Kritik der Solidarität

Über die konkreteste Idee universeller Emanzipation und warum damit trotzdem nichts besser wird

Solidarität war einer der wenigen Hoffnungsschimmer in den jüngsten Krisenzeiten der Coronapandemie. Die Akzeptanz weitreichender Einschränkungen des öffentlichen Lebens zum Schutze vulnerabler Gruppen, Nachbarschaftshilfen, die Rückkehr des Sozialstaats oder zumindest eine Rhetorik, die Menschenleben vor Profitorientierung stellte – war das nicht in all der Regression wirklich etwas Gutes? Ja und Nein. Auch wenn einem viele Beispiele gelebter Solidarität einfallen, sie reichen offensichtlich nicht an die Idee gesellschaftlicher Emanzipation heran, die mit dem Begriff verbunden ist. So machten viele am Begriff der Solidarität die Hoffnung fest, die Krise sei auch eine Chance zur nachhaltigen Veränderung des Zusammenlebens, gar ein historischer Wendepunkt zu einer anderen Gesellschaft. Es gab ökosozialistische Manifeste und die Verheißung einer »neuen Ära der Solidarität«, wie es Jan Korte von der Linkspartei ausdrückte. 

Ein solches Versprechen des Solidaritätsbegriffs lässt sich weit zurückverfolgen. Bereits vor der Pandemie war Solidarität das Schlagwort gegen gesellschaftliche Regression, zunehmende soziale Spaltung und das Versagen liberal-demokratischer Institutionen. Im Begriff steckt ein Versprechen von Gleichheit und Freiheit sowie das Potential, wie es der Soziologe Heinz Bude angesichts der Finanz- und Wirtschaftskrise ausdrückte, »im anderen uns selbst als Menschen wiederzuerkennen«. Entsprechend wird Solidarität in unterschiedlichen Kontexten als Gegenmittel zur Entfremdung der modernen Welt sowie zum Wettbewerb und Besitzindividualismus einer kapitalistisch organisierten Gesellschaft gehandelt – als eine alternative Beziehungsweise zur Vereinzelung und zum Egoismus. Die Idee reicht damit von der bürgerlichen Fantasie, wir lebten eigentlich bereits in der besten aller Welten, die sich nur auf ihre Grundwerte besinnen müsse, bis in eine radikale Linke, die sich davon eine soziale Revolution verspricht. Nicht umsonst nannte Bini Adamczak Solidarität in ihrem Buch Beziehungsweise Revolution das eigentliche Objekt des revolutionären Begehrens. 

Entlang dieser vielen Beschwörungen von Solidarität muss jedoch festgestellt werden, dass Solidarität in genau diesem Bezug in den Bereich der Ideologie übergegangen ist. Gemeint ist nicht nur, dass der Begriff seit längerem schon von rechts verwendet wird – als Zusammenhalt eines Kollektivs, als exklusive Solidarität, wie es Klaus Dörre nannte. Gemeint ist auch die Funktion, die die Beschwörung von Solidarität eingenommen hat, die mehr eine Apologie des Bestehenden denn Aussicht auf eine versöhnte Gesellschaft sein dürfte. Gerade in der Pandemie, also in einer Bedrohungslage, die scheinbar alle zugleich betraf, wurden die Menschen ganz konkret zur Handlung und zum Zusammenhalt aufgerufen. Wie etwa in einer Fernsehansprache des Bundespräsidenten zu Beginn der Pandemie: »Die Solidarität, die Sie jetzt jeden Tag beweisen, die brauchen wir in Zukunft umso mehr.« 

Das klang nicht umsonst wie eine Drohung, die in der Solidaritätsbegeisterung nachhallt. Denn was diese Gleichbetroffenheit in der Krise zu verwirklichen verspricht, ist genau das Gegenteil von dem, was Solidarität einmal als emanzipatorisches Konzept gemeint haben könnte. „Nein, nein, das ist nicht die Solidarität“, könnte man dem also entgegnen. Aber ist es so einfach? Ist die gute Solidarität bloß noch nicht praktisch (genug) geworden? Ist sie falsch instrumentalisiert worden? Gilt es, sie der Vereinnahmung zu entreißen und auf einem emanzipatorischen Anspruch zu beharren, der sich Solidarität nennt? Oder liegt nicht genau darin das Moment, in dem man jener Gesellschaft auf den Leim geht, in der Versprechen und Wirklichkeit immer auseinandertreten müssen? Zumindest gibt es begründeten Verdacht, dass die Berufung auf Solidarität nur weiter in die Sackgasse führt, in der Emanzipation bloß eine schöne Idee bleibt. 

