Mitchell Cohen ist seit 1991 Mitherausgeber der Zeitschrift Dissent. Er ist Professor für Politikwissenschaft am Bernard Baruch College und der Graduate School of the City University of New York. Zu seinen Veröffentlichungen zählen Zion and State (1987) und The Wager of Lucien Goldmann (1994). Seine Artikel erschienen unter anderem in New York Times Book Review, The Times Literary Supplement, Musik und Ästhetik und Les Temps Modernes. Phase 2 sprach mit ihm über die Linke in den USA, den aktuellen Wahlkampf und die Positionierungen zu Israel.
Phase 2: Der Irak-Krieg hat den Wahlkampf sowohl der Demokraten als auch der Republikaner dominiert und immer noch ist das Land in der Frage des Kriegs gespalten. Doch es scheint auch, als würde diese Diskussion andere relevante Fragen überdecken. In Anbetracht der inhaltlichen Differenzen, welchen Ausgang prognostizieren Sie für die Wahlen im November und wie würde sich Amerikas internationale Rolle unter Barack Obama bzw. John McCain ändern?
Mitchell Cohen: Ich glaube, dass sich die internationale Rolle der USA unter beiden Präsidenten ändern wird. Beiden – auch John McCain – ist klar, dass Bushs Unilateralismus schlimme Folgen gehabt hat. Selbst die Bush-Administration scheint das zumindest teilweise begriffen zu haben und hat sich ein wenig verändert; allerdings zu spät und nicht annähernd genug. Doch Bush war nicht nur außenpolitisch ein Unilateralist, sondern auch innenpolitisch. Er glaubte, alles tun zu können was er will, denn es gab eine republikanische Mehrheit im Senat und im Repräsentantenhaus und dazu wachsenden Einfluss der Konservativen im Obersten Gerichtshof. Das hat sich zum Glück 2006 geändert, als die Demokraten das Repräsentantenhaus zurückgewannen. Und auch der Oberste Gerichtshof hat bei einigen unerhörten Plänen der Bush-Administration die Bremse gezogen, aber nur bei ein paar wenigen.
Die öffentliche Meinung in den USA ist eine komplizierte Angelegenheit. Ich weiß, dass viele Europäer glauben, dass der Krieg der entscheidende Faktor bei den Wahlen ist. Oder vielleicht wünschen sie sich das. Ich glaube jedoch nicht, dass das bei der Mehrheit der Amerikaner der Fall ist, obwohl sie natürlich damit recht haben, dass es bezüglich des Krieges tiefe Gräben und großen Unmut gibt. Ich würde das nicht unterschätzen. Dennoch glaube ich, dass die Wirtschaft der entscheidende Punkt sein wird – außer, es gibt einen terroristischen Angriff.
Dass Bush 2006 einen Dämpfer erhielt, hatte nichts damit zu tun, dass die Bevölkerung auf einmal dramatisch nach links gerückt ist. Wäre dem so gewesen, dann läge Obama jetzt weiter vorn in den Umfragen. Doch im Moment sieht es nach einem Kopf-an-Kopf-Rennen aus. Der Erfolg der Demokraten 2006 hatte damit zu tun, wie schlecht Bush die Dinge im Irak-Krieg und in anderen Fragen geregelt hat. Das war reiner Protest, aber ist schon mal ein Anfang. Dennoch darf man nicht aus dem Blick verlieren, dass es ein Wahlsieg war, der die Mitte und diejenigen von uns, die mehr auf Seiten der Linken stehen (oder »Liberale« im amerikanischen Sinne) verbunden hat. Ohne eine solche Koalition wird Obama nicht gewinnen können. Wenn er glaubt, die Mitte wäre heute eher links und könnte nicht auch einen Republikaner wählen, dann wird er verlieren. Wenn er die Wahl für sich entscheidet und versuchen möchte, die Mitte liberaler zu machen, dann muss er es schaffen, sie innenpolitisch zu mobilisieren. Auch für McCain stellt sich ein interessantes Problem. Um zu gewinnen muss auch er dieses schwammige und vielleicht widersprüchliche politische Spektrum ansprechen, das wir »die Mitte« nennen, und das muss ihm gelingen, während sich die Basis seiner Partei in der Rechten befindet.
