Krisen-Imperialismus

Sechs Thesen zum Charakter der neuen Weltordnungskriege

Erstens. Kapitalismus ist keine buddhistische Veranstaltung, ihm ist mit einem ahistorischen Verständnis nicht beizukommen. Die identische Logik des Verwertungsprinzips bewirkt nicht die ewige Wiederkehr des Gleichen, sondern einen irreversiblen historischen Prozess mit qualitativ verschiedenen Verhältnissen. Die jeweilige Weltkonstellation kann nur aus der Entwicklung des Weltkapitals heraus erklärt werden. Wenn sich eine bestimmte Stufe der Verwertung erschöpft hat, werden auch die damit verbundenen politischen Institutionen, Begriffe und Ideologien obsolet. Das gilt umso mehr bei einem Reifegrad des Weltsystems, wie er am Ende des 20. Jahrhunderts erreicht worden ist.

Die dritte industrielle Revolution der Mikroelektronik hat seit den achtziger Jahren damit begonnen, der Verwertung lebendiger Arbeit eine innere historische Schranke zu setzen. Das Kapital wird in dem Sinne „ausbeutungsunfähig“, dass auf der Höhe der von ihm selbst hervorgebrachten und irreversiblen Produktivitäts- und Rentabilitätsstandards keine realökonomische erweiterte Reproduktion (Expansion der Verwertung) mehr möglich ist. Diese „strukturelle Überakkumulation“ des Weltkapitals führt in den Metropolen qua Anwendung der Mikroelektronik zu einer strukturellen Massenarbeitslosigkeit, zu globalen Überkapazitäten und einer Flucht des Geldkapitals in den Finanzüberbau (Finanzblasen-Konjunktur). In der Peripherie verhindert der Mangel an Kapitalkraft die mikroelektronische Aufrüstung; aber gerade dadurch brechen ganze Nationalökonomien und Weltregionen umso schneller zusammen, weil sie so tief unter die Standards der Kapitallogik fallen, dass ihre gesellschaftliche Reproduktion vom Weltmarkt für „ungültig“ erklärt wird.
In der Folge kommt es zu einem Kostensenkungs- und Stilllegungs-Wettlauf. Globalisierung ist nichts anderes als transnationale Rationalisierung und insofern tatsächlich etwas qualitativ Neues. Der traditionelle Kapitalexport in Form von Erweiterungs-Investitionen im Ausland nach dem Baukasten-Prinzip wird ersetzt durch das Outsourcing von betriebswirtschaftlichen Funktionen, um das globale Kostengefälle auszunutzen. So entstehen einerseits transnationale Wertschöpfungsketten, während andererseits gleichzeitig wachsende Teile der gesellschaftlichen Reproduktion austrocknen und absterben. Dieser Prozess wird überformt und gesteuert vom ebenso globalisierten Finanzblasen-Kapital.
Allerdings bleibt der alte Abstand zwischen Metropolen und Peripherie auch unter den Krisenbedingungen der Globalisierung erhalten; jetzt nicht mehr als Abstand im Grad der kapitalistischen Entwicklung, sondern als Abstand im Grad des gesellschaftlichen Zerfalls. Die transnationale Wertschöpfung verdichtet sich in den Räumen der „Triade“ (USA/Nordamerika, EU, Japan/ Südostasien), während sie in der übrigen Welt immer dünner wird. Dabei sprengt die Dynamik der betriebswirtschaftlichen Globalisierung im Kontext der transnationalen Finanzmärkte die nationalökonomischen Regulationsräume auf.
Der Staat in den Metropolen verschwindet nicht, aber er hört auf, im klassischen Sinne „ideeller Gesamtkapitalist“ zu sein. Weil er sich im Unterschied zur Betriebswirtschaft nicht transnational zerstreuen kann, verliert er eine Funktion der Regulation nach der anderen und mutiert zur rein repressiven Krisenverwaltung. Es handelt sich aber nicht bloß um eine soziale Degradation wachsender Teile der Gesellschaft, sondern damit zerschlägt das Kapital auch unfreiwillig eine ganze Reihe seiner eigenen Rahmen- und Existenzbedingungen. Das zeigt sich nicht zuletzt in einem Widerspruch neuer Qualität zwischen transnationaler Verwertung des Kapitals und nationaler Form des Geldes (Währung).
