Les deux niveaux de la haine*

Die antisemitische Gewalt in der Banlieue bekommt diskursiven Feuerschutz

Handfeste, aktuelle Ereignisse in Frankreich und der Türkei überholen zur Zeit die intellektuelle Debatte um den Antisemitismus in Frankreich. Der Brand in einer jüdischen Schule in Gagny am 15. November 2003 und der Anschlag auf zwei Synagogen in Istanbul mit insgesamt 25 Toten und mehr als 300 Verletzten am selben Tag sind die jüngsten Anlässe für die Ausweitung einer bereits seit zwei Jahren sich zuspitzenden Auseinandersetzung um den Antisemitismus mit muslimisch-migrantischem Hintergrund in Frankreich.

Zwar geht die Zahl antisemitischer Gewalttaten gemäß neuester französischer Polizeistatistiken seit Anfang 2003 zurück;(1) was daraus allerdings nicht hervorgeht ist, dass gerade in der Zeit von 2000 bis 2003 die gewalttätigen Übergriffe – von tätlichen Angriffen auf jüdische Menschen und jüdische Einrichtungen bis zu antisemitischen Schmierereien – ein überdurchschnittliches Ausmaß angenommen haben.

Ariel Goldman, Sprecher eines vom CRIF (Conseil représentatif des institutions juives en France, entspricht dem Zentralrat der Juden in Deutschland) eingerichteten Sicherheitsdienstes zum Schutz der jüdischen Gemeinde, bestätigt den Rückgang von Sachbeschädigungen, betont aber gleichzeitig die heftige Verschärfung von physischen Gewalttaten und Beleidigungen in einem »antisemitischen Klima, das sich jenseits jeglichen Einzelvorfalls etabliert hat«.(2)

Besonders die Ereignisse der Jahre 2000, nach Ausruf der Zweiten Intifada, und 2002 sind in der Erinnerung noch präsent. Um nur einige Beispiele zu nennen: In Marseille brannte eine Synagoge fast vollständig aus, die Vorderwand eines jüdischen Gebetshauses in La Duchère wurde eingedrückt, in einer Vorstadt von Paris wurden jüdische Jugendliche des Fußballklubs Maccabeé von einer gewalttätigen Bande angegriffen.(3) Insgesamt wurden zwischen September 2000 und Januar 2002 405 antisemitisch motivierte Straftaten registriert.(4)

In Reaktion auf diese Vorfälle wurde im Februar dieses Jahres ein neues Gesetz erlassen, um die juristische Verfolgung antisemitischer Straftaten zu erleichtern. Dieses Gesetz sieht verschärfte Strafen vor für Verbrechen, die begangen werden »aufgrund einer angenommenen oder tatsächlichen Zugehörigkeit oder Nicht-Zugehörigkeit des Opfers zu einer bestimmten Ethnie, Nation, Rasse oder Religion«.(5) Diese Gesetzesänderung wird im Falle des Brandes von Gagny Anwendung finden, insofern es zu einem Prozess kommt.

Das Unwohlsein vieler Juden in Frankreich bestätigt der israelische Botschafter in Frankreich, Nissim Zvili: »Viele Juden aus Frankreich sorgen sich um ihre Zukunft in diesem Land. Das Phänomen des Antisemitismus in Frankreich hat beunruhigende Ausmaße angenommen.«(6) Ähnlich äußerte sich der höchste Rabbiner Frankreichs, Joseph Sitruk, der den Juden riet, aus Sicherheitsgründen die Kippa mit einer Baseball-Kappe zu vertauschen.(7) Unterschiedliche Meinungen finden sich bezüglich der Bezeichnung und politischen Einordnung der Anschläge. Während beispielsweise der Philosoph Alain Finkielkraut darauf besteht, dass es sich hierbei um Akte des Antisemitismus handele(8), warnt der ehemalige Präsident des CRIF, Theo Klein, vor dem Hintergrund seiner eigenen Erfahrungen mit dem »wirklichen Antisemitismus« vor dem inflationären Gebrauch des Begriffs. Seinen Rat zu besonnenem Umgang mit diesem Begriff verbindet er mit dem Aufruf, nicht eine Kampagne zu befördern, die die jüdische Community nur spalten würde. Frankreich habe es versäumt, einen großen Anteil der Jugend mit migrantischem Hintergrund zu integrieren und es sei bedauernswert, dass die Juden dafür bezahlen müssten. Jedoch sei dies nicht ein Problem allein der Juden, sondern aller Franzosen.(9)

