Krach ohne Scheidung

Auch wenn die Konflikte zwischen den USA und einem Deutsch-Französisch dominierten „Kerneuropa“ zunehmen, ist der Ausbruch einer militarisierten europäischen Konkurrenzmacht aus der transatlantischen Allianz weiter in die Ferne gerückt.

Als der US-amerikanische Verteidigungsminister Donald Rumsfeld die deutsch-französische Irak-Politik mit den Worten rügte, diese repräsentiere das „alte Europa“, reagierten eine Reihe von deutschen und französischen Intellektuellen mit Akten geistiger Mobilmachung. Auf den Feuilletonseiten der FAZ antworteten Jürgen Habermas, Alice Schwarzer, Christian Clavier, Robert Menasse und einige mehr auf die „amerikanische Provokation“, indem sie die bekannte antiamerikanische Argumentationsweise bemühten, nach der die Außenpolitik der USA vom nackten ökonomischen Interesse getrieben sei, während die der Europäer der Verteidigung von Kultur und Demokratie diene.(1) Dazu gesellte sich allerdings in bisher selten übertroffener Deutlichkeit die Forderung nach einer Forcierung des europäisch-amerikanischen Gegensatzes bis hin zum Marschbefehl. So bejubelte der Schriftsteller Durs Grünbein den deutsch-französischen „Aufstand der Vasallen“ als Schritt in ein „neues Zeitalter der Weltpolitik“, in welchem sich Europa „als dritte Kraft im Spiel der Supermächte“ formiert. Sein französischer Kollege Michel Tournier dachte gleich ein Stück weiter. Er hoffte, dass die „deutsch-französische Entente“ auch so weit geht, dass beide Länder „eine Armeeeinheit in den Irak schicken, um das Volk zu schützen und gegen die amerikanische Aggression zu verteidigen.“

In Anbetracht des verbalen Pulverdampfes ist es tröstlich, dass das Eurocorps statt von einer wahnwitzigen Schriftstellerstabsabteilung von waschechten Generälen befehligt, wird etwas Beruhigendes hat auch die Realitätsferne der Rede von einer europäischen „Supermacht“. Denn bei allen Anstrengungen sie zu verwirklichen, zeigte die Forderung von acht europäischen Staatschefs (aus Spanien, Polen, Ungarn, Dänemark, Großbritannien, Italien, Tschechien, Portugal), den transatlantischen Schulterschluss auch gegenüber dem Irak zu bewahren, dass die „Gemeinsame Europäische Außen- und Sicherheitspolitik“ (GASP) zum jetzigen Zeitpunkt in entscheidenden Fragen nicht viel mehr als eine Zielvorstellung ist. Was für ein französisch-deutsch dominiertes „Kerneuropa“(2) derzeit Geltung beanspruchen kann, ist schon für die Europäische Union und erst recht nicht für eine „Weltmacht“ Europa verallgemeinerbar. Vielmehr hat hier die Irak-Frage die bestehenden Bruchlinien deutlich gemacht.

Nicht listige Washingtoner Spaltungsdiplomatie hat den Traum einer kampfbereiten europäischen Gegenmacht als Hirngespinst entlarvt, obwohl nicht wenige, wie Pattrick Schwarz in der Tageszeitung, darin den Grund für die Bewerbung der „Abweichler“ als „Donald Rumsfelds Filialleiter“ sehen dürften.(3) Abwegig sind auch Erklärungen, die ein besonderes Bewusstsein für das Leid der irakischen Bevölkerung oder die Gefahr der Massenvernichtungswaffen Saddams anführten. Vom ersteren ist bei den neuen genauso wie bei den alten Transatlantikern nicht die Rede. Die Bedrohung der Weltsicherheit durch das irakische Waffenarsenal aber wird ebenso wie in der US-amerikanischen Außenpolitik zum rein instrumentellen Argument bei der strategischen Positionierung in der neuen Weltordnung.

In dieser wollen sich Spanien, Portugal, Dänemark und Großbritannien bis heute nicht einem deutsch-französischen Direktorium in Europa unterordnen. Ungarn, Tschechien und Polen versuchen sich hier wenigstens eine Hintertür offen zu halten.