In der Peripherie lösen sich zusammen mit dem Großteil der kapitalistischen Reproduktion die Staatsapparate in einem weitaus größeren Umfang auf. Die öffentlichen Dienste verschwinden fast vollständig, die Verwaltung kapituliert, die Repressionsapparate verwildern. Übrig bleiben nur kleine Produktivitäts- und Rentabilitätsinseln in einem Ozean von Desorganisation und Verelendung. Jede nationalökonomische Entwicklung kommt zum Stillstand; die global agierenden Konzerne reißen sich jene insularen Sektoren als Bestandteile ihrer transnationalen Betriebswirtschaft unter den Nagel. Parallel dazu entsteht eine Plünderungsökonomie, in der die physische Substanz der zusammengebrochenen Volkswirtschaft ausgeschlachtet wird und Bevölkerungsgruppen nach ethnischen oder religiösen Kriterien in einer Fortsetzung der Konkurrenz mit anderen Mitteln übereinander herfallen. An die Stelle gesellschaftlicher Institutionen treten marodierende Gruppen. Ein Großteil der Eliten verwandelt sich in die Führung von Ethno- oder Religionsbanditen und Clan-Milizen, in Warlords und Fürsten des Terrors.
Diese Verhältnisse bilden nur ein Übergangsstadium der Weltkrise an der historischen Grenze des Verwertungsprozesses. Vorerst kann die Plünderungsökonomie noch an den Weltmarkt andocken und die Ausschlachtung der ökonomischen Ruinen ebenso als weitergehenden Verwertungsprozess erscheinen lassen, wie es andererseits auch durch die immer neue Aufblähung von Finanzblasen in den Zentren geschieht. Aber beide Phänomene nähern sich der völligen Erschöpfung.

Zweitens. Vor diesem Hintergrund hat sich der klassische Imperialismus erledigt. Wie sich einerseits die Betriebswirtschaft nicht mehr national formieren und regulieren lässt, so macht andererseits die Unterwerfung und Einverleibung von kapitalistisch überflüssigen Bevölkerungsmassen keinen Sinn mehr. Die territoriale Form der Herrschaft und Expansion ist obsolet geworden. Die „hands“ haben in ihrer globalen Mehrzahl ausgedient, ohne dass sie jedoch aus der kapitalistischen Logik herauskommen, die als negative Welt-Vergesellschaftung auf Biegen und Brechen aufrecht erhalten wird.
Schon in der Nachkriegsgeschichte war die Konkurrenz der alten (hauptsächlich europäisch bestimmten) nationalen Ausdehnungsmächte abgelöst worden durch die bipolare Konkurrenz der Supermächte USA und Sowjetunion. Dabei war nicht mehr der Kampf um nationale Einflusszonen bestimmend, sondern die Frage der Regulationsprinzipien und Modalitäten kapitalistischer Reproduktion. Es handelte sich um die Konkurrenz der historischen Nachzügler auf dem Weltmarkt, der Gesellschaften „nachholender Modernisierung“ im Bezugsraum der Pax Sowjetica, mit den Gesellschaften des entwickelten kapitalistischen Zentrums im Bezugsraum der Pax Americana. Die USA waren bereits damals zur alleinigen Führungsmacht des Westens auf der Basis kontinentaler Ressourcen und des größten Binnenmarkts der Welt herangereift; uneinholbar davongezogen durch die Dynamik ihres militärisch-industriellen Komplexes seit dem II. Weltkrieg.
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Ende der „nachholenden Modernisierung“ in der Krise der dritten industriellen Revolution gibt es kein Zurück zu den alten innerimperialistischen Konflikten nationaler Ausdehnungsmächte. Stattdessen haben wir es mit der planetarischen Vereinheitlichung der Pax Americana zu tun; allerdings im Kontext eines prekären Minderheitskapitalismus von Finanzblasen- und Plünderungsökonomie. Es ist lächerlich, von einer neuen innerimperialen Konkurrenz zwischen USA und BRD bzw. EU zu reden. Der in den Jahrzehnten des Nachkriegsbooms aufgebaute US-Militärapparat ist konkurrenzlos; Jahr für Jahr beträgt der US-Rüstungsetat mehr als das Zwanzigfache des deutschen. Es gibt weder militärische noch politische und ökonomische Bedingungen für eine neue Konkurrenzmacht.