 

Das Dilemma der Solidarität 

Die Probleme fangen bereits damit an, überhaupt zu bestimmen, was Solidarität ist. Was unterscheidet sie von Vorstellungen wie Gerechtigkeit, Altruismus, Wohltätigkeit, Kollektivität? Im Begriff fallen mindestens zwei Dimensionen zusammen: Einerseits ist Solidarität ein analytischer Begriff für eine soziale Situation, eine nüchterne Beschreibung dafür, dass Menschen jenseits von Zwang und purer Notwendigkeit miteinander leben. Andererseits ist sie ein hochgradig politisch aufgeladenes normatives Konzept, das sich mit zahlreichen anderen Wertvorstellungen und Leitidealen verknüpfen lässt, allem voran mit dem großen republikanischen Dreiklang von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. 

In den Gründungsschriften der modernen Soziologie von Auguste Comte bis Émile Durkheim bezeichnete Solidarität eine Form sozialen Zusammenhalts, die sich aus dem Verschwinden einer traditionellen, göttlichen oder natürlichen Ordnung ergab. Solidarität wurde erst zu einem Konzept, als Gesellschaft nicht mehr selbstverständlich war. Sie ist damit ein spezifisch modernes Phänomen und setzt erst mit einem gewissen Geschichtsbewusstsein ein. Die prägnanteste Formulierung dessen fand vielleicht Karl Marx, dem – wie es im Manifest der Kommunistischen Partei heißt – die »ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände« in der Epoche der Bourgeoisie derart die Augen öffnete, dass die Gesellschaft endlich als gegenseitige Beziehungen der Menschen, als soziale Verhältnisse, durchschaubar wurde. Solidarität, wenn man so will, ist die direkte Konsequenz aus dieser Einsicht in die Gestaltbarkeit der Verhältnisse: eine (bewusst oder nicht) aktiv hergestellte Gesellschaftlichkeit. 

Für Marx folgte aus der nüchternen Feststellung, dass Menschen ihre Gesellschaft selbst einrichten, die politische Forderung, dass sie damit eine freie und gleiche Gesellschaft einrichten können. Wenn das Manifest die Proletarier:innen zur Vereinigung aufruft, dann beschwört es sie als Gleiche in einem geteilten Kampf, der ihre Unterdrückung beenden und sie als Gleiche verwirklichen soll. Das kann als sehr allgemeine Bestimmung von Solidarität gelten: Ein kollektives Handeln, das auf einer Identifikation als Gleiche beruht. Bürgerlich gesprochen ist diese Identifikation in der gegenseitigen Anerkennung als Träger:innen gleicher formaler Rechte aufgehoben. Weil mit dem formalen Rechtsstatus Gleichheit als bereits verwirklicht angenommen wird, ist die Konsequenz daraus, eher alles so zu lassen wie es ist. Solidarität ist dann so etwas wie Steuern zu bezahlen. 

Aus Sicht der Arbeiter:innenbewegung und in der Berufung auf Marx steht der Klassengegensatz dieser bürgerlichen Idee von Gleichheit entgegen. Solidarität galt vielmehr als Waffe im sozialrevolutionären Kampf, da sie jener entfremdeten Wirklichkeit einer durch Tausch vermittelten, warenproduzierenden Gesellschaft etwas entgegenzusetzen hatte. Sie bezog sich damit auf eine utopische Gleichheit, die in der Überwindung der kapitalistischen Gesellschaft erst herzustellen sei, und wurde mit der unrechtmäßigen aber realen Ungleichheit der Menschen begründet. Auch der historische Faschismus bezog sich auf Ungleichheit, freilich nicht um sie überwinden zu wollen, sondern indem er sie zur Existenzbedingung der Menschen erklärte. Solidarität wurde darin zum Zusammenhalt der vermeintlich homogenen Volksgemeinschaft beziehungsweise zum gewaltsamen und mörderischen Ausschluss der darin Ungleichen. 

