Kriegsberichte aus Friedenszeiten

Martha Gellhorn ist vor allem als Kriegsreporterin bekannt. Mehr als ein halbes Jahrhundert lang war die amerikanische Journalistin überall dort an vorderster Front vertreten, wo Gewalt und Grausamkeit, kollektiver Hass und Irrsinn eskalierten. Den spanischen Bürgerkrieg bereiste sie 1937 als Sonderkorrespondentin, um für das Collier’s Magazine die Situation in Madrid und Barcelona während der Angriffe durch das franquistische Militär zu dokumentieren. Im Zweiten Weltkrieg berichtete sie u.a. aus Großbritannien, Finnland, Hong Kong, Burma und Singapur, die Landung der Alliierten in der Normandie 1944 erlebte sie an Bord eines Lazarettschiffs. Später schrieb sie über die Unabhängigkeitskämpfe in Java, den Sechstagekrieg in Israel, den Vietnamkrieg sowie Konflikte in Südamerika. Was Gellhorns Texte dabei aus der Vielzahl der Kriegsberichte hervorhebt, ist ihr emphatisches Interesse am Leiden des Individuums. Statt um politische Entscheidungen, Motive oder militärische Manöver drehen sich ihre Augenzeugenberichte um Leben und Alltag der Menschen inmitten der Katastrophe: Zivilisten, die in Cafés sitzen oder in Hauseingängen stehen, in der Schlange vor dem Lebensmittelgeschäft warten, zuhause in ihrer Wohnung sind oder schnell vor dem nächsten Granateneinschlag einen Platz überqueren wollen. Das Credo ihrer Arbeiten hat Gellhorn einmal selbst treffend beschrieben: »Im Krieg wusste ich nie mehr als das, was ich sehen und hören konnte, eine Vollzeitbeschäftigung. Das große Ganze ist immer da, und es scheint, dass ich mein Leben damit verbracht habe zu beobachten, wie das große Ganze die kleinen Leute betrifft, die es nicht ausgedacht und keine Kontrolle darüber haben.« (Bd. 1, 117) 

Aufgrund ihrer außergewöhnlichen und stets geschliffen formulierten Zeitungsbeiträge zählt Gellhorn im angelsächsischen Raum zu Recht zu den bedeutendsten Journalistinnen des 20. Jahrhunderts. Dagegen ist das Interesse am Werk der Autorin hierzulande eher bescheiden. Die wenigen deutschsprachigen Portraits beschränken sich auf Skurriles und Privates, etwa ihre gerade einmal fünf Jahre währende Ehe mit dem Schriftsteller Ernest Hemingway, oder versuchen sich an ankumpelnden Charaktergutachten: »eine getriebene und mutige Journalistin, vor allem aber ein Leistungsmensch« (Die Zeit) oder »unerschrockene, aber zickige und unwirsche Dame« (Sigrid Löffler). Indes wurde ihr journalistisches und schriftstellerisches Werk bislang kaum ins Deutsche übertragen. In der Edition Tiamat ist nun erstmals eine Übersetzung von Gellhorns Texten aus Friedenszeiten erschienen, angefertigt von Norbert Hofmann. Die zweibändige Anthologie mit den Titeln Der Blick von Unten (2019) und Das Gesicht des Friedens (2020) enthält Reportagen und Reiseberichte aus der Zeit der 1930er bis in die 1980er Jahre. Die englischsprachige Vorlage The View from the Ground stammt von 1988 (die erste Hälfte des Buches sogar bereits von 1959). Die Textauswahl geht noch auf die Autorin selbst zurück, in chronologischer Reihenfolge ist jedes Jahrzehnt von Gellhorn mit einem politischen wie autobiographischen Kommentar versehen. Dabei liefert sie nicht nur interessante Rückblicke auf ihr Leben und Urteil als international tätige Reporterin, sondern zeichnet zudem bewegende, drastische und kluge Momentaufnahmen von prägenden Ereignissen des 20. Jahrhunderts. 