Trotz einer gewissen einschlägigen Rhetorik und einzelner Interessenmomente agieren die USA nicht im Namen einer nationalen territorialen Expansion, sondern als eine Art globale Schutzmacht des Verwertungs-Imperativs und seiner Gesetze unter Krisenbedingungen des Weltsystems. Alle bewegen sich im Kontext transnationaler Verwertungsprozesse unter gleichzeitigem Druck einer wachsenden Masse von „Überflüssigen“. Deshalb ist die Rolle der USA als letzte, monozentrische Supermacht nicht bloß äußerlich von ihrem militärischen Gewicht her zu erklären, sondern auch aus den deterritorialisierten Verhältnissen der Globalisierung selbst. Das gesamte transnationale Kapital, die Finanzmärkte und die verbliebenen Staatsapparate des Zentrums sind abhängig von der weltpolizeilichen Zugriffsfähigkeit der USA.
Was sich so herausgebildet hat, ist ein „ideeller Gesamtimperialismus“ unter alleiniger Führung der USA, verlängert über die Nato und andere weltkapitalistische Institutionen. Das Feindbild ist ganz eindeutig kein innerimperialistisches nationaler Interessen, sondern ein demokratisch-gesamtimperiales gegen die Krisengespenster des vereinheitlichten Weltsystems. An die Stelle des staatskapitalistischen Imperiums der gescheiterten „nachholenden Modernisierung“ ist als neues „Reich des Bösen“ ein diffuser Komplex von Störpotentialen, Ethno- und Religionsterrorismus, anomischen Verhältnissen usw. getreten.
Der „ideelle Gesamtimperialismus“ agiert im wesentlichen als Sicherheits- und Ausgrenzungsimperialismus des demokratischen kapitalistischen Zentrums gegen die vom Kapital selbst erzeugten Krisenverhältnisse, ohne diese je bewältigen zu können. Sicherheit soll hergestellt werden, um den reibungslosen Ablauf kapitalistischer Transaktionen bis in die prekären Verwertungsinseln der Peripherie hinein zu gewährleisten. Dazu gehört an vorderster Stelle, dass der Zufluss des Treibstoffs für die kapitalistische Weltmaschine garantiert wird. Auch dabei geht es aber nicht um spezifisch nationale Ölinteressen, sondern um den Ablauf transnationaler Verwertung. Erst recht jenseits nationaler territorialer Machtansprüche liegt das gemeinsame Ausgrenzungsinteresse des Zentrums gegen die globalen Flucht- und Migrationsbewegungen aus den Zusammenbruchszonen der Peripherie.

Drittens. Die Widersprüche im Rahmen des demokratischen Gesamtimperialismus (etwa der aktuelle Disput zwischen der BRD, Frankreich, Belgien etc. einerseits und der Führungsmacht USA andererseits) sind bloß zweitrangig. Daraus die Logik eines neuen innerimperialen Großkonflikts nach dem Muster der Weltkriegsepoche zu folgern, wäre ungefähr so intelligent wie der Versuch, die Differenzen etwa zwischen Nazi-Deutschland und Franco-Spanien (das sich bekanntlich aus dem II. Weltkrieg herausgehalten hat) zum „eigentlichen“ Konflikt jener Zeit zu erklären.
Es ist kein nationales Konkurrenzverhältnis alten Musters, das die gegenwärtigen innerimperialen Auseinandersetzungen bestimmt, sondern die Furcht einiger subalterner Regierungen vor möglicherweise nicht mehr beherrschbaren Konsequenzen. Nato und übrige Staatenwelt differenzieren sich in devote und in zaudernde Vasallen, ohne dass letztere zur offenen Rebellion gegen die USA fähig oder auch nur willens wären. Das Zaudern entspringt eher der Furcht derjenigen, die nicht selber den Finger am Abzugshahn haben, während die Willfährigen eher solche sind, die nichts mehr zu verlieren, aber auch sowieso nichts zu sagen haben.