Phase 2: Wenn wir noch einen Moment bei der internationalen Rolle der USA bleiben: Inwieweit unterscheiden sich die beiden Kandidaten hinsichtlich ihrer Politik im Nahen Osten und bezüglich des so genannten »War on Terror«?
Mitchell Cohen: Das sind unterschiedliche Fragen. Bush und McCain hatten sich sehr unterschiedlich hinsichtlich der Frage positioniert, ob der Irak-Krieg richtig oder falsch war. Doch dann wird es schon kompliziert. Ich teile übrigens weder die Position des einen noch des anderen. Obama hat sich in seinem Wahlkampf gegen den Krieg positioniert, wenn er aber gewinnt und es ihm nicht gelingt, in absehbarer Zeit einen erfolgreichen Abzug zu bewerkstelligen, wird seine Präsidentschaft natürlich scheitern. Wenn er gewinnt und die Truppen zu schnell aus dem Irak abzieht, wird das in einer Katastrophe enden und dann ist seine Präsidentschaft am Ende. McCain hat den Krieg von Anfang an unterstützt, auch wenn er recht schnell begann, die Art und Weise, wie der Krieg geführt wurde, zu kritisieren. Doch man muss nicht Albert Einstein sein, um zu merken, dass der Irak-Krieg Pfusch war. McCain irrt sich gewaltig, wenn er denkt, dass die USA Jahrzehnte lang im Irak bleiben können. Die Konsequenzen wären sehr schlimm, und ich glaube nicht, dass die Amerikaner, selbst diejenigen, die mit den Republikanern sympathisieren, das wirklich wollen. McCain spricht von einem »Sieg«, und ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, was das bedeuten soll. Saddam, ein grausamer Diktator und Mörder, ist weg, und das ist gut so. Doch bedeutet dies, dass der Irak jetzt von lauter Thomas Jeffersons bewohnt ist? Danach hat es zu keinem Zeitpunkt ausgesehen. Den USA stehen im Irak schwierige Entscheidungen bevor.
Was Israel betrifft haben beide Kandidaten ihre vollste Unterstützung für Israel zum Ausdruck gebracht und auch thematisiert, wie ernst die Lage sei, wenn der Iran Atomwaffen besäße. Obama scheint zuversichtlicher zu sein, was die Chancen einer Verhandlung mit Teheran angeht. Wer auch immer gewinnt, der Iran, der arabisch-israelische Konflikt und der Irak stellen die größten Herausforderungen dar. Es ist ein großer Fehler zu glauben, wie es Teile der Linken tun, dass, wenn man nur den Nahost-Konflikt löst, sich alle anderen Probleme in der Region auch lösen werden. Wer das glaubt, hat wenig Ahnung von den Verhältnissen in der Region – historisch und politisch – oder ist einfach von Palästina besessen und schert sich keinen Deut um die Irakis oder Iraner. Tatsächlich scheint es Teile der Linken zu geben, die sich so der »palästinensischen Sache« hingeben, dass sie unfähig werden, realistisch über eine Lösung des Konflikts nachzudenken.
Ich sage nicht, dass es keine Verbindungen innerhalb der Region gibt, sondern dass wir sie in angemessener Weise bedenken müssen, anstatt sie auf anti-imperialistische Kurzschlüsse zu reduzieren. Der Israel-Palästina-Konflikt muss als eigenständiges Problem betrachtet und gelöst werden, unter dem beide Parteien leiden. Gleichzeitig müssen wir uns der Tatsache stellen, wie schwer ein Ausgleich sein wird. Und selbst wenn wir dieses Problem morgen gelöst haben, wird der Iran dann ein säkularer Staat? Löst sich damit das Armutsproblem in Ägypten? Sind die Probleme der Kurden und der Irakis dann kein Thema mehr?