Diese integrationsstrategische Position deutet einerseits auf die – auch innerjüdische – Breite der Debatte hin, andererseits auf eine neue Qualität, die der in Frankreich in den letzten Jahren verstärkt spürbare Antisemitismus angenommen hat. Es handelt sich nicht mehr vornehmlich um einen Antisemitismus der extremen Linken oder Rechten. Ein hoher Prozentsatz der antisemitischen Akte wird von meist jugendlichen Immigrantennachkommen arabisch-maghrebinischen Hintergrunds begangen. Die doppelte Problematik von Antisemitismus und Rassismus macht den eigentlichen Kern des Streits aus.(10) Neben den gewaltsamen Ausformungen gibt es gleichzeitig eine intellektuelle Auseinandersetzung, die sich im Umfeld des muslimischen Intellektuellen Tariq Ramadan, Teilen der Antiglobalisierungsbewegung und unter französischen Intellektuellen entwickelt hat.

 

Die intellektuelle Debatte

Gegenseitige Vorwürfe spitzten sich in letzter Zeit zu. Anlass war die Publikation eines Artikels mit dem Titel Critique des (nouveaux) intellectuels communautaires (»Kritik der (neuen) kommunitaristischen(11) Intellektuellen«) über den Verteiler des Forum social europeén (FSE, Europäisches Sozialforum) und auf den Internetseiten von oumma.com durch den in Lyon lebenden und lehrenden islamischen Theologen Tariq Ramadan.(12)

Ramadan (38), Schweizer ägyptischer Herkunft, ist bekannt als Intellektueller, der eine Modernisierung des Islam in Europa fordert und forciert. Er gilt als »Brückenbauer« zwischen »islamischen Werten und westlicher Kultur« und wurde kürzlich vom TIME-Magazin als einer der »Innovators of the Month« und »Spiritual Leader« vorgestellt.(13) Sein Großvater ist der Gründer der »Islamischen Bruderschaft«, die seit den späten zwanziger Jahren über Ägypten hinaus Bedeutung erlangte. Ramadan wendet sich vor allem an junge MigrantInnen der zweiten oder dritten Generation, die mit den Herkunftsländern ihrer Eltern oder Großeltern zwar einen muslimischen Hintergrund besitzen, selbst aber nur lose mit dem Islam verbunden sind oder ihn nicht praktizieren. Ramadans Anliegen ist es, diese Jugendlichen für den Islam wiederzugewinnen, indem er an das Interesse, welches die in der Regel in benachteiligten Verhältnissen lebenden Jugendlichen der Antiglobalisierungs-Bewegung entgegen bringen, anknüpft. Linke Inhalte vermischt mit islamischem Fundamentalismus bringen ihm eine wachsende Anhängerschaft.

In oben genanntem Text wirft Ramadan den französischen, (vermeintlich) jüdischen Intellektuellen u.a. vor, sich immer mehr von den universalistischen Prinzipien der Republik zu entfernen, stattdessen pro-israelisch zu argumentieren und damit kommunitäre Ziele zu verfolgen. Gewisse, »in den Medien omnipräsente« Intellektuelle unterstützten die Irak-Politik des »notorischen Zionisten« Paul Wolfowitz und verfolgten dabei nur ihre eigenen »jüdischen« Interessen.

