Krieg gegen die Ukraine

Volksgeist, Wartburgfest und deutsche Eigentlichkeit als Vorbilder indigener Selbstbestimmung

Die Redaktion der Phase 2 befand sich bereits im Redaktionsschluss, als der Krieg gegen die Ukraine begann. Auch wenn wir keine Zeitschrift für aktuelle Berichterstattung sind, entschieden wir, das Thema in dieser Ausgabe zumindest noch anzusprechen. Uns interessierten vor allem die Fragen, was nach dem Krieg gegen die Ukraine kommen kann, welche Vorstellungen eines Ausgangs die russische Regierung hat und welche Szenarien zum Ende des Krieges als möglich bzw. diskussionswürdig angesehen werden. Wir baten Menschen mit Kenntnissen über die ukrainische und russische Linke um eine erste Einschätzung. Dass wir hier nun zwei Beiträge mit dem Fokus auf die russische Gesellschaft veröffentlichen, liegt daran, dass die wenigen ukrainischen Kontakte, die wir haben, einfach gerade keine Kapazitäten oder kein Interesse hatten, für uns etwas zu schreiben. Sicherlich kann niemand voraussagen, was in den nächsten Wochen und Monaten passiert, wir freuen uns, dass wir dennoch zwei Autor:innen gefunden haben, die die Entwicklung in Russland für uns einschätzen. 

 

Ein stabiler Frieden ist nicht in Sicht 

Am frühen Morgen des 24. Februar 2022 ging in Russland eine ganze Epoche zu Ende. Ein Zurück in die Zeit vor diesem Datum ist ausgeschlossen – darüber sind sich zumindest alle kremlkritischen Expert:innen einig. Während in der Ukraine russische Streitkräfte komplette Städte zerbomben und Schäden riesigen Ausmaßes sowohl hinsichtlich der militärischen, als auch der zivilen Infrastruktur entstehen, steht die Frage im Raum, was sich der Kreml von diesem Angriff erwartete. Genauer gesagt muss man von Wladimir Putin als Einzelperson sprechen, denn, soweit bekannt, war nur ein sehr enger Kreis über die Ernsthaftigkeit der Invasionspläne im Bilde. Dazu zählen sicherlich der Generalstab und Teile des Sicherheitsapparates, aber nicht einmal alle der Öffentlichkeit präsentierten langjährigen Führungskader waren informiert. 

Die Bevölkerung als politisches Subjekt hat im russischen Machtgefüge grundsätzlich keinen Platz, dem Apparat kommt die Aufgabe zu, den Staat im Sinne des Präsidenten bei entsprechender Honorierung zu verwalten. Putin stand nie für Transparenz, in den vergangenen beiden Pandemiejahren hat er jedoch seine gesamten Kontakte auf ein absolutes Minimum reduziert. Er schirmte sich so weit von der Außenwelt ab, dass seinen Aufenthaltsort nur sein verschwiegenes Personal kannte. Wer um eine Audienz bat oder unaufschiebbare Angelegenheiten nicht per Videoschaltung erledigen konnte, musste sich in eine zweiwöchige Quarantäne begeben – ein Luxus, den sich nur die Generalität und wenige mit höheren Aufgaben befasste Kader leisten konnten. Unter den Bedingungen eines fast schon wahnwitzigen Geheimhaltungstriebes können unabhängige oder zumindest unkonventionelle Stimmen nicht gehört werden und finden demnach weder Eingang in Gefahrenanalysen, noch in die Ausarbeitung zukunftsträchtiger Lösungsstrategien. 

Diese Vorbemerkungen sind von zentraler Bedeutung und besagen, dass das von Putin geschaffene Machtsystem um sich selbst kreist und auf Dauer denkbar ungeeignet ist, komplexe Herausforderungen mit gebotenem Realitätsbezug zu bewältigen. Bislang machten sich keine das System gefährdenden Kollateralschäden bemerkbar, doch das bedeutet nicht, dass dieses Konzept auch weiterhin aufgeht. Denn dieser Krieg legt grundlegende Defizite des Systems in einer unbarmherzigen Weise frei, wie es zuvor niemals der Fall war. 