Alle diese verschiedenen Vorstellungen von Solidarität verweisen auf das zentrale Problem der Gleichheit, auf das es nur zwei grundsätzliche Antworten gibt: Menschen sind prinzipiell als gleich oder als grundlegend ungleich zu betrachten. Entlang dieser Linie verläuft die moderne Unterscheidung in linke und rechte politische Positionen, die aber mit einem Dilemma verknüpft ist. Denn auf welcher Basis identifizieren sich Menschen als Gleiche? In welcher Hinsicht sollen die Menschen gleich sein? Entweder verstehen sich Menschen als gleich auf Grundlage einer festen Identität, wie im völkischen Nationalismus, und schließen damit eine universelle Gleichheit der Menschen aus oder aber sie berufen sich auf eine universelle Gleichheit, wie im Liberalismus und Humanismus, können damit aber den realen gesellschaftlichen Unterschieden nur den Verweis auf die abstrakte Idee entgegenhalten. 

Das Dilemma, das sich daraus ergibt, ist mindestens so alt wie die moderne Gesellschaft. Es wurde nicht nur vielfach politisch ausagiert, sondern bestimmte auch die Geistesgeschichte, in die es als der Gegensatz zwischen Universalismus und Partikularismus eingegangen ist. Mit der Erfahrung der Moderne, wie Marx es so anschaulich als die Entdeckung der Geschichtlichkeit darstellte, ging der Verlust religiöser Autorität einher und führte in eine Krise der universellen Weltdeutungen. Philosophisch wurde dies als Krise der Metaphysik verhandelt, bis hin zum berüchtigten Ende der großen Erzählungen in der Postmoderne und deren relativistischer Tendenz – der man in dieser Linie ja tatsächlich einen emanzipatorischen Anspruch zuweisen kann. 

In dieser modernen Krise ersetzte der Klassenkampf für eine sozialrevolutionäre Linke die Idee des Universalismus: in der perspektivischen Überwindung jener Herrschaftsverhältnisse, in denen der Widerspruch von Kapital und Arbeit alles Gesellschaftliche entzweite, galt das Proletariat als Vorschein einer universellen Gleichheit. Für die bürgerliche Gesellschaft war es die demokratische Vorstellung, so etwas wie universelle Geltung ergebe sich idealerweise im Austausch miteinander. Letzte Universalie blieb damit zunehmend die größtmögliche Abstraktion, dass Menschen eben Menschen sind. Ein derart abstrakter Universalismus gerät umso schneller in Widerspruch zur gesellschaftlichen Realität, etwa zu einer global durchkapitalisierten Gesellschaft, die alles andere als universelle Gleichheit von Staatsbürger:innen verwirklicht hat. Wenn abstrakter Universalismus derart als Ideologie durchschaubar wird, ist dieser Widerspruch nicht selten Anknüpfungspunkt für religiösen oder völkischen Wahn. 

Adorno und Horkheimer hatten in den Elementen des Antisemitismus schon darauf hingewiesen, dass die Ohnmacht des Liberalismus genau darin bestehe, dass er der gesellschaftlichen Ungleichheit nur entgegnen könne, die Menschen seien doch aber der Idee nach gleich. Heute wird dieses Dilemma etwa zwischen dem sogenannten liberalen Establishment und einem regressiven Volksaufstand verhandelt. Der Hass auf den Liberalismus ist dabei ein verbindendes Element von Populismus, Verschwörungstheorien und rechtsterroristischen Anschlägen und richtet sich direkt gegen dessen universalistischen Anspruch. Dieser sei entsprechend nur der Vorwand einer korrupten Machtelite, die das wahre Volk um seine Identität, Kultur und Rechte betrüge. Stattdessen bezieht man sich wahnhaft auf feststehende, natürliche Identitäten oder Kulturen, von denen rassistische Fantasien und antisemitische Projektionen als Ungleichheitsideologien abheben. Dieser Wahn hat seine gesellschaftliche Grundlage auch in der realen Ungleichheit der Menschen, die dem Universalismus als Beweis seiner Lüge ausgelegt wird. 

 

Ein konkreter Universalismus? 

Unter modernen Bedingungen ist Solidarität immer mit diesem Universalismusproblem verbunden, denn was die moderne Gesellschaft auszeichnet, sind die Erfahrung einer fundamentalen Krise und die Erschütterung feststehender kollektiver Identitäten und Weltbilder. Der Bezug auf Identität funktioniert eigentlich nur noch als Konstruktion, die gleichzeitig ihre eigene Bedingung von Geschichtlichkeit untergräbt. Die Abstraktion führt jedoch aus diesem Dilemma nicht heraus. Sich jenseits aller konkreten Identität zu begreifen, ist nur die Kehrseite der falschen Auflösung des Widerspruchs zwischen Partikularismus und Universalismus. 

