalb die durchaus nichtmenschliche Eigenschaft, deutsch zu sein, als Auslöser von Gesittung dienen muss.« Geisel, Wiedergutwerdung, 166f.

Am 26. Mai 1993 änderte schließlich die ganz große Koalition, bestehend aus den Regierungsparteien Union und FDP sowie großen Teilen der oppositionellen SPD, die Verfassung und verschärfte das Asylrecht radikal. Als der Bundestag die Grundgesetzänderung durchbrachte, versammelten sich rund 10.000 DemonstrantInnen in Bonn, um die Zugänge zum Regierungsviertel zu blockieren. Bei den Lichterketten im Herbst 1992 waren es rund drei Millionen gewesen. In der Folge gingen die Anträge auf Asyl von 438.000 im Jahr 1992 auf 127.000 im Jahr 1994 zurück und Union, FDP und SPD holten die WählerInnen »Heim ins Reich«, die sie zwischenzeitlich an die Republikaner verloren hatten. 

Die »Entsorgung der deutschen Vergangenheit«, wie Hans-Ulrich Wehler es angesichts des »Historikerstreits« im Jahr 1986 formulierte, war da bereits beschlossene Sache. Der letztlich erfolgreiche Widerstand gegen die Wehrmachtsausstellung zeugte ähnlich wie die Walser-Bubis-Debatte In seiner Rede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels in der Frankfurter Paulskirche sprach Walser von der »Moralkeule« Auschwitz. Es gab stehende Ovationen unter anderem von Bundespräsident Roman Herzog. Lediglich das Ehepaar Bubis und Friedrich Schorlemmer blieben sitzen. Auch das mediale Echo war überwiegend positiv. Der damalige Vorsitzende des Zentralrates der Juden in Deutschland Ignatz Bubis warf Walser vor, er sei ein geistiger Brandstifter. Am Ende distanzierte sich auch Walsers Laudator, der Mitherausgeber der FAZ, Frank Schirrmacher, von der Rede. In einem Gespräch zwischen Walser, Bubis und Salomon Korn wurden viele Punkte noch einmal aufgearbeitet, ohne dass Walser auf Bubis und dessen Angebot einer gemeinsam von nichtjüdischen und jüdischen Deutschen getragenen Erinnerungskultur einging. am Ende des Jahrtausends davon, dass die deutsche Volksgemeinschaft auch viele Jahrzehnte nach der militärischen Niederlage noch funktionierte und Deutschland sich weiterhin in der Opferrolle gefiel. »50 Jahre lang haben wir uns anständig verhalten, unterstellt uns bitte nicht bei jeder Gelegenheit den Rückfall«, wird Walser schließlich in der Süddeutschen Zeitung zitiert. Die erinnerungspolitischen Debatten von Ernst Nolte bis Martin Walser haben die Tore in Richtung »Das wird man wohl noch sagen dürfen« weit aufgestoßen – Jahrzehnte bevor der Sozialdemokrat Thilo Sarrazin daraus einen Bestseller machte. Mit seinem 2010 erschienenen Buch Deutschland schafft sich ab wurde er zum Stichwortgeber der AfD und zum Propheten, der das Ende der deutschen Geschichte und einen neuen »Untergang des Abendlandes« verkündete.

 

Die vergessenen Opfer 

Die zahlreichen Opfer der rechten Anschläge als Folge dieses Klimas blieben vor allem den Betroffenen in Erinnerung. Das änderte sich auch mit der Selbstenttarnung des NSU im November 2011 nur scheinbar. Das Tribunal NSU-Komplex auflösen verlas am 20. Mai 2017 im Kölner Schauspiel eine Anklageschrift, in der nicht nur der strukturelle Rassismus der Gesellschaft und seiner Organe, sondern auch die Ignoranz der Mehrheitsgesellschaft angeprangert wurden: »Wie sollen solche schrecklichen Taten aufhören, wenn wir uns nicht mit den Betroffenen und Opfern identifizieren? […] Wir klagen all diejenigen an, deren Handeln und Unterlassen angesichts der rassistischen Gewalt in den 1990er Jahren ein Klima der Straffreiheit für die Täter*innen geschaffen hat. Diese rassistische Gewalt flankierte und prägte die deutsche Vereinigung. Sie war Ausdruck einer weit verbreiteten Sehnsucht nach einer neuerlichen volksgemeinschaftlichen Homogenisierung der deutschen Gesellschaft. In Rostock-Lichtenhagen, Hoyerswerda, Mölln, Solingen und an unzähligen anderen Orten wurden Menschen verletzt und getötet. Die Taten des NSU sind ohne die Kontinuität dieser rechten Gewalt nicht zu verstehen. Wir klagen die geistigen Brandstifter in Politik und Medien an, deren Rhetorik die rassistischen Vollstrecker*innen ermunterte.« Vgl. Anklage des Tribunals »NSU-Komplex auflösen«, https://bit.ly/3gc6s3E.

