»Man tut sich schwer, den ›Feind‹ zu benennen«

Die französische Linke nach dem islamistischen Terror. Interview mit Yves Coleman und Jacques Wajnsztejn

Paris wurde im vergangenen Jahr mehrfach von terroristischen Anschlägen erschüttert. Am 7. Januar 2015 stürmten Islamisten die Redaktion der Satire-Zeitschrift Charlie Hebdo und erschossen fast alle der dort Anwesenden. Am 9. Januar überfiel ein weiterer Islamist den koscheren Supermarkt Hyper Cacher und tötete vier Menschen. Nur gut zehn Monate später, am 15. Novem­ber, erfolgte der nächste, nunmehr groß angelegte Angriff. Bei Anschlägen an fünf verschiedenen Orten wurden 130 Menschen getötet. Seitdem wurde der Ausnahmezustand über Frankreich verhängt.

In den Medien wurden die Ereignisse breit diskutiert, die Solidarität war groß. Wie aber wurden die Geschehnisse innerhalb der radikalen Lin­ken aufgenommen und welche Diskussionen und Aktionen haben sie ausgelöst? Das fragte die Phase 2 die französischen Aktivisten Yves Coleman und Jacques Wajnsztejn. Beide waren als Mitglieder antiimpe­rialistischer und antirassistischer Gruppen Teil der französischen 68er-Bewegung. Heute sind sie primär als Herausgeber und Autoren tätig; 1989 gründete Jacques die Zeitschrift Temps critiques (www.tempscri­tiques.free.fr), Yves rief im Jahr 2002 das Journal Ni patrie ni frontières ins Leben (www.mondialisme.org).

Phase 2: Um die linken Reaktionen auf die Terroranschläge von 2015 zu verstehen, ist es notwendig, über die Zeit davor zu sprechen. Welche Diskussionen haben die Linke in Frankreich in den letzten Jahren dominiert?

Jacques: Der französischen radikalen Linken fehlten vor allem theoretische Orientierungspunkte. Auf den Klassenkampf wird häufig nur als Phrase Bezug genommen, ohne dass es eine entsprechende Praxis gäbe. Sehr deutlich wird das bei den TrotzkistInnen des Nouveau Parti anticapitaliste (Neue antikapitalistische Partei) oder bei den AnarchistInnen, deren bevorzugte Themen nicht mehr die Arbeit und die mit ihr verbundenen Kämpfe sind, son­dern die großen »gesellschaftlichen Fragen«: Sexualität und Ge­schlecht, »Ehe für alle« und die Befreiung der Sexarbeiterinnen etc.; Themen also, die tendenziell die alte »soziale Frage« ersetzen. Ent­lang dieser Fragen verläuft eine tiefe Spaltung der radikalen Linken – auf der einen Seite jene, die sich am Klassenkampf und am traditio­nellen Feminismus orientieren, und auf der anderen Seite die Ver­treterInnen dessen, was wir bei Temps critiques die »radikalen Par­tikularismen« nennen. Diese Spaltung schwächt nicht nur unsere gemeinsamen Kräfte, sondern isoliert uns auch noch weiter, da diese neuen Fragen fast ausschließlich Personen aus der gebilde­ten Mittelklasse interessieren oder betreffen, und weniger die unte­ren Schichten.

Dieses Problem wird durch die Unübersichtlichkeit der politi­schen Landschaft bezüglich aktueller Themen noch verstärkt. So gibt es teilweise Querfrontbündnisse in Form gemeinsamer De­monstrationen oder Kundgebungen zwischen linken und rechten Gruppen, wenn es um nationale Souveränität gegenüber Europa geht, es gibt außerdem Antiamerikanismus und einen über die Dä­monisierung des Finanzwesens zum Antisemitismus gewendeten Antizionismus.