Für die aufbegehrenden Staaten macht sich die Befürchtung weiterer Souveränitätsverluste nicht ausschließlich an der ökonomischen Expansionskraft Kerneuropas fest. Erst jüngst hatten Paris und Berlin im Rahmen der Jubiläumsfeiern zum Elysee-Vertrag in einer gemeinsamen Erklärung ihren Plan, nach der Wirtschafts- und Währungsunion nun auch die Sicherheits- und Verteidigungspolitik durch „verstärkte Zusammenarbeit“ in eine Union (ESVU) fortzuentwickeln, bekräftigt.(4) Sie griffen damit eine Initiative auf, die bereits von Fischer und seinem französischen Amtskollegen de Villepin in Reaktion auf den letztes Jahr im November stattfindenden Prager Nato-Gipfel bekannt gegeben wurde. Unter diesen Vorzeichen liefe die Militarisierung der EU inklusive ihrer gemeinsamen europäischen Rüstungspolitik auf eine bedrohliche kontinentaleuropäische Militärmacht und bei einer Beteiligung der kleineren EU-Staaten auf deren noch umfassendere Unterordnung hinaus.

Die Bewahrung staatlicher Unabhängigkeit und die Stärkung der Verhandlungsposition innerhalb der europäischen Integration und der NATO ist demzufolge ein ganz entscheidender Grund für die Solidaritätsadresse an die Amerikaner. Dies gilt im besonderen Maße für die osteuropäischen Staaten, die den heißersehnten NATO-Beitritt ja keineswegs deswegen feierten, weil sie dadurch näher an Deutschland rückten, sondern weil sie mit ihrer Mitgliedschaft eine profunde amerikanische Sicherheitsgarantie erhielten.

Vom Präsidenten des Zentrums für internationale Beziehungen in Warschau und ehemaligen polnischen Botschafter in Deutschland, Janusz Reiter, wird dieser Zusammenhang klar benannt: „Vielen Europäern fällt es leicht, Amerikas Führungsrolle zu akzeptieren. Sie würden sich aber energisch wehren, wenn eine europäische Macht den Führungsanspruch erhöbe. Wer Europa zum Vehikel eigener nationaler Ambitionen machen möchte, muss damit rechnen, dass ihm die Nachbarn die Gefolgschaft verweigern.“(5)

Neben der antihegemonialen Orientierung gegen die Achse Paris-Berlin offenbarte die von den acht Staaten bemühte Beschwörungsformel von der „transatlantischen Bande“ als „Garant unserer Freiheit“(6) gerade nach dem 11. September auch die freiwillige Anbindung an die einzige Ordnungsmacht, die derzeit Stabilität und Teilhabe an den Austauschprozessen des kapitalistischen Zentrums wirksam abzusichern verspricht. Es ist weder besonders boshaft noch ein Rätsel, warum sich die „Abweichler“, die mittlerweile von weiteren zehn ost- und südosteuropäischen Staaten Unterstützung erhielten(7), für die mächtigste Militärmacht der Welt und nicht für die deutsch-französische Vision einer europäischen Sicherheitsgarantie entschieden.

 

Risse im Bündnis

Obwohl eine geeinte EU auf absehbare Zeit die USA als globale Weltmacht nicht herausfordern will und kann, ist es doch mehr als ein Sturm im Wasserglas, der gegenwärtig das transatlantische Verhältnis aufwühlt. Denn neben der aggressiven Latenz, die im ressentimentgeladenen Antikriegskurs enthalten ist, allerdings mehr von Feuilletons, Intellektuellen und Teilen der Anti-Kriegsbewegung repräsentiert wird, nehmen auch jenseits der plakativen Handlungsebene prominenter Regierungsvertreter im politischen Tagesgeschäft die Anzeichen für eine konfliktreichere Beziehung in der euro-atlantischen Allianz zu.

Erst wurde wochenlang im Brüsseler Nato-Hauptquartier die Entscheidung über die Auftragserteilung für „Hilfsmaßnahmen“ im Fall eines Irak-Krieges blockiert, dann gar von Belgien, Frankreich und Deutschland ein Veto gegen diesbezügliche Planungen eingelegt. Auch die Ankündigung, dass die Bundestagsausschüsse für Verteidigung und Auswärtige Angelegenheiten ihre USA-Reisen auf unbestimmte Zeit aufgrund der „ungeeigneten Rahmenbedingungen“ verschieben, mag ein kleines, aber nicht zu vernachlässigendes Anzeichen für die zunehmende Verstimmung sein. Die vor allem auf französischer Initiative beruhende Blockbildungspolitik gegen die USA im UN-Sicherheitsrat markiert schließlich den bisher größten politischen Konflikt zwischen den westlichen Zentren seit dem Ende der Bipolarität. In dieser Krisendynamik schon das untrügliche Zeichen für den beginnenden zwischenimperialistischen Showdown zu sehen, wäre jedoch weniger weitblickend als vielmehr ein weiterer Fall linker Überinterpretation.