Während es bislang einschließlich der Afghanistan-Intervention keinerlei Widerspruch gegen die Weltordnungskriege unter Ägide der USA gegeben und die rotgrüne Regierung ihre germanischen Hilfstruppen mit hurra-demokratischer Ideologie ins Feld geschickt hatte, weckt nun der angekündigte Präventivschlag gegen den Irak Besorgnisse, weil ganz offen Völkerrecht, Uno und Souveränität - die Garantien der viel beschworenen kapitalistischen Staaten- und „Völker“-Gemeinschaft - missachtet werden. Die BRD, Frankreich und Konsorten bekommen es mit der Angst zu tun, dass mit ihnen bald ähnlich umgesprungen werden und das bisherige legitimatorische Konstrukt seinen Geist aufgeben könnte.
Dass die USA derart rüde die Spielregeln der von ihnen selbst nach 1945 installierten kapitalistischen Staatenwelt mit Füßen treten, folgt formal aus dem inneren Widerspruch von nationaler Verfasstheit der letzten Weltmacht einerseits und ihrer transnationalen „Mission“ als Schutzmacht des globalisierten Verwertungsprozesses andererseits. Der tiefere inhaltliche Grund ist aber, dass das Prinzip der Souveränität selber obsolet geworden ist, das gerade darin besteht, Bevölkerungen territorial als „Gesamtarbeitskraft“ zusammenzufassen. Sogar die Staaten des Zentrums einschließlich der USA selbst geben qua „Privatisierung“ bis hin zum Gewaltapparat immer mehr innere Funktionen der Souveränität ab. Indem sie nun auch in der Außenbeziehung die Souveränität der „Schurkenstaaten“ für nichtig erklären, exekutieren die USA nur die Weltkrise auf der politisch-juristischen Ebene, in der sich das Ende aller bürgerlichen Vertragsverhältnisse überhaupt (und letztlich auch das Ende der Souveränität der USA selbst) ankündigt. Der konservative Widerstand eines Teils der europäischen Staatenwelt gegen diese Dynamik ist zum Scheitern verurteilt. Dabei mögen auch alte antiamerikanische Ressentiments eine Rolle spielen, aber keine entscheidende mehr.

Viertens. Das Problem der gesamtimperialen Weltpolizei besteht darin, dass sie nur auf der Ebene von Souveränität agieren kann, die sie andererseits eigenhändig destruieren muss. Das gilt auch für die High-Tech-Waffensysteme, die auf klassische territoriale Konflikte ausgerichtet sind. Die Krisengespenster, Störpotentiale, Terrorbanden usw. sind damit nicht zu erreichen, weil sie selber in den Falten der Globalisierung agieren. Al Kaida ist genau wie ein transnationaler Konzern strukturiert. Die militärische Überlegenheit wird nutzlos, der „Krieg gegen den Terror“ zum Schlag ins Leere. Gleichzeitig droht mit dem Ende der Finanzblasen-Konjunktur ein schwerer Krisenschub für das kapitalistische Zentrum, insbesondere für dessen Herz, die US-Ökonomie selbst, und in der Folge eine schwere Weltdepression. Damit wäre auch die weitere Finanzierungsfähigkeit des High-Tech-Gewaltapparats der letzten Weltmacht in Frage gestellt.