Auch in Friedenszeiten ist der Krieg für Gellhorn ein zentrales Thema. Frieden, das bedeutet: »die Länder im Hintergrund lebten im Moment, als ich über sie schrieb, in Frieden, auch wenn es Friede auf Erden nicht gab« (Bd. 1, 9). So deutet sich das Nahen der deutschen Bombenangriffe in England schon 1938 an, als die britische Zivilbevölkerung sich mit Optimismus, Gottvertrauen und blinder Geschäftigkeit über die Möglichkeit eines bevorstehenden Luftkriegs zerstreut. Auch im Münchner Abkommen und der Annexion des Sudetenlandes durch Hitler im gleichen Jahr, deren Verlauf sie aus nächster Nähe verfolgt, zeigt sich für Gellhorn bereits die Destabilisierung der Kräfteverhältnisse in Zentraleuropa, die nur kurze Zeit später kulminiert. Als nach 1945 weite Teile des Kontinents durch Krieg und Faschismus zerstört sind, geht sie der tragischen Situation italienischer Kriegswaisenkinder in Neapel und der Umgebung Roms nach, und echauffiert sich in einem anderen Text über die wohlfeile Sorglosigkeit in Amerika, »weil Realität für den Großteil der Welt jetzt Hunger und Trostlosigkeit, zerstörte Häuser und Fabriken, zerschossene Autos, die am Straßenrand rosten, ausgebrannte Tanks, Lebensmittelkarten, die Undurchsichtigkeit der Schwarzmärkte, hoffnungslos geflickte Kleider, zerrissene Schuhe und die dürftige Zuteilung von Kohle bedeutet« (Bd. 1, 141). Ihr Interesse gilt stets den Schwachen und Unterdrückten, für die sie immer wieder in streitbarer Weise Partei ergreift. So etwa in Zeiten des US-amerikanischen Vietnameinsatzes, als sie sich aufseiten der westlichen Studentenproteste verortet und eine fast demutsvolle Bewunderung für Madame Bình hegt, die Unterhändlerin des Vietcong während der Friedensverhandlungen in Paris 1969: »Ich […] hatte das Gefühl, dass wir übergroße Amerikaner mit unserer verhassten Macht und unserem verfluchten Geld neben der Stärke dieser müden kleinen Frau Pygmäen waren.« (Bd. 2, 209) Kommunistin ist Gellhorn trotzdem nicht, vielmehr eine leidenschaftliche Verteidigerin der liberalen Demokratie. Auch ein anderer Krieg ist in ihren Texten immer wieder präsent: der Krieg gegen die Armut. In einer Reihe bedrückender Berichte über die Folgen der Weltwirtschaftskrise in den USA schildert sie die desolate Lage der amerikanischen Arbeitslosen um 1934, deren Lebensumstände durch Krankheit, Hunger und Stumpfsinn geprägt sind. Später, 1966, porträtiert sie das Elend der amerikanischen Unterschicht in Fällen vor einem Strafgericht in Missouri: »wir sind immer versessen darauf, die Größten und Besten zu sein, und so ist es vielleicht nicht verwunderlich, dass wir auch die größten und besten Slums haben« (Bd. 2, 179). 

Wenig Sympathien hegt Gellhorn, die 1945 an der Seite von US-Truppen die Befreiung des KZ Dachau miterlebte, auch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs für die Deutschen. Schon in der früheren Reportage Das deutsche Volk hatte sie kurz nach der Kapitulation des NS-Staats ihre Eindrücke aus dem Land zusammengetragen, in dem sich niemand an den Verbrechen gegen die Juden beteiligt oder auch nur davon gewusst haben will. Als sie 1962 nach Deutschland zurückkehrt und durch München, Hamburg und Frankfurt reist, findet sie die Mentalität der Bevölkerung weitgehend unverändert. Neben der kollektiven Schuldabwehr, die sich mittlerweile tradiert hat, ist es nun vor allem ein Hang zur grenzenlosen Selbstbespiegelung, der sie an der jüngeren Generation abstößt: »Ich denke, mein Problem mit den jungen Deutschen war, dass sie mich langweilten, selbst die wenigen, die ich mochte.« (Bd. 2, 202) Dagegen kommt dem Staat Israel in Gellhorns Texten eine besondere Bedeutung zu. Dieser ist für sie nicht nur eine unmittelbare Konsequenz aus dem Massenmord in Europa und die einzige Gewähr gegen dessen Wiederholung, sondern als nationales Gebilde, das innerhalb kürzester Zeit gegen massiven Widerstand buchstäblich aus dem Nichts geschaffen wurde, zudem »ein Denkmal für den harten, unerbittlichen Willen des Menschen« (Bd. 2, 70). 1961 beobachtet Gellhorn in Israel den Eichmannprozess und mag sich gängigen Deutungen über den ehemaligen SS-Obersturmbannführer nicht anschließen: »Das Böse ist nicht banal, wie Hannah Arendt behauptete. Das Böse ist gnadenlos und eiskalt, und wenn es entfesselt ist […], dann ist es allmächtig. Ich werde Ausschwitz nie vergessen; die Welt sollte es nie zulassen, dass Auschwitz vergessen wird.« (Bd. 1, 252) Auch der zeitgenössische Nahostkonflikt und die israelische Lebensrealität, die selbst in Friedenszeiten durch immer wiederkehrende Aggressionen der Nachbarstaaten geprägt ist, werden von Gellhorn plastisch ins Bild gesetzt. Nur wenig Mitgefühl kann sie dabei für die palästinensischen Araber aufbringen, deren Lebensumstände in den durch die Vereinten Nationen finanzierten Flüchtlingscamps in Jordanien, Gaza und im Libanon ihr keineswegs unerträglich schlecht erscheinen. Sachlich beschreibt sie, wie die Mythen über angebliche Gräueltaten Israels während des Palästinakriegs in der arabischen Bevölkerung kolportiert werden, palästinensische Kinder den Hass auf die Juden und den unbedingten Anspruch auf eine Rückkehr in das ehemalige Mandatsgebiet schon in der Schule erlernen: »Es ist schwer, sich um diejenigen zu sorgen, die nur um sich selbst kreisen. Es fällt schwer, die Mitleidlosen zu bemitleiden.« (Bd. 2, 78) Für sie ist die antizionistische Ideologie das zentrale Hindernis, das einer Lösung des Konflikts in der Region entgegensteht. 