Zweifelsohne vergrößert die Irak-Krise eine Differenz, die seit den Bemühungen europäischer Staaten, sich militärisch aus der Abhängigkeit der Vereinigten Staaten zu lösen, die NATO-Partner voneinander entfernt. Ein Kernstück der Auseinandersetzung ist die Eingreiftruppe der EU, die, würde der Zeitplan eingehalten, ab dem nächsten Jahr mit 60.000 Soldaten für militärische Interventionen bereitsteht. Auch wenn die EU-Streitmacht zunächst noch auf Militärstrukturen der Nato angewiesen wäre, ist sie perspektivisch auf weitgehend autonome Handlungsfähigkeit angelegt. Noch kurz vor dem Prager Bündnisgipfel im November des vorigen Jahres erfuhr diese Konzeption eine starke Unterstützung durch die deutsche Presse. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung nahm man die Fischer-Villepin-Initiative vorweg und mutmaßte, dass die europäische Eingreiftruppe „zusätzlich zu den jetzt geplanten Kriseneinsätzen womöglich auch Aufgaben der kollektiven Verteidigung übernehmen“ werde, „die bisher der Nato oblagen.“(8) Und wohl in der Hoffnung, die europäische Gegenmachtbildung käme wirklich mit Siebenmeilenstiefeln voran, forderte man gar in der Frankfurter Rundschau ein „ehrenvolles Begräbnis“ für die Nato.(9) Dass die auch von der Welt beschworene „Emanzipation der Europäer von der Nato“ in einem Missverhältnis zu ihren vorlauten Verkündigungen stand, hätte man allerdings auch schon vor dem Aufruf der acht europäischen Staaten wissen können.(10)

Die US-amerikanische Außenpolitik hatte in aller Öffentlichkeit nie einen Zweifel daran gelassen, dass sie die Entwicklung einer exklusiven Militärmacht Europa nicht zulassen will. Mit der im September 2002 vorgelegten Nationalen Sicherheitsstrategie (NSS) wurde diese Absicht mit Nachdruck bestätigt. Leitlinie der US-Politik bleibt die Zementierung und Ausweitung ihrer hegemonialen Position. Der in der außenpolitischen Doktrin enthaltene Anspruch einer globalen Führungsposition wendet sich unumwunden gegen potentielle Rivalen. Weil die Vereinigten Staaten „wachsam gegenüber einer erneuten Großmachtkonkurrenz“ sind, müsse ihr militärischer Einfluss „groß genug sein, um mögliche Gegner davon abzuhalten, in der Hoffnung die Macht der USA zu übertreffen oder einzuholen, eine militärische Aufrüstung anzustreben.“(11)

Aus Sicht Washingtons hatte die Nato eine Kernfunktion innerhalb des „No rival“-Konzeptes auszuüben. Neben ihrer Aufgabe unter amerikanischer Führung als Weltordnungsfaktor zu agieren, d.h., einen weitgehend großen Bereich von Sicherheit und Stabilität zu schaffen, der zudem verhindert, dass die USA als isolierter Weltpolizist auch zum alleine dastehenden Angriffsziel werden, sollte das Bündnis durch einbindende Kontrolle den Aufstieg eines möglichen Konkurrenten in Europa verhindern. Aus diesen, bereits seit Anfang der neunziger Jahre in den Strategiepapieren des Pentagon verankerten Aufgabenzuschreibungen(12) entsprangen sowohl die Osterweiterung der Nato als auch die Bildung einer Nato-Interventionstruppe (NRF).

 

Ein neuer Sieg im neuen Kalten Krieg

Die im Mai 2004 bevorstehende Aufnahme von Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, der Slowakischen Republik und Sloweniens erweitert nicht nur das Nato-Gebiet, sondern stärkt zudem, zumindest in sicherheitspolitischen Belangen, den anti-deutsch-französischen Pfeiler in der Allianz. Die NRF wiederum, die als „Stand-by-Kriegsführungstruppe“(13) ab 2004 teilweise und vollständig ab 2006 mit 21.000 Soldaten für den Einsatz in Konfliktregionen bereitstehen soll, muss als Konkurrenzprojekt zur europäischen Eingreiftruppe gesehen werden.

Zwar wiegelte Nato-Generalsekretär Robertson pflichtgemäß den naheliegenden Eindruck einer Rivalität zwischen beiden Interventionsstreitmächten ab, aber schon die Nuancierung des außenpolitischen Repräsentanten der EU, Javier Solana, die beiden Einsatzverbände seien „nicht notwendigerweise miteinander kompatibel“, lag näher an der Realität.(14)