Phase 2: Besonders nach 9/11 hat sich die EU gegenüber den USA als das große multilateralen Gegenprojekt inszeniert. Oft geschah das mit anti-amerikanischen Untertönen, wie zum Beispiel in dem von Habermas und Derrida unterzeichneten Manifest »Unsere Erneuerung. Nach dem Krieg: Die Wiedergeburt Europas«. Wie schätzen Sie die derzeitige Rolle der EU ein, einerseits im Hinblick auf die USA und anderseits international?
Mitchell Cohen: Anti-Amerikanismus ist meistens ein Ersatz für echte Politik und konkrete Vorschläge. Ich würde nicht sagen, dass Habermas und Derrida Anti-Amerikaner sind. Aber wenn ich das Manifest heute lese, dann erscheint es mir sehr leer. Es ist eine Geste, eine Art Briand-Kellogg-Pakt für Intellektuelle – mit vergleichbaren Unzulänglichkeiten, weil sie es nicht schaffen, konkrete Verhältnisse einzubeziehen. Hat denn die Opposition gegen den Krieg eine neue europäische Öffentlichkeit konstituiert, wie sie gedacht haben? Warum haben Frankreich und die Niederlande in dem EU-Referendum dann mit »Nein« gestimmt? Nur zwei Jahre später waren zwei der Politiker, die die Opposition gegen den Krieg angeführt haben – Schröder und Chirac – nicht mehr im Amt. Der eine ging nach Russland, um für Putin zu arbeiten, und der andere ist irgendwo in der Geschichte verschwunden, ausgerechnet mit dem Nachfolger aus der eigenen Partei, den er nie als Nachfolger wollte. Es geht also nicht nur darum, wer für und wer gegen den Krieg gewesen ist; auch Sarkozy hat Chiracs Opposition unterstützt. Hier geht es nicht darum, die Bush-Administration zu rechtfertigen. Ich verstehe mich als linken Transatlantiker und glaube, dass die Amerikaner ihren europäischen Freunden zuhören sollten. Doch einige dieser Freunde sollten sich mehr auf sich konzentrieren. Es ist nicht gut, wenn die eine Seite schwerhörig ist und die andere schrill oder selbstgefällig.
Es gab ein paar positive Veränderungen im amerikanisch-europäischen Verhältnis, vielleicht verstärkt sich das auch durch die kommenden Wahlen. Auf jeden Fall wird die Bush-Administration im Januar verschwunden sein. Ich glaube, dass wir zwischen Multilateralismus und Multipolarismus unterscheiden müssen. Chiracs Politik war, glaube ich, nicht multilateral. Er wollte ein von Frankreich geführtes Europa als globales Gegengewicht zu den USA. Das war ein Neo-Gaullismus, der sich nicht mit den neuen Verhältnissen anfreunden konnte. Sarkozys Außenpolitik stellt, bei aller Kritik, einen Schritt in die richtige Richtung dar. Die USA und Europa werden, wie Deutschland und Frankreich, niemals vollkommen identische Interessen haben, doch einige der wichtigsten Dinge verbinden sie. Angesichts der politisierten islamistischen Bewegungen und des Aufstiegs des autoritären China – um nur zwei Dinge zu nennen – glaube ich, dass es wichtig ist, einen transatlantischen Republikanismus zu stärken. Diejenigen von uns, die sich der Linken zurechnen, werden auf beiden Seiten des Atlantik noch mehr wollen als das: nämlich egalitäre soziale Werte vertiefen und vorantreiben – egal ob man die dann sozialdemokratisch oder demokratisch-sozialistisch oder linksliberal nennt.
Phase 2: Lassen Sie uns über die Antiglobalisierungsbewegung sprechen und die Möglichkeit einer neuen internationalistischen Linken, die viele in dieser Bewegung, besonders nach Seattle oder nach dem Erscheinen von Negri/Hardts Empire, gesehen haben. Diese Bewegung, so wurde von anderen kritisiert – unter anderem auch in Dissent – wiederholt allerdings einige Fehler, die Sie bspw. in Ihrem Text »The Left who doesn 't learn« ansprechen, besonders bezüglich ihrer Position zu Israel, den USA und der Art und Weise, wie der Kapitalismus kritisiert wird. In Anbetracht der Tatsache, dass diese Positionen auch in den USA prominent sind, wie schätzen Sie den derzeitigen Zustand der Linken in den USA, aber auch auf globaler Ebene ein, und – um die Frage noch schwieriger zu machen – wie könnte eine moderne internationalistische Linke aussehen, die nicht in oben genannte Fallen tritt?