Das Dilemma bleibt: Solidarität – wenn sie mehr meint als nur den einzelnen Akt von Hilfe, Beistand oder Betroffenheitsgeste – muss sich entweder auf eine partikularistische und ausgrenzende Gleichheit oder aber auf eine abstrakt universelle Idee von Gleichheit beziehen, die reale Unterschiede ausblendet. Um bei der bloßen Feststellung vom Gegensatz des Allgemeinen und Besonderen nicht stehen bleiben zu müssen, ist eine weitere Errungenschaft der modernen Gesellschaft das dialektische Denken: den Widerspruch in seiner Vermittlung aufzuheben. In der idealistischen Spielart meint dies, auf eine Einheit der Gegensätze hinzuweisen. Womit man schnell in Erklärungsnot gerät, was diese Einheit eigentlich sein soll, wenn nicht einfach nur eine weitere abstrakte Annahme, dass die ganze Welt ein doch irgendwie harmonisches Ganzes bildet, das Kraft des Denkens – als Teil dieses Ganzen – erschlossen werden kann. Das ist offensichtlich nur das Spiegelbild eben jenes liberalen Universalismus, der einfach annehmen muss, dass Gleichheit eben schon verwirklicht sei. 

In Abgrenzung dazu versucht materialistische Dialektik, den Widerspruch zwischen Besonderem und Allgemeinem selbst als Ausdruck eines gesellschaftlichen Widerspruchs und Ergebnis einer konkreten Konstellation zu begreifen. Es ist eben der Anspruch, dass ein Denken nicht nur erklären soll, wie der Graben zwischen Denken und Sein zu überwinden ist, sondern wie dieser Graben überhaupt erst zustande kommt – und darüber hinaus, welchen Anteil das Denken selbst daran trägt, anstatt sich einfach nur als Lösung zu präsentieren. Ein solcher Befund materialistischer Dialektik ist etwa die Herrschaft des abstrakt Allgemeinen. Es meint, mit Adorno gesprochen, dass wir es mit einer Gesellschaft zu tun haben, in der Allgemeinheit nur negativ als universeller Vermittlungszusammenhang, namentlich des Äquivalententauschs, besteht. Hier bleibt nichts Besonderes mehr, das nicht auch universell tauschbar ist; und andersherum gibt es keine Allgemeinheit, die nicht die falsche Verallgemeinerung eines Partikularen ist. Dass es dafür aber eine reale gesellschaftliche Grundlage gibt, bedeutet auch, dass eine rein gedankliche Zusammenführung nicht ausreicht. Im Gegenteil: Jede Fantasie einer Auflösung des Widerspruchs bleibt Ideologie, die darüber hinweg täuscht, dass es Einheit nur negativ gibt. 

Es ist schwer, Solidarität zu sagen, ohne genau das damit zu tun: einen Zusammenhalt, eine Einheit zu beschwören, die es gar nicht gibt. Auch daher weicht die Vorstellung von Solidarität entweder in die pure Abstraktion oder findet sich damit ab, ein Zwangskollektiv zu meinen. Und weil das Dilemma so unausweichlich erscheint, wird jeder Strohhalm gegriffen, dieses selbst zu überwinden. Das geschieht in der aktuellen Krisenlage, die wie eine Alternative zu diesem Dilemma zwischen abstrakter Idee und exklusiver Identität erscheint. Es ist die ganz konkrete Bedrohung, die alle betreffe und damit zu so etwas wie einem konkreten Universalismus tauge, so als seien unter der Atemschutzmaske vielleicht endlich alle gleich. Das bleibt in erster Linie Wunschdenken. Natürlich ist hinreichend belegt, dass die Einkommens- und sozialen Unterschiede in der Pandemie nur verstärkt wurden, dass der Großteil der lockdowninduzierten, zusätzlichen Sorgearbeit auf Frauen entfällt, bei gleichzeitigem Karriereaus, von der globalen Verteilung eines Impfstoffs ganz zu schweigen. Es ist mittlerweile Alltagsverstand, dass selbstverständlich nicht alle im selben Boot sitzen. 