Deshalb hat die US-Administration vom „Krieg gegen den Terror“ auf das Paradigma der „Schurkenstaaten“ zurückgeschaltet. Der Präventivschlag gegen den Irak signalisiert eine doppelte Flucht nach vorn. Zum einen soll die Ruine der irakischen Souveränität mit ihrer ausgepowerten Armee als leichter Gegner klassischer staatlich-territorialer Prägung „besiegt“ werden, um der Welt zu zeigen, wer Herr im Haus ist. Zum andern soll der drohende ökonomische Einbruch durch den unmittelbaren Zugriff auf die irakischen (vielleicht auch die saudischen) Ölfelder und die Zerschlagung der Opec aufgefangen werden. Dabei geht es weniger um den materiellen Fluss des Öls, der auch ohne Militärintervention gewährleistet wäre, sondern kurzfristig um die Rettung der Finanzmärkte. Das versiegende Recycling aus den Finanzblasen muss erneuert werden, und das geht nicht ohne eine „Zukunftsoption“ für eine neue säkulare Prosperität. Nachdem sich in dieser Hinsicht die Option des „pazifischen Jahrhunderts“ mit dem Zusammenbruch des japanischen und südostasiatischen Modells ebenso als Flop erwiesen hat wie die New Economy des Internet- und Telekom-Kapitalismus, soll es jetzt die Option „Öl zu Vor-Opec-Preisen“ unter direkter US-Kontrolle bringen.
Der Schuss könnte jedoch nach hinten losgehen. Die irakische Armee ist zwar kein ernsthafter Gegner; aber ein möglicher Städtekampf um Bagdad und andere Zentren mit hohen Opferzahlen, großen Zerstörungen und Millionen von Flüchtlingen würde die USA in der ganzen Welt moralisch diskreditieren. Vor allem aber kann mit Sicherheit kein stabiles Regime installiert werden; Milosevic und Saddam stellen sowieso Auslaufmodelle der Souveränität dar. Eine US-Militärverwaltung des Irak und der gesamten Ölregion in der ständigen Konfrontation mit Guerilla und Terror wäre jedoch weder bezahlbar noch politisch-militärisch durchhaltbar und überdies alles andere als ein Euphorie-Signal für die Finanzmärkte. Der „Sieg“ über den Irak wird unvermeidlich ein Pyrrhus-Sieg, der die Gesamtkrise des Weltsystems nur verschärfen kann.

Fünftens. Es geht allerdings auch gar nicht bloß um die Scheinrationalität bestimmter „Interessen“, die immer schon dem irrationalen Selbstzweck des Verwertungsprinzips untergeordnet sind. Der vulgäre Interessenmaterialismus verkennt die Realmetaphysik des Kapitals als säkularisierte Religion, deren Irrationalität an den Grenzen des Systems die binnenrationalen Interessen überwältigt. Der gegen alle sinnlichen Inhalte gleichgültige Verwertungsimperativ verlangt letztlich die Auflösung der physischen Welt in die leere Formabstraktion des Werts, also ihre Vernichtung. Insofern kann von einem geradezu gnostischen Todestrieb des Kapitals gesprochen werden, der sich in der betriebswirtschaftlichen Zerstörungslogik ebenso äußert wie in den Gewaltpotentialen der Konkurrenz. Weil die Widersprüche nicht mehr in ein neues Akkumulationsmodell aufgelöst werden können, wird dieser Todestrieb heute unmittelbar und global manifest.
Die Selbsterhaltung des Systems um jeden Preis schlägt in die Selbstzerstörung seiner Akteure um. Amokläufer, Selbstmordsekten und Selbstmordattentäter exekutieren den objektiven Wahn in einem nie gekannten Ausmaß als perspektivlose Krisenreaktion. Eng damit verbunden ist das antisemitische Syndrom als letzte krisenideologische Reserve der kapitalistischen Subjektform, das erneut aufbricht und sich nicht mehr auf eine bestimmte nationalimperiale Konstitutionsgeschichte (wie die deutsch-österreichische in der Vergangenheit) konzentriert, sondern in diffusen postmodernen und postnationalen Amalgamierungen insbesondere religiöser Provenienz die Welt überschwemmt.
Weil sich die kapitalistische Binnenrationalität des bürgerlichen Aufklärungssubjekts nicht in einem neuen Akkumulationsmodell darstellen kann, bildet sie auch keine immanente Potenz gegen den systemischen Todestrieb mehr, sondern schlägt selber unmittelbar in ein Moment dieser Irrationalität um. Aufklärung und Gegenaufklärung, Vernunft und Wahn, Demokratie und Diktatur fallen in eins. Der demokratische Gesamtimperialismus kann seine eigene Krisenwelt nicht befrieden, sondern wird zum „ideellen Gesamtamokläufer“, bis hin zum Atomwaffeneinsatz gegen die Unsicherheitszonen, die ungreifbaren Krisengespenster und die Massen der „Überflüssigen“, wie ihn die US-Administration bereits offen angedroht hat.