Mitchell Cohen: Das ist eine komplizierte und vielschichtige Frage. Ich bin Demokrat und Internationalist, aber beides nicht in einer simplistischen Art und Weise. Ich bin für einen Internationalismus, der sich nicht in Slogans erschöpft. Es gibt einen Teil der Linken, der glaubt, alles, was die Politik braucht, sind große Prinzipien. Dabei gehen partikulare Probleme und Zusammenhänge verloren oder geraten aus dem Blickfeld – bspw. die politische Kultur eines Landes. Das ist, glaube ich, ein großer Fehler. Demokratie funktioniert nicht, ohne dass es eine Community von Menschen gibt, die füreinander Verantwortung übernehmen. Einfach zu sagen, dass wir alle Menschen sind, bringt uns nichts außer Wiederholungen. Deswegen bin ich für einen – wie ich das früher einmal genannt habe – rooted cosmopolitanism. Die Linke war immer, zu Recht, gegen integralen Nationalismus, doch wir müssen uns auch vor einem integralen Kosmopolitismus hüten, der davon ausgeht, dass wir irgendwann in einer Welt des politischen und kulturellen Esperanto leben und leben wollen. Das wird nicht passieren, und ich glaube, dass die Sicherung demokratischer Selbstverwaltung weit wichtiger ist, als solchen Abstraktionen hinterherzujagen.
Ich glaube, dass linkes Denken sich seit ungefähr dreißig Jahren in einer Krise befindet, und diese beginnt schon vor 1989. 1989 bedeutete das Ende der kommunistischen Welt und dessen, was vom Marxismus-Leninismus übriggeblieben war. Es gab nur wenige ernstzunehmende Marxisten, und die meisten gerade in nicht-kommunistischen Ländern. Aber gibt es ein Beispiel, in dem eine leninistische Partei den Kapitalismus abgeschafft und irgendwas kreiert hat, das nur annähernd verdient »Befreiung« genannt zu werden? In der Zwischenzeit begann auch das sozialdemokratische Denken leerzulaufen. Die Politik der Sozialdemokratie konzentrierte sich auf den Wohlfahrtstaat als Mittel der Redistribution, doch die entsprechenden Möglichkeiten des Staates sind zumindest teilweise nicht mehr gegeben. Ein postmodernes linkes Denken wurde vor allem an den Universitäten en vogue. Politische Zugkraft hat es aufgrund seiner hermetischen Voreingenommenheit und seines Obskurantismus nie erreicht.
Diejenigen, die mit obsessiver Überzeugung sagen, dass sie »Sozialisten« oder »Linke« sind, aber keine »Sozialdemokraten,« sind für meinen Geschmack ein bisschen zu religiös. Wie ein Priester auf seiner Doktrin bestehen sie auf »Überzeugungen«. Vielleicht sollte man sich lieber an Hegels Kritik an Kant erinnern: Man kann nicht schwimmen lernen, ohne ins Wasser zu springen. Man lernt aus Erfahrung und ist hinterher nicht mehr die gleiche Person. Oder zumindest sollte man es nicht sein. Dasselbe gilt für linke Ideen. Es sind die Konsequenzen, die zählen, nicht nur Theorien und Überzeugungen. Man steht auf Seiten der Linken – zumindest gilt das für mich –, weil man möchte, dass es Menschen besser geht, vor allem denen, die unter den Ungleichheiten der heutigen Welt zu leiden haben. Es geht nicht darum, irgendeinem intellektuellen Ideal zu entsprechen und zu beweisen, dass die Linke schon immer die richtige Theorie hatte, 1880, 1968 oder wann auch immer.