Der Kreuzzug gegen die Ukraine beruht offensichtlich auf fatalen Fehleinschätzungen. Armee und Geheimdienste lieferten geschönte und unrealistische Angaben über die Kampfbereitschaft in der ukrainischen Armee, prorussische Stimmungen wurden sträflich überbewertet. Aber auch die Kampfmoral in den eigenen Streitkräften, einschließlich deren Fähigkeit zu geschlossenem Vorgehen im Kriegsfall, entsprach nicht den Erwartungen. Ein »Blitzkrieg« war geplant, Kiew hätte innerhalb weniger Tage eingenommen werden sollen, die Paradeuniformen lagen schon bereit. Statt Glanz und Gloria bekam das Publikum des russischen Staatsfernsehens fadenscheinige Erklärungen vorgesetzt. Acht Jahre lang habe die Ukraine die russische Bevölkerung im Donbass terrorisiert, jetzt müssten deren Interessen endlich auf gebührende Weise geschützt werden. Kritiker:innen des Kreml habe die Lage im Donbass schlichtweg nicht interessiert – dieses Scheinargument nutzt die russische Propaganda schamlos aus. Von Denazifizierung als Kriegsziel war plötzlich die Rede, auch von der Wahrung russischer Sicherheitsinteressen, die sich allerdings nicht unbedingt mit der Verstärkung von Nato-Truppen an der Grenze zu Russland und der Ukraine decken. 

Ukrainische und russische Angaben hinsichtlich der Verluste bei russischen Armeeangehörigen gehen weit auseinander, aber allein die Tatsache, dass sich russische Generäle unter den Toten befinden, vermittelt ein Bild von den desaströsen Zuständen. Offenbar sahen die Betroffenen sich gezwungen, ihre Posten im Hinterland zu verlassen, um die Kampfhandlungen vor Ort zu koordinieren. Es dauerte einen ganzen Monat, bis sich der Generalstab endlich erklärte und preisgab, weshalb die Streitkräfte gleich von drei Seiten in die Ukraine einfielen, obwohl sie damit sichtlich komplett überfordert waren. Mit dieser Taktik seien ukrainische Truppen davon abgehalten worden, sich im Donbass zu konzentrieren, hieß es. Verteidigungsminister Sergej Schoigu, über dessen Verbleib zeitweise gerätselt wurde, vermeldete schließlich die Beendigung der ersten Phase der »Spezialoperation«, wie der Krieg im offiziellen Jargon genannt wird. Über die zweite Phase oder eine dritte kann man nur spekulieren. Tatsächlich lässt sich eine Verlegung einzelner Truppenverbände beobachten, weitreichende Schlussfolgerungen daraus zu ziehen macht gegenwärtig keinerlei Sinn. 

Parallel laufen Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland. Die russische Delegation führt der ehemalige Kulturminister Wladimir Medinskij an, der sich vor allem als Verfechter konservativer Geschichtsbilder einen Namen gemacht hat, in denen Russlands Status als Großmacht zur Geltung kommt. Weder ein Vertreter der Generalität, noch ein anderer einflussreicher Staatsvertreter leiten die russische Delegation. Das verdeutlicht, wie wenig sich Putin von diesen Gesprächen erwartet. Russland kann sich angesichts des eigenen militärischen Versagens Verhandlungen nicht gänzlich entziehen, sie sind notwendig, um Zeit zu schinden und Schadensbegrenzung zu betreiben. Niemand soll hinterher sagen können, Russland habe nicht von Beginn an ehrlich versucht einen Kompromiss herbeizureden. 

Doch der jetzige Prozess sieht keine echten Verbindlichkeiten vor und Russland zieht derzeit einen Waffenstillstand überhaupt nicht in Betracht. Kiew hingegen demonstriert die Bereitschaft zu gewissen Zugeständnissen in Bezug auf einen zukünftigen neutralen Status und die Absage an einen Beitritt zu einem Militärbündnis. Dieser Punkt kommt dem Kreml entgegen, aber weder steht eine Demilitarisierung, wie von Russland gefordert, ernsthaft zur Debatte, noch besteht die Option erste Annäherungsversuche hinsichtlich des Status der von Russland beanspruchten Krim und dem Donbass zu erreichen. Kiew will diese Diskussion zu einem späteren Zeitraum von einem Referendum abhängig machen. 