Die beschuldigten Intellektuellen nahmen zum Teil Stellung, so Bernard-Henry Lévy(14), der sich im Wochenmagazin Le Point entschieden gegen die Wiederbelebung verschwörungstheoretischer Ansätze verwehrte und den »ekelerregenden« Text Ramadans mit dem »berühmten antisemitischen Pamphlet«, den »Protokollen der Weisen von Zion«, verglich. Besonders eindringlich wandte er sich an die Mitglieder der ›Altermondalisations‹-Bewegung mit dem Rat, sich von Ramadan zu distanzieren.(15) Anlaß dafür war die Teilnahme Ramadans am Europäischen Sozialforum Mitte November in Paris. Dort wurde Ramadan auf zwei Podien die Gelegenheit zur Selbstdarstellung geboten, die dieser aber nur begrenzt nutzte. Die Veranstaltungen waren gut besucht, jedoch beschränkten sich die Diskussionsthemen auf die Rechte der Frauen im Islam und die (in Frankreich ausführlich ausgetragene) Debatte um das Tragen von Kopftüchern in der Schule.(16) Ramadan beglückwünschte die VeranstalterInnen des FSE, nicht »eingeknickt« zu sein mit ihrer Einladung, trotz des »Hexenprozesses«, der ihm gemacht worden sei.

Bernard Cassen, Ehrenpräsident von Attac, betonte hingegen, Ramadan sei ein »sehr subtiler Rhethoriker«, der opportunistische und demagogische Methoden einsetze. Ein Charakteristikum des Europäischen Sozialforums sei jedoch das Einbrechen in migrantische und islamische Organisationen.(17) Pierre Khalfa, ebenfalls Verwaltungsmitglied von Attac, hält den Text Ramadans nicht für antisemitisch und warnt davor, das »rote Tuch des Antisemitismus bei egal welchem Anlass zu schwenken«. Der Text sei hingegen seinerseits geprägt vom kommunitären Argumentationsstrukturen seines Autors.

In der aktuellen Debatte ist somit zu bemerken, dass sich nun auch ein intellektueller islamischer Antisemitismus in Frankreich entfaltet, wo vorher die »Propaganda durch die Tat« dominierte. Dieser islamische Antisemitismus stellt ein besonderes Kapitel in der Geschichte des französischen Antisemitismus dar. An ihm kann aber gezeigt werden, dass der Antisemitismus auch eine Folge des Kolonialismus ist und wie schwer es der französischen Gesellschaft fällt, das Problem zu begrenzen und zu bekämpfen.

Der rassistische Kampf gegen illegale Migration ist hegemonial im politischen Frankreich. Mehrheitsfähig ist auch die Bereitschaft zur Integration der legalen MigrantInnen. Der entrichtete »Preis« für diese Integration ist die Akzeptanz des Antisemitismus. Zwei Prämissen in der Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus werden dabei gemacht. Erstens wird von einer quasi-natürlichen radikalen Israel-Feindschaft aller Muslime ausgegangen, eine explizit ethnisierende Deutung. Zweitens sei es die Armut in den banlieues, die (natürlich) Hass auf Juden erzeuge, was aber wiederum nichts mit Antisemitismus zu tun haben müsse. Der Zusammenhang von Modernisierungsverlierertum und Antisemitismus (wenn er so genannt wird) wird automatisiert. Nicht ernst genommen wird dabei eine massive antisemitische Ideologie (inklusive Shoah-Leugnung oder -Verherrlichung) und eine antisemitische Praxis, die sich zunehmend auch gegen Menschen richtet.

Der islamische Antisemitismus wird im Folgenden untersucht anhand des Zusammenwirkens von (neo-)kolonialen Strategien, Dekolonialisierungsprozessen, traditionellem französischem Antisemitimus und dem Negationismus – der Leugnung der Shoah – in der französischen Rezeption des Nationalsozialismus. Die Kapitulation der französischen Linken vor dem Thema des islamischen Antisemitismus zeigt, wie sehr sie Teil des Problems ist.