Die Linke, vor allem aber die Sozialdemokratie, hat es nicht geschafft, konkrete Vorschläge für das Elend in der Welt – in der »globalisierten« Welt – zu entwickeln. Blairs »Dritter Weg« fällt auseinander. Die Antiglobalisierungsbewegung hat an konkreten Vorschlägen auch nichts zu bieten. Einfach nur »anti-global« zu sein, macht für mich wenig Sinn. Einige Voraussetzungen und viele der Konsequenzen der »Globalisierung« in Frage zu stellen, das macht für mich Sinn. Doch man braucht ein Programm, das über die Tobin-Steuer (die an sich keine schlechte Idee ist) hinausgeht. Das Buch von Negri und Hardt hingegen – ich habe darüber einen langen Artikel in Dissent geschrieben»An Empire of Cant«, in: Dissent, Sommer 2001. – ist meines Erachtens hunderte Seiten Delirium und eine postmoderne Neuerfindung der Fehler der Linken. Glauben Sie wirklich, dass das Internet plus die »Multitude« (ein Ersatz für das Weltproletariat) uns nach Utopia bringt? Abgesehen von all dem postmodernen Nebel, was sind ihre konkreten Vorschläge? »Globale Bürgerrechte.« Soll das eine neue Idee sein? Sie sind auch für einen garantierten Mindestlohn für alle. Ich auch. Aber wie soll das geschehen? Negri/Hardt wollen die Wiederaneignung der Produktionsmittel? Ist darauf noch niemand vor ihnen gekommen? Klar, niemand hat gedacht, dass es die »Multitude« sein könnte, die das vollbringt; als eine »schaffende Macht« und eine »ontologische Konstitution«, wie sie es ausdrücken. Ich bin sicher, dass die 40 Prozent der Ägypter, die von weniger als zwei Dollar am Tag leben, sich darüber freuen zu erfahren, dass sie sich ontologisch konstituieren. Vielleicht werden sie darüber ein Blog schreiben. Natürlich nur, wenn sie nicht auf Fundamentalisten der Muslimbrüder hören, sondern stattdessen von ihrem sozialen Netzwerk vor Ort unterstützt werden.
Theorien wie die von Negri und Hardt sind vor allem deswegen so beliebt, weil es der demokratischen Linken, zu der ich mich selbst zähle, nicht gelingt, sich neu zu erfinden. Als Herausgeber einer Zeitschrift dieser Linken muss ich dafür sicher einen Teil der Verantwortung übernehmen. Doch ich möchte Folgendes sagen: Wenn es neue Ideen gibt und geben wird, dann müssen sie sowohl die globale als auch die regionale Ebene ansprechen, vor allem bezüglich der jeweiligen Länder – egal wie sehr sich die Linke wünscht, dass die Zukunft transnational sein wird. Wenn die Linke darüber nichts zu sagen hat, wird die populistische Rechte dafür in die Bresche springen, vor allem in Zeiten ökonomischer Krisen.
Phase 2: Ihre Zeitschrift Dissent hat bezüglich Antisemitismus, Antizionismus oder Antiamerikanismus eine progressive Position im Vergleich zu anderen traditionelleren linken Medien. Nun ist es in Deutschland relativ leicht nachzuvollziehen, wie sich in Teilen der Linken eine eher pro-israelische und antisemitismuskritische Position herausgebildet hat. Welche Traditionen oder Debatten haben bei Dissent zu einer solchen Haltung geführt?
Mitchell Cohen: Dissent ist gegen Antisemitismus und jede Form der Bigotterie. Wir haben jedoch keine homogene Position bezüglich Israel. Es gibt Differenzen, manchmal sehr starke. Dennoch glaube ich, dass die meisten von uns die typischen Klischees der Linken ablehnen. Ich glaube aber, dass es wichtig ist, sich zu erinnern, dass es immer unterschiedliche Arten von Linken gegeben hat. Einige haben sich auf sehr komplizierte Weise an die Welt gewandt, und andere wiederum haben sich auf Formeln zurückgezogen, die alles erklären sollen. Ich glaube, man kann über Richtig und Falsch im Konflikt zwischen Israel und Palästina sprechen, ohne daraus zu schließen, dass die Hamas eine große Befreiungsbewegung ist oder Israel kein Recht zu existieren hat.