Es sind diese Positionen, die von PolitikerInnen, Politikexper­tInnen und den offiziellen Medien als Populismus bezeichnet wer­den. Ihre negativen Bezugspunkte sind die Eliten, die Oligarchie oder die Globalisierung. Dem Frankreich »von oben« wird das »von unten« gegenüber gestellt, das »wahre Frankreich«, wie der Front National es nennt.

Die Entwicklung eines mehr oder weniger nationalistischen Po­pulismus einerseits und eines militanten, radikalen Islamismus ande­rerseits wurde nicht mit der nötigen Klarheit erkannt. Dadurch fehlte eine öffentliche, kritische Reflexion, die die Unzulänglichkeit der bis­herigen Analysen zu den Themen Nation und Religion anerkennt. Tat­sächlich wurden diese beiden Konzepte in der Linken als überholt angesehen, als vermeintlich abgelöst durch einen proletarischen In­ternationalismus einerseits und einen im Ganzen progressiven und daher positiven globalen Rationalisierungsprozess andererseits.

Phase 2: Das klingt bisher nicht so verschieden von der Situati­on in Deutschland. Ihr habt en passant das Thema Antisemitismus angesprochen. Vor dem Hintergrund, dass Frankreich – anders als Deutschland – ja eine historisch gewachsene Tradition des Repub­likanismus und Laizismus hat, was ist die Haltung der Linken zum Antisemitismus und zu Israel?

Yves: Frankreich ist das Land mit der jeweils größten muslimischen und jüdischen Gemeinschaft in Europa. Allerdings haben sich die interne Zusammensetzung der französischen Jüdin­nen und Juden, ihre religiösen Praktiken und ihr Verhältnis zu Israel (nach dem Sechs-Tage-Krieg 1967) grundlegend geändert, was eine spezifische politische Polarisierung nach sich zog. Ein Teil be­schloss, im öffentlichen Raum als Gemeinschaft mit religiösen und (pro-israelischen) politischen Forderungen aufzutreten, was einen Bruch mit der seit 1791 vorherrschenden assimilationistischen repu­blikanischen Einstellung darstellt.

In jedem Fall gab es seit der antisemitischen Friedhofsschän­dung in Carpentras vom Mai 1990 und den darauf folgenden Massen­demonstrationen keinen Anlass mehr, der die gemäßigte und die radikale Linke gegen den Antisemitismus zusammenbrachte. Zwar riefen jüdische Organisationen immer wieder zu Demonstrationen auf, aber die Linke ließ sich nicht mobilisieren. Nach dem 19. März 2012, als Mohamed Merah in eine jüdische Schule bei Toulouse ein­drang und dort einen Lehrer und drei Kinder im Alter von vier, fünf und sieben Jahren tötete und einen Erwachsenen schwer verletzte, haben die Organisationen der radikalen Linken und ein großer Teil der linken Intellektuellen eher die »Islamophobie« angeprangert, die sich infolge dieser Morde zu entwickeln drohe, und die antisemiti­sche Dimension dieser Taten höchstens nebenbei erwähnt! Das war ein Vorgeschmack darauf, wie der vorherrschende Diskurs bei den GauchistInnen im Jahr 2015 verlaufen würde.

Phase 2: Könntest du präzisieren, wen du mit dem Begriff »Gau­chistInnen« bezeichnest?

Yves: Der »Gauchismus« umfasst ein sehr breites Spektrum ohne ideologische Einheit, selbst wenn es Übereinstimmungen be­züglich bestimmter Themen und einen gemeinsamen Jargon gibt. Dieses Spektrum würde, übertragen auf den deutschen Kontext, ohne Zweifel bei der Partei Die Linke beginnen und ginge über ortho­dox-maoistische und trotzkistische Gruppen bis hin zu den Autono­men. Ich würde sagen, dass ein Gauchist jemand ist, dessen Vor­stellungen nur in geringem Maße auf präzisen Fakten und einer klaren Strategie basieren oder auf einer politischen oder gewerk­schaftlichen Praxis, deren Ziel es ist, eine klassisch revolutionäre, auf Machtübernahme ausgerichtete Dynamik zu entfesseln.