In Folge des amerikanischen Vorschlages versuchte die deutsche Politik zunächst gute Miene zum für sie bösen Spiel zu machen. Nicht gerade begeistert klang die Reaktion von Bundeskanzler Schröder, der den NRF-Plan nach einem Treffen mit Robertson als „prinzipiell zielführend“ bezeichnete.(15) Deutlicher waren Außenminister Fischer, als er betonte, dass die Nato-Eingreiftruppe der Aufstellung der „europäischen Krisenreaktionskräfte“ nicht entgegenstehen dürfe(16) und Verteidigungsminister Struck bei seiner Rede im Bundestag: „Wir werden kein Konkurrenzverhältnis zulassen, das daraus erwächst, dass man dem Motto ›Es gibt jetzt nur noch die Nato-Response-Force, die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik vergessen wir‹ folgt.“(17)

Fakt ist, dass die Deutschen der NRF auf dem Prager Nato-Gipfel prinzipiell zustimmten. Vom Bedeutungsverlust der Nato oder gar ihrem Ende sprach niemand. Daraus folgt aber auch, dass der deutsche Plan, stärker auf die Militarisierung der EU zu setzten, in enorme Schwierigkeiten geraten wird. Schon vor dem Vorschlag aus Washington mussten am Rüstungsprogramm für die europäische Armee aufgrund der Finanznot der Bundesregierung erste Einschnitte gemacht werden. Noch bevor auch nur der erste Prototyp des Transportflugzeugs A400M abgehoben ist, korrigierte man die Beschaffungszahlen des Prestigeprojektes nach unten. Statt ursprünglich 70 sollen jetzt nur noch 63 Militärtransporter bei der europäischen Rüstungsfirma EADS gekauft werden.

Eine allgemeine, sich unabhängig und parallel zur Nato-Struktur vollziehende Aufrüstung und Transformation der Streitkräfte scheint da nur schwer vorstellbar. Denn auch die NRF ist an neue Beschaffungsprogramme gekoppelt. Für die USA gilt sie nachgerade als Hebel für die Modernisierung der europäischen Streitkräfte unter ihrer Aufsicht. Dabei handelt es sich jedoch entweder um Rüstungsprojekte, die in speziellen Bereichen, beispielsweise bei der Abwehr chemischer und biologischer Kampfstoffe, angelegt sind und dort die Fähigkeiten der US-Armee ergänzen sollen. Oder aber sie richten sich direkt gegen europäische Rüstungsprojekte, wie die Forderung nach Aufstockung der Lufttransportkapazitäten noch vor Fertigstellung des europäischen Militärairbus. Einer umfassenden autonomen Rüstungsproduktion und Kriegsführungsfähigkeit dienen sie nicht. Die gesamte NRF-Konzeption ist somit nicht nur ein Hebel für die Modernisierung der europäischen Armee, sondern gleichfalls ein Knüppel in den Lauf der deutsch-französischen Gegenmachtbildung. Sie kann als Teil einer wiederbelebten Strategie des Wettrüstens gelten, die die Erfolge aus der Zeit der Blockkonfrontation auch im neuen kalten Krieg zwischen den ökonomischen Konkurrenzblöcken wiederholen will. In diesem Zusammenhang ist es kein Widerspruch, wenn William Cohen, ehemaliger US-amerikanischer Verteidigungsminister im November 2002 bei der von der Welt am Sonntag organisierten Tagung „Bundeswehr und Gesellschaft“ sowohl höhere Militärausgaben in Deutschland fordert, gleichzeitig aber vor einem „Sonderstatus der Deutschen“ warnt.(18) Ein militärischer Beitrag der Europäer am Sicherheitsimperialismus der neuen Weltordnung ist durchaus im Sinne der US-Amerikaner. Er verteilt die Kosten und optimiert die Außenpolitik, die an einem gemeinsamen Ziel ausgerichtet ist. Andererseits wird die Steigerung militärischer Handlungsfähigkeit nur dann akzeptiert und unterstützt, wenn die strategischen Prämissen der USA übernommen werden.

Bei einem Blick hinter den gegenwärtig besonders dichten Pulverdampf ideologischer Substitution stößt man nicht nur auf die reale Asymmetrie des militärischen Kräfteverhältnisses. Andere Hinweise, beispielsweise Äußerungen außenpolitischer Strategen und Stichwortgeber sprechen dafür, dass sich die Deutschen auf die angebotene Juniorpartnerschaft auch weiterhin einlassen und in weitaus abgeschwächterem Maße auf eine schnelle und umfassende militärpolitische Konkurrenzentwicklung setzen. So heißt es in einer Analyse der regierungsnahen Denkfabrik „Stiftung Wissenschaft und Politik“ (SWP): „Den Gedanken, Krisen im Ausmaß des Kosovo-Konflikts in Europa oder in seinem Umfeld auch ohne die zum Engagement bereiten USA lösen zu können, wird Europa aufgrund der finanziellen Restriktionen wohl aufgeben müssen.“(19) Und in der Beilage der Bundestags-Zeitung „Das Parlament“ resümiert Hans Arnold, Botschafter a.D. und Lehrbeauftragter an der Hochschule für Politik in München: „Das Ziel, die EU mit Hilfe ihrer GASP/ESVP in der Weltpolitik als bewaffnete Weltmacht zu etablieren, ist (...) auf absehbare Zeit nicht erreichbar. (...) Die EU-Staaten sollten dieses Ziel bis auf weiteres nicht mehr verfolgen.“(20)