 

Migration, Islam und Antisemitismus

Die Entwicklung des Islam in Frankreich kann als eine dreistufige erfasst werden.(18) Sie stellt gleichzeitig die Geschichte der Desintegration muslimisch-maghrebinischer MigrantInnen dar. Der Islam der ersten Generation, der der (temporären) ArbeitsmigrantInnen der Nachkriegsjahrzehnte, wurde in Frankreich gar nicht oder als vorübergehendes Phänomen wahrgenommen. In der zweiten Phase stabilisierte sich der Islam der Angekommenen in den siebziger und achtziger Jahren. Er stieß auf offen rassistischen Widerstand der französischen Mehrheitsgesellschaft, teilweise motiviert durch das desaströse Ende der französisch-kolonialen Maghreb-Ambitionen. In dieser Phase entstanden die Dependancen weltweiter Organisationen, die französischen islamischen Verbände und die ausprägte Ghettobildung in den banlieues de l’Islam (Kepel). Der Rassismus der Bevölkerung wurde flankiert durch einen immer noch kolonial geschulten behördlichen Paternalismus. In der banlieue wuchsen in der dritten Phase die TrägerInnen des Islams der jungen Generation heran. Bei ihnen changieren die identitären Muster zwischen Jugendlichkeit, Außenseiterstolz und einer Ethnisierung und Religiösierung der kollektiven Selbstwahrnehmung.

Der Islam in Frankreich war im Vergleich zu dem in Deutschland immer schlecht vernetzt und ideologisch, religiös und ethnisch-identitär kaum vereinheitlicht. Diese Netzwerkbildung erfolgte, nachdem im weltweiten Trend der Kampf gegen die inneren Feinde des Islam demjenigen gegen die äußeren Feinde nachgeordnet wurde. Der Antisemitismus als kollektives Weltdeutungsmuster bekam in seiner Integrationsfunktion eine zunehmend tragende Bedeutung in der Beilegung von Richtungskämpfen.

Die Genese des muslimischen Antisemitismus ist untrennbar verbunden mit französischen Kolonialstrategien, nachholender Nationenbildung und der Entstehung eines globalen politischen Islam. Die jüdischen Communities waren über Jahrhunderte akzeptierter und geschätzter Bestandteil nordafrikanischer islamischer Gesellschaften. Antisemitismus, vor allem in seiner verschwörungstheoretischen Ausprägung, war unbekannt. Zum Massenphänomen wurde der Antisemitismus nach der Staatsgründung Israels und den nachfolgenden Kriegen. Seit 1967 ist er hegemonial in den islamischen Gesellschaften. Die Bestände der antijüdischen Feindbilder, entwickelt im modernen Antisemitismus seit der Französischen Revolution, kamen aus Europa. Ansätzen der differenztheoretischen Nationalismusforschung folgend, kann der Antisemitismus, wenn nicht als Hauptursache, so doch als konstitutiv für die Formierung der europäischen Nationalstaaten verstanden werden: Die Konstruktion der Nation gegen die Juden. Die staatsbürgerschaftliche Exklusion von Juden war Regel, nicht Ausnahme. Die nachholende Formierung der arabischen Nationalstaaten wiederholte im Zusammenhang der Dekolonialisierung diese Ausschlüsse. Lediglich in Marokko und Tunesien sind noch nennenswerte Reste der ehemals großen jüdischen Gemeinden vorhanden. Der arabische Nationalismus ist längst überwunden durch islamistische Konzepte mit Anspruch auf alleinige Weltgeltung. Statt einer Nation ohne Juden ist das Ziel eine Welt ohne Juden: ohne den Staat der Juden und ohne Juden in Staaten.

Der Weg dahin war weit. Der politische Islam hatte sich zur dringlicheren Aufgabe gemacht, den »Feind im Inneren zu bekämpfen«, die innerislamischen »Widersprüche« aus dem Weg zu räumen. Der Nationalismus wurde aus negativer Motivation heraus »nachgeholt«, durch das Ziel der Bekämpfung der Regierungen der postkolonialen islamischen Staaten selbst. Im Rahmen des fundamentalistischen Schubes Mitte der achtziger Jahre(19) wurde der Antisemitismus nicht nur für die islamischen Zentren, sondern auch in ländlichen Regionen und in der muslimischen Diaspora hegemonial. Der Kampf gegen die Jüdinnen und Juden konnte nun überall geführt werden, auch an Orten, an die man sich national nicht gebunden fühlte.