Angesichts des Rückgangs von Arbeiterstreiks unterstützen GauchistInnen jegliche partikularen Kämpfe der Zivilgesellschaft, die regelmäßig »Bewegungen« hervorbringen, deren Ursachen und Ideen und deren Entwicklung die GauchistInnen sich nicht die Mühe machen zu analysieren, ganz im Sinne des Prinzips: »Alles, was sich bewegt, ist rot«.

Phase 2: Auch in Deutschland gibt es das Problem, dass eine Kritik des Islam bzw. des Islamismus als Religion und Praxis durch die Angst vor Islamophobie erschwert wird. Wie verhält sich die französische Linke konkret zum Islamismus einerseits und zu Isla­mophobie andererseits?

Yves: Das Attentat auf Charlie Hebdo hat sofort zu einer tiefen Spaltung geführt, da diese Wochenzeitung schon seit etwa 15 Jahren von einem Teil der (radikalen) Linken als »islamophob«, ras­sistisch und immer weniger kritisch gegenüber den Rechten be­trachtet wurde. Diese Tendenz wurde insbesondere der politischen Entwicklung Philippe Vals zugeschrieben, der vom Chefredakteur zum geschäftsführenden Redakteur und schließlich zum Herausge­ber aufgestiegen ist.

Der Hass, der sich gegen Charlie Hebdo entwickelt hat, ist auch verbunden mit älteren Kontroversen innerhalb der Linken seit der sogenannten »Kopftuchaffäre« vom September 1989 (drei junge Mädchen hatten in einer Mittelschule ihren Schleier tragen wollen). Nach den Attentaten vom 11. September 2001 hat sich die Diskussi­on um den Islam weiter verschärft, wie man an dem Gesetz gegen deutlich sichtbare religiöse Zeichen im öffentlichen Raum von 2004 sieht. Ein Teil der radikalen Linken begann, systematisch die Laizität und die Frauenrechte hervorzuheben, um gegen den steigenden Ein­fluss des Islam in den quartiers populaires und vor allem gegen die Absicht der muslimischen Französinnen und Franzosen, ihre Religi­on in aller Öffentlichkeit auszuüben, anzukämpfen. Dazu kam noch das Thema der Verteidigung der »Meinungsfreiheit«, einschließlich der Freiheit der Gotteslästerung. Als Zeitschrift, in der Karikaturen über Religionen und provozierende Texte einen großen Platz einnah­men, spielte Charlie Hebdo in den letzten Jahren eine große Rolle in diesen Diskussionen und Kämpfen.

Ein anderer Teil der Linken, stärker dem Multikulturalismus verpflichtet und opportunistischer gegenüber dem politischen Is­lam, hat gegen den Begriff der Laizität Stellung bezogen. Er galt ihnen zunächst als sektiererisch, später als diskriminierend gegen­über MuslimInnen und schließlich als rassistisch und neokolonial gegenüber den Menschen aus dem Maghreb oder aus »Schwarzaf­rika«, die sich mit dem Islam identifizieren. Solche Leute hat Charlie Hebdo als »islamo-gauchistes« angeprangert; diese wiederum war­fen der Satirezeitschrift vor, rassistisch geworden zu sein.

Phase 2: Was waren die unmittelbaren Reaktionen auf die Attentate im Januar?