Sicher, schon der Terminus „auf absehbare Zeit“ signalisiert eine Relativierung, mithin ein nur vorläufiges und begrenztes Eingeständnis der Niederlage. Am prinzipiellen Ziel deutscher Außenpolitik, sich eine weltpolitische Geltung zu verschaffen, die es mit jener der USA aufnehmen kann, wird sich nichts ändern. Während Arnold darauf setzt, Washington durch eine stärkere Unterstützung der UNO, internationaler Organisationen und Global Gouvernance-Konzepte in die Zange zu nehmen, erhofft man sich in der FAZ, dass die europäischen Streitkräfte mit der NRF zum „Teilhaber (...) der technisch und taktisch-operativen Revolution, die zur Zeit in den Vereinigten Staaten stattfindet“(21), werden. Die transatlantische Eingreiftruppe ist nach dieser optimistischen Interpretation das Anschubmoment für eine nachholende Entwicklung, die in einem zweiten Schritt der gesamten EU-Armee zu Gute kommt. In der SWP werden kleinere Brötchen gebacken. Hier sehe man es schon als Erfolg, mit der Nato-Interventionstruppe in einem „Teilsegment der militärischen Fähigkeiten auf gleicher Augenhöhe mit den USA zu sein und somit in das amerikanische Vorgehen mit eingebunden zu werden“.

Doch nicht an allen Fronten wird auf geordneten Rückzug und widerwillige Unterordnung gesetzt. Nach dem Motto ›Jetzt erst recht‹ fordert insbesondere das Spektrum sozialdemokratischer und alternativer Friedensforscherinnen und Friedensforscher schon seit den NATO-Bombardements auf Bosnien nach jedem Rückschlag für die europäischen Autonomiebemühungen die Anstrengungen für eine Militärmacht Europa weiter zu erhöhen.(22) Dabei wird bewusst die Verschärfung des transatlantischen Widerspruchs in Kauf genommen. Für Alyson J.K. Bailes, Direktorin des Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI), stellt dementsprechend die NRF eine große Herausforderung dar. Aus der „negativen Energie der Europäer, die angesichts einer Furcht erregenden amerikanischen Regierung ganz nah zusammen rücken“, müsse eine „fundamentale positive Logik“ erwachsen, die nicht einfach durch Veränderungen in der NATO „ausgehöhlt werden kann“. „Europa braucht seine eigenen militärischen Optionen, damit es nicht immer dazu verdammt ist, seine eigenen Sicherheitsaufgaben unter einem amerikanischen Befehlshaber zu erledigen.“(23)

 

Totgesagte leben länger

Gerade aber die trotzige Verkündung, die europäische Gegenmachtbildung müsse weiter und schneller vorangetrieben werden, spricht für eine nüchterne Analyse des Ist-Zustandes. Die Möglichkeit eines europäischen Ausscherens aus der Nato stellt sich gegenwärtig als Wunsch- und Zerrbild heraus, welches die Heterogenität der nationalstaatlichen Interessen und das reale militärische Potential der Europäer falsch bewertete. Ebenso falsch wäre die Wahrnehmung, in Deutschland und Frankreich würde überhaupt eine einheitliche politische Linie zur unaufhaltsamen Konfliktausweitung mit den USA und letztendlich in die Katastrophe treiben. Frankreich wird versuchen, sollte es zu einer Eskalation des Irak-Krieges kommen, sich noch an den Kampfhandlungen zu beteiligen, um sich damit wenigstens nicht alle Mitspracherechte für eine Nachkriegsordnung zu verbauen. Der französische Flugzeugträger „Charles de Gaulle“, der bereits vor Wochen auf den Weg zu „Manövern“ in das Krisengebiet aufbrach, dürfte, wenn er nicht wie die meiste Zeit seit seinem Stapellauf wieder havariert, zeigen, was die französische Skepsis gegen ein Bombardement Bagdads im Ernstfall wert ist. Nicht viel anders sieht es mit der deutschen Kriegsgegnerschaft aus. Für die Iraker sterben werden die Deutschen nicht. Nicht mal einen einzigen GI werden sie davon abhalten, seinen Job zu machen.