Israel und die Juden wurden in die islamische Großerzählung von Abstieg und Elend der Muslime in der Moderne eingeschrieben, die eine mobilisierende Wirkung haben sollte. »Der Jude« wurde zum ewigen Widersacher des Islams historisiert.(20) Aufrechterhalten wird die Vorstellung eines Kampfes von Gemeinschaft (die weltweite der Gläubigen) gegen Gesellschaft (Demokratie, »Westen«, v.a. Israel und USA). Die Gründung des Staates Israel und mehr noch das Scheitern alles militärischen wie ökonomischen Aktionismus gegen diesen Staat wurde als Demütigung verstanden. Die »unerklärliche« Stärke des kleinen Staates wurde irrationalisiert und die Verschwörungstheorien inflationiert. An ein geschlossenes fundamentalistisches Weltbild ist der Hass auf Israel nicht gebunden.

Schuld sei Israel nicht nur an der Okkupation »islamischer Erde«, sondern auch an der prekären Situation aller islamischen Gesellschaften. Einigkeit besteht über die Enge des Konnex von Israel und USA, ausgedrückt im Hassobjekt »Busharon«. Im Feindbild »des Juden« bestehen alle Komponenten fort, die von Kolonialherren, Nationalsozialisten und Partnern im Kalten Krieg konturiert wurden. Das beliebteste aller »Feindbildmodule« ist dabei die ideelle und graphische Zusammenführung von Davidstern und Hakenkreuz, die zur zentralen Ikone antisemitischer Propaganda wurde.

 

Antisemitismus und Negationismus

Nach 1945 war der Antisemitismus zunächst diskreditiert und der illegalisierte jüdische Exodus ins Britische Mandatsgebiet Palästina fand breite gesellschaftliche Unterstützung. In der Rezeption von nationalsozialistischer Herrschaft und Vichy-Regime setzte sich die einheitsstiftende Lesart De Gaulles durch, ganz Frankreich sei Opfer der Nazis gewesen, habe aber einen kontinuierlichen Kampf dagegen geführt – der Résistance-Mythos. Im Gegensatz zu vielen anderen europäischen Ländern galten Juden als anerkannte Opfer, »gefallen für das Vaterland«. Nichtsdestotrotz kam es unter dem Dach der De Gaulleschen Deutung zu einer compétition des mémoires (Finkielkraut) zwischen jüdischen und nichtjüdischen Opfern der NS-Jahre. 1967 schwenkte die französische Regierung von einer israelfreundlichen Politik um zu einer vorbehaltlosen Unterstützung der arabischen Nachbarstaaten und der PalästinenserInnen, verbunden mit offen antisemitischen Anklagen an den jüdischen Staat. Die Linke hatte diese Wende in weiten Teilen bereits vollzogen. Hauptabwurfstellen des inflationierten Faschismusbegriffs wurden die USA und Israel. Im Oktober 1978 erschien im französischen Wochenmagazin L’Express ein Interview mit Louis Darquier unter dem Titel »A Auschwitz, on n’a gazé que les poux« – »In Auschwitz wurden nur die Läuse vergast«.(21) Der Befragte verbreitete antisemitische Hasstiraden, rechtfertigte antijüdische Maßnahmen, bestritt die Existenz von Gaskammern und wurde damit zu einer zentralen Figur des négationisme (Rousso). Mit den Negationisten war der Hass auf etwas wieder aktuell, das im Vichy-Frankreich als Anti-France definiert wurde: Bolschewiken, Juden, Ausländer, Freimaurer und Terroristen. Auch einzelne Linke bedurften zur Verdichtung ihres kruden Ökonomismus der »Auschwitzlüge«. Mit der wiedererstarkenden französischen Rechten und dem Negationismus lebten ab 1980 Antisemitismus und Rassismus der Dritten Republik wieder auf.