Gellhorns Texte aus sechs Jahrzehnten beschreiben einen Parforceritt durch die Ära von Faschismus, Kaltem Krieg und Wiederaufbau. Sie wohnt in London, Kenia, Kuba und den USA, reist in die Karibik und hinter den Eisernen Vorhang. Was die disparaten Stoffe ihrer Reportagen und Berichte dabei zusammenhält, ist eine streng dokumentarische Haltung. Wo immer sie ist, beschreibt sie nüchtern was sie sieht und hört – distanziert, sachlich, oft nicht ohne Sarkasmus, aber frei von Ausschmückung oder aufdringlicher Sentimentalität, die für das Textgenre heute so bestimmend ist. Ihre Kollagen aus feinen Beobachtungen, Erlebnissen, Interviews und Gesprächen erinnern in Manchem sogar an Sozialstudien nach der Art von Sigfried Kracauers Die Angestellten. Zugleich hält die Journalistin nicht hinter dem Berg, wem ihre Sympathien und Abneigungen gelten, auf wessen Seite sie steht. Es ist dies stets die Seite der Machtlosen oder derer, die sie als solche ausmacht. Ihre Wertungen sind schneidend, grell und moralisch. Ein Bericht über den Prozess gegen den Komponisten Hanns Eisler vor dem Komitee gegen unamerikanische Umtriebe während der McCarthy-Zeit trägt etwa den Titel Eine wahre Schande. Bei ihren Reisen durch Länder und Milieus ist Gellhorn eines sicherlich nicht: um Urteile verlegen. Eine Einfühlung in das Fremde um des Fremden willen liegt ihr ebenso fern, wie sie fast überall über das schlechte Essen und die Borniertheit der Leute klagt. Anders als kultursensible Globetrotter, die jegliche Zumutung mit einem entzückten »Wie interessant!« quittieren, legt sie in universalistischer Perspektive an jeden, den sie trifft, die gleichen Maßstäbe an – nicht zuletzt an sich selbst. Klaus Bittermann weist in seinem Nachwort zu Recht darauf hin, dass Gellhorns Texte in den neu erschienenen Bänden aus einer anderen Zeit stammen: Einer Zeit der großen Erzählungen, der traditionellen Politik und der symmetrischen Kriege. Unvermindert spannend ist in diesen souverän formulierten, kühle Beobachtung und leidenschaftliche Parteinahme verbindenden Reportagen, die dennoch nie den Leser korrumpieren, aber auch heute der Blick einer radikalen Kosmopolitin.

 

Nicholas Coomann

 

Martha Gellhorn: Der Blick von unten. Reportagen 1931–1959. Band 1, aus dem Englischen von Norbert Hofmann, mit einem Nachwort von Caroline Moorehead, Edition TIAMAT, Berlin 2019, 361 S., € 28,00. 

 

Martha Gellhorn: Das Gesicht des Friedens. Reportagen 1960–1987. Band 2, aus dem Englischen von Norbert Hofmann, mit einem Nachwort von Klaus Bittermann, Edition TIAMAT, Berlin 2020, 420 S., € 32,00.