Dies ist nicht nur Ergebnis des ungleichen Kräfteverhältnisses, sondern vielmehr Ausdruck eines weichgespülten Antiamerikanismus der politischen Eliten. Auf einer grundsätzlichen Ebene unterscheidet auch dieser den ›besseren, kulturell reicheren, zivilisatorischen‹ Kapitalismus der Europäer vom ›amerikanischen‹, bei dessen Beschreibung man wohl weitaus weniger gegen das Attribut ›sozialdarwinistisch‹ einzuwenden hätte. Aus der Ablehnung wird jedoch schnell nicht mehr als ein unauffälliges Naserümpfen, wenn es darum geht, die herrschende kapitalistische Gesellschaftsordnung gegen gemeinsame Feinde zu verteidigen und ebenso gemeinsam hervorragende Geschäfte zu machen.

Das erklärt, warum der jetzt so engagiert gegen den „Cowboy aus Texas“ auftretenden Abteilung nicht wenige Leute angehören, die mit kaum gespielter Inbrunst ihrer Solidarität mit den USA in Folge des 11. September Ausdruck verliehen. Verständlicher wird dadurch auch das durchwachsene Spektrum der veröffentlichten Meinung, welches den Befund einer ›antiamerikanischen Phalanx‹ ungenau macht. Ein nicht einfach wegzudenkender Teil der politischen Öffentlichkeit, die liberale und konservative Opposition bewertet die Regierungsposition Deutschlands zum Irakkrieg außerordentlich kritisch. Angesichts des bis dahin gewagtesten Ausfalls deutscher Außenpolitik, der Unterstützung des französisch-belgischen Vetos im NATO-Rat, warnte von der Financial Times Deutschland bis hin zur regierungsnahen Süddeutschen Zeitung die journalistische Elite vor dem deutschen „Sonderweg des Kanzlers“.(24) Und immer unüberhörbarer läuten die Alarmglocken der Wirtschaftsverbände, was auf die materielle Erdung dieser Haltung hindeutet:

Die Hälfte seiner Exporterlöse realisiert Deutschland auf Dollarmärkten. Europäische Union und die USA sind jeweils der größte Wirtschaftspartner des anderen. Der europäisch-amerikanische Waren- und Finanzaustausch, inklusive der kapitalverflechtenden Direktinvestitionen, ist der größte des globalen Wirtschaftsraums. Für etwa 179 Milliarden Dollar, dies entspricht etwa 20 Prozent der europäischen Exporte gehen Waren und Dienstleistungen in die USA.(25) Zum Vergleich, der Handel mit den USA brachte den Deutschen 2001 einen Außenhandelsüberschuss von rund 22 Milliarden Dollar, demgegenüber erreichte er in keinem Land des Mittleren Ostens und Nordafrikas die 250 Millionen-Marke.(26)

Die Feststellung, den Deutschen ginge es im Nahen und Mittleren Osten darum, die Selbstausschaltung der US-amerikanischen Konkurrenz zu nutzen und wirtschaftlich Fuß zu fassen, woraus ihr jetziger Antikriegskurs herrühre, ist nur ein Teil der Wahrheit. Die ökonomische Interessenlage legt in der Entscheidungssituation eine weitaus weniger strikte antiamerikanische Außenpolitik nahe. Der Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, Ludolf von Wartenberg, lädt eben nicht nur zum „Gesprächskreis Irak“.(27) Mit Nachdruck appelliert er an die Bundesregierung, sich auf die gemeinsamen Werte und die traditionell engen Beziehungen mit den Amerikanern zu besinnen.(28) Und als „verfehlt, ausgerechnet gegen unsere Verbündeten zu demonstrieren statt gegen den irakischen Diktator“, bezeichnet es Dieter Hundt, Präsident der Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände (BDA), der in einem Beitrag für die Süddeutsche Zeitung vor der Friedensbewegung und Antiamerikanismus in Deutschland warnt.(29)