Hier treffen zwei komplett gegenläufige Politikstile aufeinander. Der Kreml kann es sich nicht leisten, nicht als Sieger aus dem real und virtuell ausgetragenen Gefecht mit einer aus Russlands Einflusssphäre entglittenen Ukraine hervorzugehen. Insofern ist eine Option, dass beispielsweise nach einer erfolgreichen Ausweitung der Grenzen der sogenannten Donezker und Lugansker Volksrepubliken auf das Gebiet des gesamten Donbass ein Teilsieg erklärt wird. Das hängt jedoch davon ab, ob die russischen Streitkräfte gegenwärtig dazu in der Lage sind, bestehende Defizite wettzumachen. 

Für halbwegs ernsthafte Prognosen liegen viel zu viele Variablen vor, die es zu berücksichtigen gilt, über eines sollte man sich jedoch keine falschen Vorstellungen machen: Ein stabiler Frieden ist nicht in Sicht, vielmehr läuft es auf einen langfristig ausgetragenen Konflikt hinaus, bei dem kurzfristig immer wieder militärische Mittel zum Einsatz kommen könnten, ohne ein klares Ziel. Denn damit tut sich die russische Seite ohnehin schwer, auch wenn in den Köpfen führender Staatsvertreter:innen die ein oder andere Variante einer territorialen Machtausweitung weiterhin die Oberhand behalten wird. Klar ist auch: Die jetzigen Verhandlungen sind so angelegt, dass früher oder später im Fall einer nicht zu übersehenden taktischen und strategischen Niederlage Schuldige dafür benannt werden müssen. 

Traditionell kommen dafür in Russland liberale Oppositionelle in Frage, das wurde bereits nach Beendigung des ersten Tschetschenienkriegs 1996 durchexerziert. Doch nach deren kompletter Ausschaltung aus dem öffentlichen Leben taugen sie für diese Rolle nun nicht mehr und könnten von russischen Oligarchen abgelöst werden, die in den vergangenen Wochen ihre Antikriegshaltung zum Ausdruck brachten. Sicher mag deren offene Kritik, wie sie beispielsweise Oleg Deripaska immer wieder vorbringt, durch den Verlust ihres Vermögens aufgrund der Sanktionen motiviert sein. Fakt ist aber, dass diese Sanktionen das gesamte Land treffen. Das Ausmaß wird für viele Menschen erst in einigen Monaten voll zum Tragen kommen, wenn beispielsweise Entlassungen in etlichen Branchen anstehen. Die Sanktionspolitik der Europäischen Union sieht keine Verhandlungsmasse vor, es gibt keine konkreten Vorstellungen davon, welche Zugeständnisse Russland erfüllen müsste, damit Maßnahmen zurückgenommen werden. Aus den USA hingegen wird das Signal gesendet, die Sanktionen bleiben in Kraft, solange Putin an der Macht ist. Russland verliert auf ganzer Linie und das russische Desaster in der Ukraine wird zu einem riesigen Kraftakt, der nur zu stemmen ist, wenn die Einnahmen aus dem Gas- und Ölgeschäft nicht versiegen. 

Die russische Opposition ist traditionell auf die innere Verfasstheit Russlands fixiert. Auch wenn sie sich im Rahmen ihrer Möglichkeit über die Verbrechen der russischen Streitkräfte in der Ukraine informiert, stehen als Diskussionsgegenstand die Folgen des Krieges für Russland im Zentrum. Vor dem Hintergrund der laufenden Militäroperation wüteten die Behörden in einem nie gekannten Ausmaß. Die Überreste der unabhängigen Medienlandschaft wurden ausgelöscht oder ins Ausland gedrängt. Einzelne Kommentator:innen sprechen gar von einem Bürgerkrieg zwischen einer Europa zugewandten Schicht und einer archaisch denkenden Minderheit, der sich in der Ukraine mit Gewalt an die Oberfläche gesprengt habe. 