Sechstens. Es gibt keine immanente Alternative mehr. Weil aber die Linke nichts anderes kennt, als immanente Alternativen auf dem Boden der kapitalistischen Ontologie und Entwicklungsgeschichte zu besetzen, flüchtet sie großenteils in die Vergangenheit und führt einen absurden Streit darüber, ob wir 1914 oder 1941 schreiben. Beide Fraktionen sind intellektuell in der Epoche eines nationalökonomisch formierten Kapitals und nationalimperialer Ausdehnungsmächte sitzen geblieben, beide sind krisentheoretisch und überhaupt hinsichtlich der Kritik der politischen Ökonomie Analphabeten, beide klammern sich an die kapitalistische Binnenrationalität des bürgerlichen Aufklärungssubjekts.
Die Nostalgiker von 1914 und Anhänger der Mumie Lenins beschwören das Phantasma eines „antiimperialistischen“ Bündnisses der linken Kriegsgegner in den Metropolen mit den „Souveränisten“ und „Völkern“ der Dritten Welt, die ihre bürgerliche Unabhängigkeit gegen den US- und BRD- bzw. EU-Imperialismus verteidigen sollen. Die Nostalgiker von 1941 dagegen delirieren mit der Vorstellung einer „Antihitler“-Koalition unter Führung der „guten“ Westmächte gegen den „islamischen Faschismus“ und seine deutschen Helfershelfer zum Schutz Israels und „der Zivilisation“.
Aber das Saddam-Regime taugt weder als weltbedrohendes Nazi-Imperium noch als hoffnungsfrohe Kraft nationaler Entwicklung, und Bin Laden ist weder ein Hitler noch ein Che Guevara. Der palästinensische Staat zerfällt schon vor seiner Gründung, weil Staatlichkeit überhaupt keine emanzipatorische Option mehr ist; umgekehrt kann die Barbarei von Intifada und Selbstmordattentaten nicht mit der fabrikmäßigen Judenvernichtung von Auschwitz gleichgesetzt werden. Die falschen Freunde der Dritten Welt subsumieren Israel unter den Imperialismus und ignorieren seine wesentliche Qualität als Resultat des globalen Antisemitismus; die falschen Freunde Israels verherrlichen die für den Mord an Rabin verantwortlichen reaktionär-ultrareligiösen Kräfte und verfallen selber in primitive rassistische Hetze. Die einen negieren Israel als Zufluchtsort, die anderen ignorieren die Tatsache, dass dessen Existenz mehr durch seine eigene innere Krisenbarbarei gefährdet ist als durch äußere militärische Bedrohungen.
Die Zombies von 1914 nehmen die völkisch-antisemitische, kulturalistisch-antiamerikanische Verwahrlosung von „Klassenkampf“ und „Antiimperialismus“ in Kauf. Die Zombies von 1941 geben jede Kritik des imperialen Weltordnungskriegs preis, denunzieren hemmungslos die bedrängte israelische ebenso wie die US-amerikanische linke Opposition und funktionieren die notwendige Kritik von Antisemitismus und Antizionismus zur Legitimation des demokratischen Bombenterrors um. Gefordert ist stattdessen eine radikale Kriegsgegnerschaft, die sich der wirklichen Weltsituation stellt und eine kategoriale Kritik der kapitalistischen Moderne jenseits der falschen Immanenz von Scheinalternativen entwickelt, die nur noch verschiedene Formen derselben weltbürgerlichen Krisenbarbarei darstellen.


Robert Kurz, Jahrgang 1943, seit 35 Jahren in der radikalen Linken aktiv, ist Redakteur und Mitherausgeber der Theoriezeitschrift „Krisis“. Letzte Buchveröffentlichung: Weltordnungskrieg. Das Ende der Souveränität und die Wandlungen des Imperialismus im Zeitalter der Globalisierung (Horlemann, Bad Honnef 2003). Die vorstehenden Thesen fassen einige Grundgedanken dieses Buches zusammen.

Robert Kurz