Die Befürchtungen, dass sich mit den unterschiedlichen Positionen zur Irak-Frage die Widersprüche zwischen den USA und den europäischen NATO-Staaten Frankreich und Deutschland irreparabel verschärfen, sind evident. Und offensichtlich ist, dass sie nicht Ausdruck einer kulturell verinnerlichten Unterwürfigkeit sind, wie es die ressentimentgeladene Rede von der „Vasallentreue“ und „US-Liebedienerei“ nahe legen will. Eher schon sind die Warnrufe der Vernunfts(anti)amerikaner eine Konsequenz aus der Geschichte. Politische Solidarität mit den westlichen Bezwingern des Hitlerfaschismus leiten diese aus der Logik ab, nach der sich kleine Jungen ihre verachteten, aber leider stärkeren Angstgegner auf dem Schulhof zum „Freund“ wünschen. Es klingt ein wenig nach Küchenpsychologie, doch Belege für diesen Begründungszusammenhang lassen sich durchaus finden. In der Wochenzeitung Die Zeit, dem publizistischen Flagschiff des deutschen Liberalismus, wog Josef Joffe das hohe deutsche Risiko angesichts der aufgewühlten Wasser im transatlantischen Verhältnis ab. Das Plädoyer für die Aufrechterhaltung der Westbindung begründete der Leitartikler mit der Erinnerung, dass „die Deutschen nie eine glückliche Hand bei Machtproben mit Amerika bewiesen (haben). Umgekehrt, wie nach 1945, war’s gewinnträchtiger.“(30) Weil sich das Ganze als ausgesprochen segensreich für den deutschen Wiederaufstieg erwies, hat sich das transatlantische Bündnis auf unterschiedlichen Ebenen institutionalisiert, die als nicht unerhebliche Widerstände gegen die Zentrifugalkräfte in der Allianz wirken dürften. Der deutsche Nato-Botschafter jedenfalls, der als überzeugter Atlantiker gilt, ließ sich, als er das Veto Berlins in Brüssel verkünden sollte, höflich entschuldigen. Überhaupt, so heißt es in „gewöhnlich gut unterrichteten Kreisen“, schlägt man auf dem deutschen diplomatischen Parkett angesichts des Berliner Konfrontationskurses fortwährend die Hände über dem Kopf zusammen.

Die Befürchtung vor einem substantiellen Riss in der Allianz spiegelt im Normalfall, neben dem schlichten Machtrealismus, die wirtschafts- und sicherheitspolitische Interessenlage wieder. Deutschland als isolierter und deshalb um seine Einflussmöglichkeiten beraubter Akteur der internationalen Beziehungen ist ein Teil einer Horrorvision. Die Vorstellung, der Exportweltmeister fordert mit den USA nicht nur einen seiner privilegiertesten Handelspartner sondern dazu noch den handlungsmächtigsten Sicherheitsgaranten für die globalen Wertschöpfungsketten heraus, der andere.

Nur scheinbar und aufgrund wohl größtenteils taktischer Zugeständnisse an das politische Massenbewusstsein steht dieser Zusammenhang aktuell weniger im Vordergrund der deutschen Außenpolitik. Wahrgenommen wird er jederzeit. Auch ein Josef Fischer wird nicht müde, bei jeder Grundsatzrede die USA als wichtigsten und unerlässlichen Partner bei der Herstellung „globaler Sicherheit“ zu verteidigen: „Am gefährlichsten wäre es, wenn sich die USA in vielen Teilen der Welt zurückzögen.“(31)

Umgekehrt gibt es ein gleichfalls handlungsleitendes Interesse der USA, Deutschland auf hohem Niveau einzubeziehen und nicht einfach nur unten zu halten, wie es die Gründungstrategie der Nato einst nahe legte. Während Rumsfeld drohte, einen Teil Europas in den weltpolitischen Ruhestand zu versetzen, wurde auf der nächst tieferen diplomatischen Ebene mit der Benennung der verflochtenen Interessenstruktur gegengesteuert. Die Haltung von Berlin und Paris nehme man „respektvoll“ zur Kenntnis, denn dies „sind die Leute, mit denen wir jeden Tag zusammenarbeiten – beim Kampf gegen Terrorismus, in der Nato, in Wirtschaftsfragen, bei der Flugsicherheit“, so die Worte von Washingtons Außenamtssprecher Boucher. „Wir sind manchmal in manchen Angelegenheiten unterschiedlicher Auffassung, aber werden unseren Verbündeten nicht den Rücken kehren – und sie uns nicht ihren.“(32)

Es gibt wenig handfeste Gründe an dieser Aussage zu zweifeln. Die transatlantischen Beziehungen gleichen einer traditionellen Klischee-Ehe. Ohne Leidenschaft leben Partner und Partnerin nebst den Kleinen in einer Zwangs- und Zweckgemeinschaft. Im Normalfall trifft „einer“ die Entscheidungen und wacht mit Argusaugen über die Haushaltsmittel der anderen. Die Großen betreiben gemeinsam oder getrennt die Schikane der Kleinen. Im Konfliktfall sucht man sich die Loyalität der Schwächeren mit einer Mischung aus Zuneigung und Zwang zu organisieren. Genehmes Verhalten wird dann mit Großmütigkeit belohnt. Bei Differenzen droht „einer“ früher oder später mit dem Knüppel. Rebellion endet in der Regel mit der Anerkennung des Status Quo. Gefühlskalte Nutzenabwägungen und Intrigen bestimmen die Beziehungen im Alltag. In der für alle realen oder eingebildeten Bedrohungssituation aber wird die größtmöglichste emotionale Bindung fühlbar. Dann, wenn sich alle zusammen in der Angst vor fremden Eindringlingen, die etwas abhaben wollen, weiden. Trennung ist wirklich nur die allerletzte, tausendmal abgewogene Option.(33)

 

In der nächsten Ausgabe wird dieser Artikel fortgesetzt. Dabei steht die Frage im Mittelpunkt, welche Konsequenzen aus dem transatlantischen Verhältnis von Konflikt und Kooperation für die Entwicklung einer linken Praxis abzuleiten sind.