Rechter Terror wird an den Rand der Gesellschaft gedrängt, dabei sind die TäterInnen und ihre HelferInnen näher als die empörte Zivilgesellschaft glauben mag: Wir reden über PolizistInnen, SoldatInnen, StaatsanwältInnen, BeamtInnen und andere RepräsentantInnen der Republik. Anständige Leute also, deren Aufgabe es ist, Deutschland und seine BürgerInnen vor inneren und äußeren Feinden, »kriminellen Elementen« und anderen »Volksschädlingen« zu beschützen. Und diesen Auftrag nehmen sie etwas ernster, als es ihre Dienstherren (und seltener -frauen) ursprünglich vorsahen. Der strukturelle, teils latente, teils offensichtliche Rassismus der Ermittlungsbehörden offenbarte sich im Fall des NSU auch durch die jahrelange Suche nach den TäterInnen im Umfeld der Opfer, statt einen rechtsradikalen Hintergrund zu vermuten. Der Rassismus, beziehungsweise dessen Leugnung auf allen Ebenen der Gesellschaft, hatte den Blick dafür versperrt, die Mord- und Anschlagsserie als das zu erkennen, was sie war: rechter Terror im Namen des Volkes. Im Fall Hanau urteilte das Bundeskriminalamt schließlich: der Schütze Tobias Rathjen habe die Opfer ausgewählt, um »Aufmerksamkeit auf seine Verschwörungstheorien « zu lenken. Er habe »keine rechtsextreme Radikalisierung durchlaufen« und Rassismus sei nur ein Motiv von vielen gewesen. Ein normaler Bürger also! Die Behörde stellt damit unfreiwillig auch der Gesellschaft ein vernichtendes Zeugnis aus. Und tatsächlich hatte Rathjen Dinge im Sinn, die die Mehrheit durchaus unterschreiben könnte: Es ging ihm darum, Deutschland vom »überflüssigen«, »unproduktiven« also im marktwirtschaftlichen Sinne nicht verwertbaren »Menschenmaterial« zu befreien, um so die Leistungsfähigkeit des Volkes wieder zu steigern und den Standort zu sichern. Rathjen war also trotz seiner psychotischen Störung ein »normaler« Bürger, der seinen Platz in der Mitte der Gesellschaft hätte finden können – wenn er nicht Gustav Noske gefolgt wäre: Einer muss schließlich der Bluthund sein. 

Dass die Verantwortung für die Taten rechtsaußen abgeladen wird, bedeutet auch, dass die selbsternannte Mitte zur Tagesordnung übergehen kann, als gehe sie das Thema nichts mehr an. Dies funktioniert, weil die Morde als isolierte Ereignisse betrachtet werden. Sie haben keinen Vorlauf und erst recht keine gesellschaftlichen Ursachen, die in der deutschen Historie zu suchen wären. Adorno beschreibt das Phänomen in der Negativen Dialektik: »Das Unheil liegt in den Verhältnissen, welche die Menschen zur Ohnmacht und Apathie verdammen und doch von ihnen zu ändern wären; nicht primär in den Menschen und der Weise, wie die Verhältnisse ihnen erscheinen. […] Wem das Dinghafte als radikal Böses gilt; wer alles, was ist, zur reinen Aktualität dynamisieren möchte, tendiert zur Feindschaft gegen das Andere, Fremde, dessen Name nicht umsonst in Entfremdung anklingt; jener Nichtidentität, zu der nicht allein das Bewusstsein, sondern eine versöhnte Menschheit zu befreien wäre.« Adorno, Negative Dialektik, 191.

Die Flucht in die kollektive Amnesie hat das strukturelle Problem des Rassismus und Antisemitismus manifestiert. Das pathische Vergessen wurde zur kollektiven Therapie. Die Zivilgesellschaft erscheint dabei als Volksgemeinschaft mit menschlichem Antlitz. Dass selbst für viele Linke mangels Alternative zivilgesellschaftliches oder gar parteipolitisches Engagement die einzig erfolgsversprechende Option ist, sich der rechten Gewalt und Propaganda entgegenzustellen, verdeutlicht zudem, wie sehr sie in die Defensive geraten ist. Die jüngsten Debatten bis hin zum von AfD und Teilen der »bürgerlichen Rechten« geforderten »Antifa-Verbot« – wer auch immer damit gemeint ist – zeigen erneut, wie brüchig ein vermeintlich breiter, antifaschistischer Konsens ist. Auf Seiten zivilgesellschaftlicher Organisationen, der Grünen, Linken oder Jusos wurden in vorauseilendem Gehorsam schnell Stimmen laut, die forderten, sich vom militanten Teil der Antifa zu distanzieren. So weit, so bekannt. Im Zweifel stehen AntifaschistInnen, wie so häufig, allein im konkreten Kampf gegen rechts. Auch deshalb bleibt die Schlussfolgerung der Goldenen Zitronen weiter aktuell, die sie im Jahr 1994 unter dem Eindruck der Anschläge von Hoyerswerda, Lichtenhagen, Solingen und Mölln und der sich daran anschließenden Lichterketten zogen: »Das bisschen Totschlag bringt uns nicht gleich um«, denn: »Man hatte kollektiv böse geträumt.«

 

Holger Pauler 

Der Autor hat in Bochum Geschichte und Philosophie studiert und anschließend bei der taz gearbeitet. Er schreibt regelmäßig für die Jungle World über die deutschen Verhältnisse in Vergangenheit und Gegenwart.