Nach dem Krieg bis 1967 war ein Großteil der Linken, wenn auch nicht alle, Israel gegenüber positiv eingestellt. Natürlich gab es alle möglichen Zickzack-Bewegungen. Damals regierte in Israel eine sozialdemokratische Partei, die Verbindungen zu sozialistischen Parteien auf der ganzen Welt hatte. Nach dem Sechs-Tage-Krieg haben sich die Dinge geändert. Die Gründe sind vielfältig. Der Sieg Israels hat einige Linke dazu gebracht, einen – wie ich das einmal genannt habe – »Antiimperialismus der dummen Kerls« zu vertreten. Die Logik war einfach: Weil die USA in Vietnam etwas Falsches getan haben (was sicherlich stimmte), und weil die USA jetzt Waffen an Israel liefern, war auch alles in Bezug auf die Israelis falsch. Alles spielt sich zwischen Imperialismus und Antiimperialismus ab. Schließlich waren sich alle Konflikte überall irgendwie gleich. Diese Art des Denkens charakterisiert, was ich die »Linke, die nicht lernt« genannt habe. Ich möchte eine Linke, die Unterschiede machen kann. Ich glaube, dass es richtig war, dass Israel seine bereits mobilisierten Feinde präventiv angegriffen hat, und ich glaube, dass die Ägypter, Syrer und Jordanier die Aggressoren waren. Wer den ersten Schuss abgegeben hat, ist unerheblich. Die Frage ist, wer dafür gesorgt hat, dass Krieg unvermeidlich wurde. Ich glaube aber auch, dass vieles in der israelischen Politik danach mangelhaft gewesen ist, sehr sogar, vor allem die Siedlungspolitik. Es gab einen guten Grund – Selbstverteidigung –, die Gebiete mit der Armee zu besetzen. Doch es gab keine Gründe der Sicherheit, überhaupt keine guten Gründe, warum den nationalistischen und religiösen Extremisten erlaubt wurde, sich dort anzusiedeln.
Heute gibt es Überschneidungen zwischen einer Spielart des Antizionismus und einer Spielart des Antisemitismus. Es gibt eine mentale Struktur, die den meisten Vorurteilen gemeinsam ist – und das gilt auch für den Antiamerikanismus. Es ist einfach, wenn man die Antworten schon vorher hat und sich nicht mit der Welt und den Menschen auseinandersetzen muss. Ich glaube, dass der Antisemitismus und der Antizionismus teilweise mit der lange zurückreichenden Unfähigkeit der Linken zu tun hat, die Stellung der Juden in Europa zu verstehen. Das verband sich meist mit einem blinden Internationalismus, der glaubte, eine Lösung für alle Probleme zu haben, nach dem Motto: Wenn wir eine klassenlose Gesellschaft herstellen, wird es auch kein »jüdisches Problem« mehr geben. Oder: Wenn wir eine klassenlose Gesellschaft herstellen, wird es keinen Sexismus, keinen Rassismus oder was auch immer geben. Zusammengenommen führt die Blindheit zu Intoleranz, Selbstgefälligkeit und einem Hang zu intellektuellen Kurzschlüssen. Third Worldism war ein solcher Kurzschluss, der jetzt in einem postkolonialen Gewand daherkommt, was im Kontext des Nahost-Konflikts dazu führt, dass alles, was die Hamas tut, die Schuld des Zionismus ist.