Der arabische Antisemitismus bezieht sich oft genug explizit positiv auf die Vernichtung der Juden. Der Negationismus, dem nach Angaben der Organisation SOS-Racisme weit über die Hälfte der muslimisch-maghrebinischen Jugendlichen anhängt, hat eine besondere Bedeutung bei dem Versuch Israel zu delegetimieren. Das Existenzrecht ergäbe sich, so wird hier die internationale Haltung rezipiert, aus dem Leid von Jüdinnen und Juden während der Shoah. Habe diese nicht stattgefunden, gäbe es kein Existenzrecht – so die einfache Logik. Die negationistische Propaganda erreicht heute über das Internet, Satellitenfernsehen und arabische Presse alle Migrantencommunities.(22)

Seit 1978 kam es in Frankreich mit Morden, Schießereien, Attentaten und Bombenlegungen auf Juden zu blutigen Angriffen. Die Regierung reagierte selbst mit antisemitischen Mustern, indem sie »Juden« und »unschuldige Franzosen« als Opfer unterschied. Ein Teil der Angriffe verwies auf französischen rechts- bzw. linksradikalen Hintergrund, andere Muster verrieten TerroristInnen aus dem Nahen Osten. Die Polizei reagierte nachlässig. Dagegen erhob sich der Versuch, den Antisemitismus beim Namen zu nennen und zu bekämpfen.(23) Mit dem Regierungsantritt der Sozialisten unter Mitterand im Sommer 1981 waren viele Hoffnungen bezüglich eines Endes des Antisemitismus verbunden. Schon 1982 wollte dieser aber eine Opposition schaffen »gegen die Vernichtung des palästinensischen Volkes«. Um die Dimension des angeblichen jüdischen Terrors plastisch zu machen, appellierte er mit Oradur-sur-Glane an die Franzosen.(24) Das damals in den Augen des (nichtjüdischen) Frankreich schlimmste Verbrechen durch Nazis an der Zivilbevölkerung wurde in eins gesetzt mit den Geschehnissen im palästinensisch-israelischen Konflikt – die Araber als französische Zivilisten, die Juden als Nazis.

Trotz der Sympathien für antiisraelische Haltungen der meisten muslimischen ArbeitsmigrantInnen aus dem Maghreb schlug diesen in den siebziger und achtziger Jahren offener Rassismus entgegen. Als die »auffälligeren Anderen« in Frankreich ging ein Aufwallen des rassistischen Ressentiments teilweise mit einem nachlassenden Antisemitismus einher. Eine gesteigerte Aufmerksamkeit erhielt der Antisemitismus 1985 unter anderem durch Claude Lanzmanns Film Shoah. Das Augenmerk wurde auf die jüdischen Opfer von Vichy und Nationalsozialismus gerichtet. Als es Ende der achtziger und Anfang der neunziger Jahre zur Schändung jüdischer Friedhöfe kam, demonstrierten Hunderttausende. Der Antisemitismus schien durch die neunziger Jahre marginal – bis zum September 2000.

 

La Gauche

Die antirassistische Linke Frankreichs versteht sich als das bessere Frankreich. In diesem Sinne kämpft sie gegen Rassismus und in diesem Sinne will sie auch keinen Antisemitismus – in Frankreich. Gewahr der Tatsache einer krassen gesellschaftlichen Exklusion von MigrantInnen durch Illegalisierung, Prekärisierung und Ghettoisierung, durch rassistische Diskurse und eine systematische rassistische Praxis bezieht die antirassistische Linke eindeutig Stellung gegenüber den maghrebinisch-arabischen MigrantInnen, bleibt aber indifferent gegenüber Juden. Erstere werden gegen Kritik – angemessen oder nicht – in Schutz genommen, letztere genießen Verständnis, sobald sie sich von Israel distanzieren. Die Gleichsetzung von Israelis und Nationalsozialisten erfolgt in innenpolitischer Perspektive darin, eine Melange aus (konservativen und/oder militanten) Jüdinnen und Juden und NeofaschistInnen zu konstruieren. Die MRAP (Mouvement contre le racisme et pour l’amitié des peuples), KP-nahes Flaggschiff des staatstragenden französischen Antirassismus, ist Repräsentantin dieser Haltung. In einem umfangreichen Bericht bezichtigte sie jüngst jüdische PublizistInnen, mit französischen Nazis gemeinsame Sache zu machen.(25)