Als universelle Gleichheit funktioniert die Krise nicht. Aus Sicht des Krisenoptimismus könnte man nun zynisch annehmen, dass nur die Bedrohung nicht groß, nicht allgemein genug sei. Vielleicht brauche es eine noch universellere Betroffenheit wie die Klimakatastrophe und globale Verheerung, damit die Menschen sich wieder als Gleiche begreifen können. Ein solches Gedankenspiel um die Sehnsucht nach der Katastrophe verdeutlicht etwas von dem antiaufklärerischen Unterton, der zum gegenwärtigen Ruf nach Solidarität gehört. Das Universalismusproblem wird darin zum bloßen Ärgernis, das behoben werden müsse, und sei es mit göttlicher Gewalt. Es ist kaum vorstellbar, wie dies ohne den Rückfall in die Unfreiheit, als Wahnvorstellung von der ursprünglichen und naturwüchsigen Gesellschaft, vom wahren Volk und der reinen Rasse, möglich sein soll. Denn Solidarität als den Zusammenhalt gegen eine externe Bedrohung zu begreifen, wendet sich gegen die modernen Bedingungen der Freiheit. Es reduziert Solidarität auf eine Gleichheit an Unfreiheit. Die gemeinsame Zukunft wird nicht mehr der Gestaltung der Menschen unterstellt, sondern zum Schicksal verdinglicht. Die Menschen sind demgegenüber gleich in Hinsicht auf etwas, über das sie keine Verfügung haben, sei es eine Pandemie, der Kollaps der Lebensbedingungen oder anderweitige katastrophale Bedrohungen. 

Solchen Szenarien ist der verlockende Schauer des Freiheitsverlusts und der Rückkehr ins Reich der Notwendigkeiten gemein. Dort allerdings ist Solidarität nicht mehr als die Schicksalsgemeinschaft, aus der die Moderne nicht nur einen Ausweg versprach, sondern ihn konkret ermöglichte. Der Wunsch zur Überwindung des Universalismusproblems entspringt dem Unbehagen gegenüber einer falschen Einrichtung der Welt, die man weder begriffen noch angegriffen bekommt. Aber es richtet sich damit zugleich gegen die zentralen Errungenschaften der Moderne selbst, ohne die ein solches Problem gar nicht denkbar wäre. 

 

Solidarität ohne Freiheit? 

Es ist überhaupt kein Zufall, dass von Solidarität vornehmlich in Krisenzeiten gesprochen wird. Es gehört gewissermaßen zur Entstehungsgeschichte des Begriffs. Solidarität ist überhaupt erst das Ergebnis der großen Krise, die wir Moderne nennen. Mit der beispiellosen Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse im Kapitalismus wurde deutlich, dass Gesellschaft als Ganze veränderbar ist. Das ist ganz real die Grundlage der Freiheit der Menschen. Denn erst in dem Moment, im dem die Art und Weise des Zusammenlebens der Menschen nicht mehr durch natürliche oder göttliche Ordnung festgelegt ist, stellt sich die Frage nach einem Bezugspunkt ihrer Gleichheit. Daher ergibt Solidarität nur einen Sinn vor dem Hintergrund der Freiheit der Menschen, denen ihre Gesellschaft als soziale Verhältnisse durchschaubar sind. Aber ist sie deswegen auch der gangbare Weg zu ihrer Verwirklichung?  

Dieser Versuch jedenfalls wird oft verteidigt: Wenn Solidarität als Waffe im Klassen- oder bloß Straßenkampf gilt oder auch wenn – im Wunsch sich gegen diese Instrumentalisierung zu wenden – Solidarität als offenes Experiment der Beziehungsweisen gedacht wird. In beiden Fällen findet sich die Vorstellung, man könne das Potential der bürgerlichen Gesellschaft gegen sie selbst in Stellung bringen, sie mit den eigenen Waffen schlagen. Auch in der marxistischen Theorie lässt sich der Versuch ausfindig machen, einen echten, einen konkreten Universalismus zu erringen. Eine menschliche Gesellschaft vielleicht, die alle Versprechen, die in der kapitalistischen Herrschaft falsch bleiben mussten, endlich einlöst. Es ist genau die fragwürdige Konsequenz aus dem Befund einer materialistischen Dialektik, dass, wenn alles von einem gesellschaftlichen Widerspruch bestimmt sei, man ja schließlich das Nicht-Widersprüchliche erringen müsse. Solidarität ist demnach eine Art unverwirklichtes Miteinander, das durch Abzug alles Schlechten an der Welt übrigbleibe. 