Phase 2: Zum Abschluss möchten wir noch einmal über die bereits erwähnten Begriffe »sozialdemokratisch«, »liberal« oder »demokratischer Sozialismus« sprechen. Dissent hat seine Wurzeln in der antistalinistischen Linken der fünfziger Jahre, und auch die deutsche Linke hat sich stark auf Traditionen berufen, die Stalinismus und dem Bolschewismus kritisch gegenüber standen – bspw. auf die Kritische Theorie. Allerdings scheint hier auf dem Kontinent eine radikale, eher marxistisch inspirierte Position dominanter zu sein als bspw. in Dissent. Dort spricht man eher von sozialer Demokratie und demokratischem Sozialismus. Was umfassen diese Begriffe – die offensichtlich anders konnotiert sind als hierzulande – in einer amerikanischen linken Tradition? Darüber hinaus, inwieweit, glauben Sie, ist die Sozialdemokratie den Problemen einer kapitalistischen Welt wirklich angemessen? Die Bilanz der europäischen Sozialdemokraten bei der Bekämpfung ökonomischer Probleme ist nicht gerade berauschend, zudem haben auch Sozialdemokraten zuweilen autoritäre Maßnahmen ergriffen, besonders in Deutschland.
Mitchell Cohen: Ich glaube, dass von einem selbst ein bisschen zu viel Energie auf die Definition solcher Begriffe verschwendet wird. Wenn mich jemand heute einen Sozialdemokraten nennt, morgen einen demokratischen Sozialisten und übermorgen einen liberalen Linken, dann ist das für mich kein Problem. Außerdem zeigt ein Blick in die Geschichte, dass all diese Begriffe recht unterschiedliche Entwicklungen durchgemacht haben. In den späten 1890er Jahren bedeutete »Sozialdemokrat« zu sein, Marxist zu sein. Seinen negativen Beigeschmack bekam der Begriff erst durch Lenin, der darauf bestand, dass »Sozialdemokratie« als Begriffspaar »unwissenschaftlich« sei, weil Demokratie eine Staatsform sei und die klassenlose Gesellschaft hingegen keinen Staat bräuchte. Basta! Das ist ein sektiererisches Spiel mit Begriffen, und ich behandele meine Begriffe nicht wie Glaubenssätze.
Man muss sich entscheiden, was einem wichtig ist. Ich war früher Marxist, jetzt bin ich es nicht mehr, aber ich schätze Marx ' Werk immer noch sehr und beziehe mich darauf. Mir missfällt auch die Theatralik vieler Ex-Marxisten. Mir geht es um demokratische und egalitäre Sensibilität und den Versuch, das in politische und ökonomische Forderungen zu übersetzen. Diese Sensibilität steht in scharfem Widerspruch zu der Art und Weise, wie sich westliche Gesellschaften – in jedem Fall die USA – entwickelt haben. Die Linke ist dafür verantwortlich, das Leben der Menschen besser zu machen, sie zu stärken, Hierarchien abzubauen und gegen Machtstrukturen anzugehen, die auf illegitimen und unverdienten Privilegien beruhen. Gleichzeitig dürfen wir die Katastrophen des 20. Jahrhunderts nicht vergessen und uns nicht illiberalen Illusionen hingeben. Egalitarismus muss mit liberalen Gegenprinzipien abgestimmt werden (und das meine ich im klassischen Sinne). Ich glaube, dass es besser ist, in einem liberal-demokratischen Bezugssystem zu arbeiten und für mehr soziale Gleichheit zu kämpfen, als einfach die repräsentative Demokratie zu denunzieren, ohne eine kohärente Vorstellung, was denn danach kommt.
Hierbei vorausgesetzt ist eine Unterscheidung zwischen Sozialdemokratie als allgemeiner Perspektive und den entsprechenden Parteien. Noch vor gut zehn Jahren gab es sozialdemokratische Regierungen in fast jedem europäischen Land. Damals gab es die Möglichkeit, sich über Grenzen hinweg durch die ganze EU zu vernetzen für eine bessere Politik und zur Unterstützung einer sozialen Gesetzgebung. Doch mir fällt nichts Großes ein, das diese Parteien zustande gebracht hätten. Doch das heißt nicht: »Hah! Der Marxismus hatte doch immer recht«. Das ist damit nicht bewiesen und, wie gesagt, eine eher religiöse als eine politische Haltung. Eine Religion der Marxschen Begriffe wird die Linke nicht aus der Sackgasse führen, genauso wenig wie die postmoderne Klage »Ach! Wir sind so fragmentiert«. Die Krise der Linken ist, glaube ich, auch deswegen gerade sehr gefährlich, weil wir in einer Zeit dramatischer Veränderungen leben, in der vieles zusammenkommt.