Die angewandte Erklärung für den Antisemitismus ist zugleich seine praktische Entschuldigung. Das imperialistische Israel unterdrücke die PalästinenserInnen, was zwangsläufig zu Übergriffen auf Juden weltweit führen müsse, selbstverständlich voraussetzend, dass Muslime sich automatisch und derart mit den Palästinensern solidarisieren müssten. Diese Haltung ist dominant unter (ex-)antiimperialistischen AntirassistInnen. Im Kontext des Antirassistischen Grenzcamps 2002 wurden in Strasbourg Synagogen angegriffen. Die campinterne Diskussion bagatellisierte dies.(26) Die Unterstützung des Kampfes gegen den Antisemitismus hört aber auch bei den französischen AnarchistInnen, soweit sie nicht selbst Teil der antisemitischen Mobilisierung sind, spätestens da auf, wo auch ein Ende der Angriffe auf Juden in Israel gefordert wird. Bei Indy-Media France begnügte man sich nicht mit exzessiver Israelkritik. Im Juni 2002 wurden im Kontext der neuen antisemitischen Welle Beiträge veröffentlicht, in denen die Shoah geleugnet wird. Lediglich ein Teil der BetreiberInnen distanzierte sich. Erst nach massiver Kritik von außen zerbrach die Plattform in regionale Strukturen.

Die Imprägnierung gegen eine Kritik des islamischen Antisemitismus in Frankreich erfolgt durch die argumentative Standardwaffe »Arabophobie« – »antiarabischer Rassismus«. Die Kritik an spezifischen Formen des Antisemitismus wird damit zu einem Teil des französischen Rassismus und damit politische Kritik zum bloßen Ressentiment erklärt. Notorisch perzepiert die französische Linke den Antisemitismus als Subform des Rassismus (u.a. das Netzwerk SOS-Racisme), um dann, da sie sich als antirassistisch versteht, gar nicht antisemitisch sein zu können. Die muslimisch-maghrebinischen MigrantInnen werden als Hauptopfer gesehen, Juden und Jüdinnen nur als »Unteropfer«, in der globalen Perspektive als TäterInnen. Jüdischer Selbstschutz wird als Aggression denunziert, die Gewalt aus der banlieue als fehlgeleiteter Sozialprotest.

 

Fußnoten:

* Die zwei Ebenen

des Hasses

(1) Vgl. Le Monde vom 17. November 2003:

96 Fällen von Sach- und Personenschäden in den ersten zehn Monaten des Jahres 2003 stehen 184 Fälle im Vorjahr gegenüber; im selben Zeitraum 2002 gab es 685 gegenüber 295 (2003) Fällen von antisemitischer Bedrohung.

(2) Ebd., Alle Übersetzungen durch die AutorInnen.

(3) Vgl. dazu ausführlich Bernard Schmid, Die Gewaltwelle in den Jahren 2000 und 2002, in Hagalil vom 2. November 2003.

(4) Vgl. das »Weißbuch« der jüdischen Studentenunion (UEJF) und SOS Racisme, Les Antifeujs. Livre blanc. 2002.

(5) Zit. n. Le Monde vom 17. November 2003.

(6) Am 16. November 2003 im staatlichen israelischen Rundfunk, zit. n. Le Monde vom 17. November 2003.

(7) Vgl. Le Monde vom 19. November 2003.

(8) So Finkielkraut in einem Interview des Radiosenders RFI am 22. November 2003.

(9) Vgl. Le Monde vom 17. November 2003.