Darin steckt etwas Richtiges, weil der Begriff der Solidarität auch die Wahrheit ausspricht, dass die Menschen angesichts der Freiheit gleich sind, ihre Gesellschaft gemeinsam einzurichten. Sie sind andersherum also gleich angesichts der unfreien und ungleichen Einrichtung der Gesellschaft, derer sie sich gemeinsam entledigen müssen. Das hat enormes Mobilisierungspotential, denn Solidarität kann darin bedeuten, alle partikularen Kämpfe und das entsprechende Leiden der Menschen zu einem Gemeinsamen zusammenzuführen, einem universellen Zusammenhang. Aber nicht umsonst wurde genau dieser Anspruch tendenziell als Hauptwiderspruchsdenken zurückgewiesen, das so mancher regressiven Weltsicht in nichts nachsteht. Es steckt also auch etwas Falsches darin, denn Solidarität meint nicht nur den Hinweis auf den Widerspruch, dass die Menschen gleich an freiheitlichem Potential und ungleich in gesellschaftlicher Herrschaft sind. Für diesen Anspruch der Kritik braucht es den Begriff nicht. Solidarität zielt der Tendenz nach vielmehr auf die Einheit, die durch die schlechte kapitalistische Moderne verhindert ist. Und das genau ist die falsche Wahrheit: Denn nicht nur geht darin verloren, dass die Zerstörung der Einheit in der Moderne wirklich die Grundlage jener Freiheit ist, um deren Verwirklichung es angeblich gehen soll. Es fällt auch hinter den Anspruch zurück, dass ein Denken und dessen Ideen eben reflektieren müssen, welchen Anteil des Schlechten und Guten sie aus den gesellschaftlichen Verhältnissen ziehen. 

Die Idee der Solidarität trägt die Zeichen jener Gesellschaft, der mit ihr der Kampf angesagt werden soll. Das meint nicht nur, dass sie zu anschlussfähig an den bürgerlich liberalen Diskurs bleibt, in dem selbst der Bundespräsident von Solidarität spricht. Es meint vor allem, dass Solidarität jenes regressive Potential teilt, das die bürgerliche Gesellschaft entfaltet. Mit Solidarität wird ein Zusammenhalt angerufen, der notwendig abstrakt bleiben muss, gerade weil darin nicht anerkannt ist, dass real nur ein negativer Zusammenhalt der Gesellschaft als Ganzer besteht. Als abstrakte Idee aber ist Solidarität immer in dem Dilemma gefangen, das eben nicht nur deshalb besteht, weil es einfach nur falsche Ideen sind, die der menschlichen Emanzipation im Wege stehen. Die Vorstellung, es würde einfach das Allgemeine gegen das Partikulare stehen, die Idee von Freiheit gegen die schnöde Wirklichkeit, ist selbst eine falsche Allgemeinheit. Daher geht es auch nicht darum, irgendeine Vermittlung zwischen Vorstellung und Realität zu suchen, zwischen Theorie und Praxis, Universellem und Besonderem. Solidarität kann diesen Graben als eine Idee nicht überbrücken, auch nicht als eine, die man damit rechtfertigt, dass sie erst noch praktisch werden müsse.  

Denn, wie Marx es in den Feuerbachthesen ausdrückte, »daß die weltliche Grundlage sich von sich selbst abhebt und sich ein selbständiges Reich in den Wolken fixiert, ist nur aus der Selbstzerrissenheit und dem Sichselbstwidersprechen dieser weltlichen Grundlage zu erklären«. Genau von diesem Anspruch führt die Idee der Solidarität tendenziell weg. Das soll nicht heißen, dass ein Akt der Solidarität per se regressiv wäre. In solch einer Vorstellung herrscht ja selbst nur Abstraktion. Und genau darum geht es: von der konkreten, richtigen Handlung nicht auf eine Idee der Emanzipation schließen zu können, genauso wie andersherum nicht von der schönen Idee auf die gesellschaftliche Praxis zu schließen wäre. Dass dies genau nicht funktioniert, ist Ausdruck einer spezifischen Konstellation von abstrakter Herrschaft, die es überhaupt zu durchschauen gilt, bevor der Emanzipation schon ein Fluchtpunkt anvisiert wird. Die Analyse der gesellschaftlichen Form, in der die Idee der Freiheit aus der Erkenntnis gestaltbarer Verhältnisse entsteht und sich von der herrschaftsförmigen Wirklichkeit entkoppelt, ist daher die dringendere Aufgabe als jede schöne Idee von Befreiung. Nur das käme nämlich gegen das Verhängnis an, mit Solidarität das Beste zu meinen und nichts besser machen zu können.  

 

Alex Struwe 

Der Autor ist materialistischer Gesellschaftstheoretiker und versteht seine Kritik als solidarische.