Literatur im Klassenkampf

Theodor W. Adorno ergänzte seinen zu Tode missverstandener Satz, es gebe »kein richtiges Leben im falschen«, im Engagement-Aufsatz um den Hinweis, dass »Kunstwerke, auch literarische, Anweisungen auf […] die Herstellung richtigen Lebens« seien. Der seit Juni 2016 vorliegende Band Richtige Literatur im Falschen?, in dem Beiträge und Diskussionen der gleichnamigen Tagung versammelt sind, weckt schon qua Titel die Erwartung, an diese Überlegungen anzuknüpfen: Wenn es schon kein richtiges Leben im falschen geben kann, dann vielleicht doch eine richtige – oder wenigstens: richtigere – Literatur?

Ganz in diesem Sinne wird einleitend zunächst gefragt: Was kennzeichnet das »falsche Leben« im gegenwärtigen Spätkapitalismus eigentlich? Welche Stellung und Funktion hat die Literatur in ihm? Und ist unter diesen Bedingungen überhaupt eine »wirklich kritische Literatur« möglich? Um diese Fragen zu debattieren, hatten der Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Enno Stahl und der Politologe Ingar Solty im April 2015 einige linke AutorInnen und TheoretikerInnen zu einer Tagung eingeladen. So kamen neben zahlreichen SchriftstellerInnen (u.a. Monika Rinck, Ann Cotten, Kathrin Röggla, Thomas Meinecke, Norbert Niemann und Ingo Schulze) etwa der Autor und Politologe Raul Zelik sowie der ehemalige Literaturredakteur der Jungen Welt Thomas Wagner zusammen.

Die anfangs aufgeworfenen Fragen werden im Band auf drei verschiedenen, allerdings nicht immer ausreichend klar voneinander getrennten, Ebenen verhandelt. In gesellschafts- und literaturtheoretischer Hinsicht interessiert, welchen Beitrag die Literatur zur Erkenntnis und Kritik der Gesellschaft leisten könne. Einigkeit besteht darüber, dass Literatur ein besonderes »Erkenntnismedium« ist, das zwischen Konkretion und Abstraktion vermittelt, das Allgemeine im Besonderen sichtbar macht. Aber während einige Beiträger (z.B. Solty und Wagner) daraus die Forderung nach einer engagierten Literatur ableiten, die politische Inhalte wirkungsvoll vermitteln soll, sehen insbesondere die LiteratInnen das kritische Potential der Literatur eher in ihrer Autonomie und ihrer Fähigkeit, eine Sprache zu finden für eine »Gesellschaft, der die Sprache ständig abhandenkommt« (Niemann). Dass diese Debatte um Engagement vs. Autonomie keine neue ist, darauf weisen u.a. Helmut Peitsch und Jan Loheit in ihren historisch orientierten Beiträgen hin.

Auf einer literaturkritischen Ebene wird darum gestritten, was kritische Literatur auszeichnet, welche Inhalte und welche Formen sie aufweisen muss. Vor allem Stahl legt hier eine sehr spezifische Poetik vor. Nach seinem Programm des »analytischen Realismus« (108), das er dem »Scheinrealismus« deutscher Gegenwartsliteratur entgegenstellt, soll Literatur formal avanciert Geschichten erzählen, aktuelle Stoffe behandeln, widerständige Figuren entwerfen und utopische Potentiale aufzeigen – eine Einengung literarischer Ausdrucksmittel, die v.a. bei Ann Cotten auf Widerstand stößt.

Am Schluss geht es dann auf einer praktisch-politischen Ebene darum, wie ein gesellschaftlicher »Resonanzraum« wiederhergestellt werden kann, der (kritischer) Literatur spätestens nach 1968 verloren gegangen sei. Relativ einig sind sich die AutorInnen über die geringe Wirkungsmacht kritischer Literatur. Erasmus Schöfer, Mitbegründer des Werkkreises Literatur der Arbeitswelt, beklagt, dass kritische AutorInnen als »Hofnarren« fungieren, die der Gesellschaft als »Ausweis ihrer Toleranz« dienen. Kritik, das macht insbesondere eine von Ingo Schulze wiedergegebene Anekdote sehr deutlich, wird von »Kulturschaffenden« fest erwartet, ist in den Betrieb integriert – und verliert damit meist jegliche Wirkung. Um das zu ändern, müsse aus der Tagung heraus ein »linker PEN« entstehen, fordert darum Schöfer – findet jedoch keine Mehrheit. Der mit der Tagung geknüpfte Zusammenhang bleibt zunächst primär ein Forum für Verständigung und Austausch.

Anders als der Titel verspricht, sind die auf der Tagung vertretenen Positionen mehrheitlich einer marxistischen Tradition verpflichtet, nicht der Kritischen Theorie. Ästhetische Fragestellungen treten hinter die Frage zurück, was »Literatur zu den gesellschaftlichen Kämpfen der heutigen Zeit beitragen« könne. Literatur, die aus solchen Überlegungen entsteht, kann großartig sein – das beweisen nicht zuletzt die Romane Enno Stahls selbst; doch wird in dem Band das spannungsreiche Verhältnis von Engagement und Autonomie allzu oft einseitig aufgelöst, wird die Literatur letztlich auf die Rolle eines Instruments im Klassenkampf reduziert.

Allerdings steht die Debatte erst an ihrem Anfang. Zwei Fortsetzungen hat die Tagung seither bereits gefunden, 2016 in Berlin und 2017 in Graz. Der hier begonnenen Diskussion und Reflexion – und ihrer Aufbereitung in Tagungsbänden wie diesem – ist eine Verstetigung sehr zu wünschen.

Lukas Betzler

Ingar Solty/Enno Stahl (Hrsg.): Richtige Literatur im Falschen? Schriftsteller – Kapitalismus – Kritik. Verbrecher Verlag, Berlin 2016, 320 S., € 21,00.