komm schnell schöner boy

Zu den wohl bekanntesten Büchern des Querverlags zählt Beißreflexe, das 2017 die Debatte um Identitätspolitik befeuerte. Der Folgeband Feministisch Streiten fungierte als eine Art Schlichtungsversuch zwischen Materialistischem Feminismus und Queerfeminismus und trat dafür ein, Differenzen auszuhalten. SexLit ist nun als der neueste Sammelband der so treffend betitelten Kreischreihe angetreten, um Sexualität am Beispiel von Literatur zu untersuchen. Dabei möchte das Buch Kritik und utopisches Denken verbinden. Bereits in der Einleitung wird die Schnittstelle zu den beiden Vorgänger*innen deutlich, wenn Herausgeber Benedikt Wolf kritisiert, dass die Queertheorie oft nicht emanzipativ fungiert, sondern neue Normativitäten schafft. Wolf verdammt poststrukturalistische Theorie jedoch nicht vollkommen, sondern argumentiert, dass sich in den letzten Jahren zu sehr auf Denker*innen wie Michel Foucault oder Judith Butler bezogen wurde und andere Theoretiker*innen wie z.B. Roland Barthes zu wenig Beachtung bekamen. In der Auseinandersetzung mit Barthes wird klar, warum sich Literatur als Untersuchungsgegenstand eignet, was dieses Unbeschreibliche der Sexualität ist, das die Queetheorie nicht fassen kann. Wolf bezieht sich auf Barthes und sein Werk Die Lust am Text: »Text der Wollust: der in den Zustand des Sichverlierens versetzt, […] seine Beziehung zur Sprache in eine Krise stürzt« (19). 

Der Band hat sich also viel vorgenommen. Am besten gelingt es Veronika Kracher und Marco Ebert die Erwartungen einzulösen. Kracher beschäftigt sich mit Gisela Elsners Roman Das Berührungsverbot, der von mehreren bürgerlichen Kleinfamilien handelt, die sich im Gruppensex versuchen. Allen werden die Augen verbunden und die Jagd auf die Frauen beginnt. In Berührungsverbot kommen Frauen nur als Objekte vor und sind der Herrschaft der Männer über ihren Körper ausgeliefert. Elsner bietet keinerlei Identifikation, ihre Sprache ist bitter und komplex, genau dadurch gelingt es, »den Verhältnissen nicht nur inhaltlich, sondern auch formal den Spiegel vorzuhalten« (38). 

Dass Literatur nicht von Identitäten sprechen muss, sondern von Verhältnissen sprechen kann, zeigt Marco Ebert in seinem Beitrag über Roland Schernikaus Kleinstadtnovelle, die fälschlicherweise als klassischer Comig-Out-Roman rezipiert werden könnte: Der schwule Protagonist B. wird von der Schule verwiesen, weil er eine Affäre mit einem Mitschüler hatte. Der Text prangert scheinheilige Liberalität an, geht aber darüber hinaus. Implizit thematisiert er Widersprüche in der Gesellschaft und im Selbst, denn »Freiheit ist nur durch die Widersprüche hindurch zu erlangen« (160), und so bleibt in Schernikaus Frühwerk Sexualität »ein Gegenstand in Bewegung« (155). Weitere Artikel behandeln Auseinandersetzungen mit erwartbarer Literatur: Kathrin Witter liefert eine neue Lesart von Ingeborg Bachmanns Erzählung Ein Schritt nach Gomorrha und deutet diese nicht als rein lesbische Liebesgeschichte sondern als utopischen Versuch, eine vollkommen neue Geschlechterordnung zu schaffen. Svenja Behrens nimmt den feministischen Klassiker Häutungen von Verena Stefans zur Hand und stellt eindrücklich dar, wie die feministische Arbeit an der Sprache anders als bei Elsner scheitert. Stefans ersetzt beispielsweise das Wort Schamlippen durch Blütenblätter, doch die »Abschaffung des Wortes bedeutet nicht die Abschaffung des Konzeptes« (92). 

Glücklicherweise richtet SexLit den Blick auch auf Popkultur, so interpretiert Patsy l’Amour la Love das Rammstein-Lied Bück dich. Der Beitrag liest sich allerdings eher wie die Gedichtinterpretation eine*r Achtklässler*in, genaueres Lektorat hätte geholfen, solche Sätze zu verhindern: »Der titelgebende Imperativ ›Bück dich‹ fordert ein Gegenüber dazu auf, sich zu bücken« (266). Danke für die Information. Patsy hantiert zwar stolz mit grammatikalischen Begriffen, verwendet jedoch »Ich-Erzähler« statt »lyrisches Ich«. Zudem macht sie genau das, was der Sammelband eigentlich kritisieren möchte: Sie setzt eine identitäre Lesart an, denn mehr als dass das Rammsteinlied queer gelesen werden kann, sagt der Beitrag nicht aus. Auch Julia Meta Müllers Artikel über Irmtraud Morgner verärgert. Seitenlang wird darin der Inhalt wiedergegeben, es wäre besser gewesen, einer richtigen Interpretation stattdessen mehr Raum zu geben. Andere Beiträge dagegen lesen sich zu wissenschaftlich, wie Wolfs Einleitungstext. Wer nicht Germanistik studiert hat, wird sich mit Begriffen wie Palimpsest schwertun. 

Zwei literarische Texte runden den Sammelband ab und thematisieren die Eingangs formulierte utopische Darstellung von Sexualität in der Literatur, Dierk Saathooffs komm schnell schöner boy liest sich mit Gewinn. Einige Beiträge zeigen eindrücklich, wie Sexualität in der Literatur verhandelt wird und darüber nicht nur Identitäten, sondern auch Klassen- und Kapitalverhältnisse dargestellt werden können und wie durch Sprache unser Weltbild ins Wanken gebracht werden kann. Dennoch wäre es wünschenswert gewesen, wenn nicht wieder der gleiche (linke) Kanon bedient worden wäre und mehr zeitgenössische Autor*innen Eingang in den Sammelband gefunden hätten, z.B. Sybille Berg oder Donat Blum. Trotzdem funktioniert SexLit, um die Debatte um Identitätspolitik aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten, dem der Literatur.

 

Bettina Wilpert

 

Benedikt Wolf (Hrsg.): SexLit. Neue kritische Lektüren zu Sexualität und Literatur, Querverlag, Berlin 2019, 367 S., € 18,00.