Ich glaube also nicht, dass die Sozialdemokraten die Lösung gebracht haben – aber ich glaube sowieso nicht, dass es eine Lösung für alle Probleme gibt. Die Globalisierung stellt uns vor eine ganze Reihe von Problemen, und es scheint immer noch angemessen, auf Max Webers Hinweis zu hören: Unterschiedliche Sphären folgen unterschiedlichen Logiken. Wollen wir eine globale Kommandoökonomie mit einem Fünf-Jahres-Plan? Ich glaube, das wäre eine sehr schlechte Idee. Wollen wir, dass transnationale Konzerne und das Kapital für die Welt die Prioritäten festlegen? Darin besteht, auf einer basalen Ebene, das Programm dessen, was oft »Neo-Liberalismus« genannt wird und eine genauso schlechte Idee ist. Dem zugrunde liegt eine religiöse Sicht auf die Märkte, was eine Menge Leute in der Hölle schmoren lässt, während man ihnen sagt, dass sie bald gerettet werden. Auf das Risiko hin, es sich hier zu einfach zu machen: Die sozialdemokratische Lösung wäre, dass man vermittelnde Institutionen und Strukturen braucht, wie die IWF und die Weltbank, Staaten und unter anderem so etwas Ähnliches wie die EU. Die Kernfrage besteht darin, wie man diese Strukturen und Institutionen aufnahmefähig für bestimmt Werte, Bedürfnisse und Interessen macht. Eine Möglichkeit besteht in der Stärkung der Gewerkschaften. Derzeit wird der IWF von einem französischen Sozialdemokraten geführt, Dominique Strauss-Kahn. Bis jetzt hat das noch nichts Innovatives gebracht. Wenn ich er wäre, würde ich mich in einer großen Verantwortung sehen.
Obwohl ich also nicht denke, dass die Sozialdemokraten immer richtig handeln, glaube ich dennoch, dass es besser ist, ein sozialdemokratisches Bezugssystem zu sichern, bei allen Mängeln und Reformbedürfnissen, und dann in diesem System zu arbeiten. Das ist nicht leicht. Oft fehlt eine inspirierende Rhetorik und es braucht eine überzeugende Reformpolitik, die nicht in Selbsttäuschung verfällt.
Man darf nicht vergessen, dass die Europäer im Vergleich zu Amerika mehr an sozialstaatliche Wohlfahrtsprogramme gewöhnt sind. Ich weiß, dass es auch in Europa gerade viele Diskussionen darum gibt, bspw. greift Sarkozy diese Programme gerade an. Aber ich glaube, dass die Europäer das unterstützen und fördern sollten, anstatt sich in Richtung einer Variante des amerikanischen Modells zu bewegen. Wären die USA »sozialdemokratischer«, hätten unsere Bürger mehr soziale und ökonomische Rechte, was in Europa die Norm ist. Ich wünschte, bei uns ginge es darum, eine ordentliches Gesundheitswesen zu verteidigen, aber in Wirklichkeit haben fast 50 Millionen noch nicht mal eine Krankenversicherung. In den USA ist es also nicht dasselbe wie in Europa, Sozialdemokrat zu sein, auch wenn die Leute um Dissent witzigerweise oft die »einzigen schwedischen Sozialdemokraten in Amerika« genannt werden (was wir als Kompliment nehmen). Was mir als Sozialdemokrat wichtig ist, ist der Aufbau politischer und gesellschaftlicher Koalitionen, die diese Dinge zur Sprache bringen können, wie die Dominanz unseres Gesundheitswesens durch die Versicherungsfirmen. Es geht darum, auf einer Ebene strukturelle und unmittelbare Ungleichheiten zu kritisieren, die in den letzten Dekaden in Amerika immer weiter gewachsen sind. Substantielle ökonomische Ungleichheit schädigt die Demokratie, und ein Weg, um dem entgegenzutreten, ist von Sozialdemokratie zu sprechen.
Phase 2: Herzlichen Dank für das Gespräch.