Die Weichen für die heutigen Ereignisse wurden Anfang der 1990er Jahre gestellt, ein Schlüsselereignis war jedoch die Krim-Annexion 2014, von der sich weite Teile der russischen Bevölkerung einlullen ließen. Damals hat Putin begriffen, dass die Einverleibung als genuin russisch deklarierter Gebiete seiner Popularität dienlich ist, und er setzte nun zu einem weiteren Schlag an. Putins Machterhalt steht im Vordergrund, wie in der Opposition viele vermuten, der Mann im Kreml wird bis 2024 mit allen Mitteln versuchen, sich über Wasser zu halten. Dann finden die nächsten Präsidentschaftswahlen in Russland statt. Bis dahin kann fast alles passieren bis hin zu revolutionären Umbrüchen. Emanzipatorische linke Kräfte wünschen sich eine Repolitisierung der Gesellschaft, denn nur dann besteht eine Perspektive darauf, der Herrscherclique Paroli zu bieten. 

 

Varvara Korotilova 

 

»Spezialoperation« und Frieden 

Die Frage der Phase 2-Redaktion nach den möglichen Ergebnissen eines noch laufenden militärischen Konflikts gleicht einer Aufforderung zum Wetten. Der Erkenntniswert beschränkt sich eigentlich darauf, in einigen Jahren feststellen zu können, wer von den Autor:innen 2022 am besten spekulieren konnte. Dies ist für mich zwar kein Grund, mich nicht an der Spekulationsrunde zu beteiligen, liefert jedoch einen Hinweis auf den begrenzten analytischen Wert der folgenden Ausführungen. 

Russlands Anspruch auf den Status einer anerkannten Groß- und Weltmacht stieß auf politische und ökonomische Grenzen. Diese beiden Adjektive sagen schon, dass die Gründe nicht einfach in der Geographie, »Mentalität«, »russischen Seele« oder in irgendeinem »historischen Erbe« liegen. Russland möchte in einer Welt agieren, in der politische Regeln von den ökonomisch erfolgreichen kapitalistischen Staaten – zu denen es sich selbst zählt – gesetzt werden. Diese sollen auch darüber entscheiden, wann Ausnahmen zulässig bzw. notwendig sind. Für die russische Führung ist es ein Dilemma, dass das Einhalten der Regeln ökonomisch wenig Erfolg bringt, aber dass die Verletzung politische und ökonomische Konsequenzen nach sich zieht, stellt auch ein Dilemma dar. Der Versuch, sich den Weg aus diesem Teufelskreis wortwörtlich freizuschießen, ist sichtbar misslungen. Mit dem militärischen Potenzial den politischen Status so weit aufzuwerten, dass der ökonomische entwickelt werden kann, scheint nicht zu funktionieren. Die offizielle Begründung Russlands für die »Spezialoperation« zitiert alle westlichen Begründungen für bewaffnete »Missionen« aus den letzten Jahrzehnten: Genozid, Selbstbestimmungsrecht, Gefahr durch Superwaffen – nichts davon wird im Westen ernst genommen und nichts deutet darauf hin, dass Russland noch etwas präsentiert, was eine Wende im »Informationskrieg« bringen könnte, egal wie der militärische Kampf weiter verläuft. Russland kann zwar versuchen, via eigene Medien ein Paralleluniversum zu schaffen, aber nicht die Kräfteverhältnisse in der westlichen Öffentlichkeit dauerhaft ändern. 

Die liberale (Partei-)Opposition Russlands, die von Freund:innen im Westen und Feind:innen im Kreml kurzsichtig als Gegnerin von jeglichem Großmachtstreben betrachtet wird, steht mit einem Programm bereit: durch Marktreformen erst zur ökonomischen Macht gelangen, um dann zu einer politisch-militärischen zu werden. Unabhängig davon, wann bzw. ob sie real in die Nähe der Macht gelangt – dass die Verfehlungen Putins mit »schmerzhaften, aber alternativlosen« Maßnahmen wiedergutgemacht werden müssen, wird ihr Regierungsprogramm sein. Das Programm der »linkspatriotischen« Opposition, heroisch durch den Wiederaufbau der Industrie, die Unabhängigkeit vom Weltmarkt auszubauen, klingt angesichts der aktuellen Sanktionen und der Durchhalteparolen der Regierung wie eine Verklärung der Not zur Tugend. 