(10) Zusätzlich verkompliziert wird die Argumentation dadurch, dass zwei Drittel der französischen Juden aus dem Maghreb stammen, z.T. arabischsprachig sind und ebenfalls in den großstädtischen Vororten, den banlieues, wohnen.

(11) »Kommunitaristisch« wird hier im Sinne von »allein auf die Partikularinteressen einer Gruppe bezogen« übersetzt.

(12) Der Text ist u.a. auf den Seiten von Indymedia Paris und in Auszügen in Le Monde vom 11. Oktober 2003

zu finden.

(13) www.time.com/time/innovators/spirituality/profile_ramadan.html

(14) Lévy versuchte schon 1981 mit L’ideologie française eine Debatte über den französischen Antisemitismus in Gang zu bringen und verwies dabei auf eine fast hundertjährige Kontinuität faschistischer Ideologien in Frankreich.

(15) Zit. n. Le Monde vom 10. Oktober 2003.

(16) Vgl. Le Monde vom 15. November 2003,

»Tariq Ramadan, intellectuel contesté, en vedette d’un jour« (T. R., umstrittener Intellektueller als Held des Tages).

(17) Vgl. Le Monde vom 10. Oktober 2003.

(18) Nicola Tietze, Islamische Identitäten. Formen muslimischer Religiosität junger Männer in Deutschland und Frankreich, Hamburg 2001.

(19) Emmanuel Sivan, Islamischer Fundamentalismus und Antisemitismus, in: Herbert A. Strauss (Hrsg.), Anti-semitismus in der Gegenwart, Frankfurt a.M. 1990, 84–100.

(20) So verkündete die Hamas während der (ersten) Intifada: »Das Verschwinden Israels ist schon eine im Koran festgestellte Geschichtsnotwendigkeit.« Zit. n. Michael Kiefer, Antisemitismus in den islamischen Gesellschaften: Der Palästina-Konflikt und der Transfer eines Feindbildes, Düsseldorf 2002, 12.

(21) Louis Darquier war im Vichy-Regime der Verantwortliche des »Generalkommissariats für Judenfragen« und hielt sich zum Zeitpunkt des Interviews versteckt in Spanien auf.

(22) Vgl. Jüdische Allgemeine 24/2003, 2.

(23) Neben dem oben erwähnten Werk Lévys beschäftigte sich auch Shmuel Triganon 1982 in La République et les juifs mit der erneuten Welle des Antisemitismus. Die Haltung der französischen Republik schlösse jeden positiven Ausdruck jüdischen Lebens aus und zeige durch einen ritualisierten, »universalistischen« Patriotismus keine Toleranz.

(24) In dem Ort ermordeten Deutsche im Juni 1944 die männlichen Einwohner durch Erschießungen und Frauen und Kinder durch Verbrennen. Das Massaker ist das zentrale Symbol des Erinnerns bezüglich der nichtjüdischen französischen Opfer des NS.

(25) Dazu ausführlich: Justus Wertmüller, Französische Zustände. Antirassisten machen mobil: gegen Juden, Zionisten und andere Rechtsextremisten, in: Bahamas 42 (2003).

(26) Exemplarisch für das elaborierte Desinteresse deutscher AntirassistInnen gegenüber dem Thema Antisemitismus kann ein Artikel von Susanne Lang und Florian Schneider, AktivistInnen aus dem Netzwerk »Kein Mensch ist illegal«, der unter den Titeln »Eine leidenschaftliche Kritik« und »Die Grenzen des no border-Camps in Strasbourg« in den Zeitschriften off limits (35, 2002) und arranca! (25, 2002) erschien, gelten. Das Camp wird scharf kritisiert, Militanz und Schwarzer Block, vor allem aber ein unkonstruktives Diskursklima. Die Auseinandersetzung über Antisemitismus wird als ein notorisch nervendes Thema diskreditiert, als eine x-beliebige, den Konsens störende Scheindebatte gerade mal erwähnt.

Henriette Glaas und Max Sander
Autorin und Autor leben in Berlin