 

 

Fußnoten:

(1) Vgl. FAZ, 24.01.03, S. 33-34.

(2) Das insbesondere von konservativen Christdemokraten mit geopolitischen und kulturalistischen Argumentationen unterfütterte Konzept entspricht in vielen Bereichen der Realität einer hierarchisierten europäischen Integration. Zu forderst profitieren Deutschland, Frankreich, die Beneluxstaaten und Italien von der fortgeschrittenen gemeinsamen Institutionalisierung auf finanz- und wirtschaftspolitischen Feldern. Trotzdem ist auch diese Zone immer wieder von Widersprüchen, wie beispielsweise zwischen Deutschland und Frankreich in der Agrarpolitik und aktuell zwischen Italien und den restlichen Staaten in der Sicherheitspolitik bestimmt. Der Begriff ist also, selbst wenn er in kritischer Absicht verwendet wird, nicht hundertprozentig trennscharf. Sieht man von der italienischen Ausnahmesituation ab, trifft er aber noch eher als „Euro-Deutschland“ die gegenwärtige Konfliktkonstellation.

(3) Vgl. TAZ, 31.01.03, S. 3.

(4) Vgl. Erklärung des deutsch-französischen Verteidigungs- und Sicherheitsrats, www.bot schaft-frankreich.de.

(5) FAZ, 5.02.03, S. 12.

(6) FAZ, 31.01.03, S. 4.

(7) Dabei handelt es sich um die Staaten der sog. Vilnius-Gruppe: Albanien, Bulgarien, Kroatien, die baltischen Republiken, Mazedonien, Rumänien, Slowakei und Slowenien.

(8) Zit. n. www.german-foreign-policy. com/de/news/article/1004914800.

(9) Zit. n. ebd.

(10) Zit. n. www.german-foreign-policy.com /de/news/article/ 1039820400.

(11) NSS, S. 30, zit. n. Jürgen Wagner: US-Vorherrschaft ausbauen und verewigen, in: Wissenschaft und Frieden 1/03, S. 7-10.

(12) Vgl. Blätter für deutsche und internationale Politik, April 1992, S. 429.

(13) Tobias Pflüger: Nato als Kriegsführungsbündnis, in: IMI-Analyse, www.imi-online. de/2002.php3?id=364.

(14) FAZ, 05.11.02, S. 12.

(15) FAZ, 05.11.02, S.7.

(16) FAZ, 15.11.02, S.2.

(17) Zit. n. Arno Neuber: Operationen über Raum und Zeit, in: konkret 1/03, S. 32.

(18) WaS, 10.11.02, S. BW 5.

(19) Norbert Eitelhuber: Die NATO-Response Force, in: SWP-Aktuell, 52, November 2002.

(20) Hans Arnold: Wege und Möglichkeiten künftiger europäischer Sicherheitspolitik, in: APuZ, B 24/2002, S. 22-30.

(21) FAZ, 05.11.02, S. 12.

(22) Vgl. Redaktion Phase 2/Leipzig: Die Klagen der Mindermacht, in: Phase 2, Nr.5, S. 38ff.

(23) Alyson J.K. Bailes, Reaktionsstreitmacht der NATO, in: Internationale Politik, 1/2003, S. 49ff.

(24) SZ, 10.02.03, S. 4.

(25) Vgl. Ralf Roloff: Europa, Amerika und Asien zwischen Globalisierung und Regionalisierung, Paderborn 2001, bes. S. 199ff.

(26) Vgl. Fischer-Almanach, Frankfurt/Main 2002, bes. S. 278.

(27) Vgl. Jungle World, 28.08.02, S.17.

(28) Vgl. FAZ, 27.09.02, S.11.

(29) Vgl. SZ, 06.02.03, S. 7.

(30) Die Zeit, 13.02.03, S.1.

(31) Rede von J. Fischer über die transatlantischen Beziehungen, 15.03.02, www. dgap.org /IP/ip0106/fischer150301.html

(32) FAZ, 25.01.03, S. 1.

(33) Sowohl die nach Redaktionsschluss erfolgte Einigung auf eine „vorsorgliche Planung“ der Nato als auch die Disziplinierung der osteuropäischen EU-Kandidaten durch Chirac entsprechen dieser Beziehungsstruktur.

Udo Schneider
BgR Leipzig