Die seit der Unabhängigkeit laufende »Schaukelpolitik« der Ukraine führte nicht nur zu Ärger bei der russischen Führung, sondern anscheinend auch zu der Vorstellung, es könnte im Nachbarland eine ohne Wenn und Aber freundliche Regierung an die Macht gelangen. Bisher ist dies nicht erreicht. Im Gegenteil, den »schaukelnden« Wiktor Janukowitsch lösten Politiker ab, denen der »Weg-von-Moskau«-Kurs nicht weit genug gehen konnte. Die russische Hoffnung, eine komplette Umkehrung einzuleiten und die Ukraine als unabhängigen, aber abhängig-verbündeten Staat zu konzipieren, erlosch schon in der ersten Woche der sogenannten »Spezialoperation«. Das macht allerdings die Projekte der Zergliederung der Ukraine für die russische Politik aktueller. Die »Volksrepubliken« nicht mehr als innerukrainischen Faktor zu installieren, sondern als unabhängige Staaten anzuerkennen, eröffnet für Russland die Perspektive, in allen militärisch kontrollierten Teilen des Landes neue »Volksrepubliken« zu schaffen. Die Souveränität der Ukraine wäre damit offen zur Disposition gestellt. »Gebiete am Rand« könnten zu einem Rumpfstaat werden. Die Kosten für dieses Szenario wären für Russland allerdings enorm. Prorussische Kräfte, die vor Beginn der Kampfhandlungen an in weiten Teilen der Ukraine aktiv waren, kommen aktuell kaum zum Vorschein. Dies könnte sich ändern, sollten die militärisch besetzten Gebiete dauerhaft unter der Kontrolle der russischen Armee bleiben. Die neue Administration der Gebiete wäre nicht nur bei der Durchsetzung des Gewaltmonopols auf Russland angewiesen, sondern auch bei der Finanzierung des Wiederaufbaus. Es wäre ein sehr hoher Preis dafür, dass nicht die ganze Ukraine zu einem NATO-Staat oder einem mit ihr assoziierten Staat würde. 

Während in den letzten Jahren der Streit über die Haltbarkeit der These von der Singularität des Vernichtungsprogramms des nationalsozialistischen Deutschlands die sozialwissenschaftlichen Fakultäten erschütterte, wird diese These gerade in der politischen Rhetorik von allen Seiten zu Grabe getragen. Russland gibt an, gegen einen »Genozid« des ukrainischen »Naziregimes« vorzugehen, der ukrainische Präsident lässt bei kaum einer Ansprache den Verweis aus, dass Putin der Vollender von Hitlers Plänen sei. In der russischen Opposition kursiert der Spruch »Seit dem 24. Februar fühlen wir uns zugleich wie Deutsche und wie Juden im Dritten Reich 1941«. Bereitwillig greifen bundesdeutsche Journalist:innen und Politiker:innen die Narrative vom »Vernichtungskrieg« und der zielgerichteten Zerstörung von Gedenkstätten auf. Das angebliche Tabu von Holocaust-Vergleichen, das aus den Reihen der Postcolonial Studies so laut beklagt wurde, gehört jetzt wohl ganz offiziell der Geschichte an. Die Entdeckung der postkolonialen Theorie bei Linken in der Ukraine und in Russland hat einen paradoxen Effekt. Wurde die Theorie ursprünglich als Kritik an »dem Westen« formuliert, führt sie in den postsowjetischen Ländern zunehmend zur Positionierung für den Westen als »kleineres Übel« gegenüber Putin. 

Es ist das wahrscheinlich bekannteste Zitat Putins. In seiner Rede zur Lage der Nation im April 2005 bezeichnete er den Zerfall der Sowjetunion 1991 als »die größte geopolitische Katastrophe« des 20. Jahrhunderts. Während das Wort »Katastrophe« nahelegt, dass davon alle negativ betroffen waren, steht das Adjektiv »geopolitisch« in Dissonanz dazu, denn bei der Geopolitik gibt es stets Gewinner:innen und Verlierer:innen. 

Die sowjetische Vergangenheit als gemeinsamer Bezugspunkt hört nach dem Einmarsch in die Ukraine auf, das zu sein, was sie in den vergangenen Jahrzehnten war. Während nach dem Zerfall Jugoslawiens auf Kriege und Massenmord eine vermeintlich entpolitisierte kulturelle Nostalgiewelle folgte, scheint die Reihenfolge in dem europäischen Teil der ehemaligen Sowjetunion die umgekehrte zu sein. 

 

Ewgeniy Kasakow