Yves: Die spontanen Reaktionen am 7. und 8. Januar 2015 waren vor allem Ausdruck von Fassungslosigkeit und großem Schmerz und nicht von Hass gegen den Islam. Spontan versammel­ten sich ungefähr hunderttausend Personen in ganz Frankreich, und die Demonstrationen waren von völlig anderem Charakter als die vom französischen Staat organisierte Kundgebung am 11. Januar 2015. Dort waren zahlreiche ausländische Regierungschefs anwe­send und etwa vier Millionen Menschen gingen in Frankreich auf die Straße. Ein Teil der GauchistInnen hat nicht sofort das Ausmaß der öffentlichen Empörung und Ergriffenheit erkannt. Einige hatten die Tendenz, die Demonstration für die »nationale Einheit« vom 11. Ja­nuar 2015 mit den ersten Reaktionen vom 7. und 8. Januar über einen Kamm zu scheren. Sie fühlten sich völlig überrumpelt von der Em­pörung und der Solidarität mit Charlie und waren auf der Suche nach guten Gründen, um sich völlig von dieser beispiellosen und – wenn man die klassisch gauchistischen Analysekriterien heran­zieht – unerklärlich breiten Bewegung rundweg abzugrenzen.

Die Morde im koscheren Supermarkt Hyper Cacher haben nicht zu derart starken emotionalen Reaktionen geführt wie die von Char­lie Hebdo. Auch bei der radikalen Linken haben sie bei weitem nicht die Aufmerksamkeit geweckt, die angesichts ihres antisemitischen Charakters nötig gewesen wäre. Zu sehr tobte in sozialen Netzwer­ken und in den politischen Organisationen die Kontroverse um den Anschlag auf Charlie Hebdo, um die geplante offizielle Demonstra­tion vom 11. Januar und um das Thema der von sämtlichen Parteien hochgehaltenen »nationalen Einheit«.

Phase 2: Unterscheiden sich eurer Meinung nach die Anschläge vom Januar und vom November 2015?

Yves: Die Anschläge im November hatten keinen spezi­fisch antisemitischen Einschlag. Zwar hat man mehrere Monate später erfahren, dass all die Dreckskerle (salopards), die in den letz­ten Jahren Attentate organisiert haben, sich seit langem kannten (aufgrund gemeinsamer Gefängnisaufenthalte und militärischer Ausbildung in anderen Ländern). Auch wurde bekannt, dass sie au­ßerdem mit den DschihadistInnen in Kontakt standen, die schon 2009 ein Attentat auf das Bataclan organisieren wollten, als der Kon­zertsaal im Besitz jüdischer Franzosen war und dort Galas zuguns­ten der israelischen Grenzsicherheitskräfte stattfanden. Das führte zu schwachsinnigen Parolen wie »Die israelische Armee hält Paris besetzt«. Aber auch wenn man nicht abstreiten kann, dass das Bataclan in den vernebelten Gehirnen von Angehörigen der djihado­sphère mit Israel, »den Zionisten« und »den Juden« verknüpft war, zeigt die Verschiedenheit der am 13. November in Paris betroffenen Ziele (z.B. das Stade de France in Saint-Denis), dass die Anschlags­orte nicht anhand antijüdischer Kriterien ausgewählt wurden.

Phase 2: Wie wurden die November-Attentate in der radikalen Linken diskutiert? Und haben sie die Diskussion in der Linken verändert?

Yves: Ich habe den Eindruck, dass es keine grundlegen­de Infragestellung linker Denkmuster gab. Im Großen und Ganzen haben alle versucht zu zeigen, dass sie alles vorhergesehen und verstanden hätten und dass die Ereignisse nur bestätigten, was sie schon seit Jahren sagten. Unter der Oberfläche des Geschwafels war die Verunsicherung spürbar, aber ich habe nur wenige konkrete Analysen einer konkreten Situation gelesen. Die Gruppen verblie­ben auf ihrem ideologischen Terrain, wie es unglücklicherweise ihre Gewohnheit ist.

Die radikale Linke hat häufig auf rassistische Argumentatio­nen oder gar Angriffe auf Personen maghrebinischen Ursprungs aufmerksam gemacht; sie hat Polizeieinsätze verurteilt, die sich ge­gen völlig unbeteiligte »Muslime« richteten. Aber sie hat sich nicht für die zahlreichen Diskussionen interessiert, die in Unternehmen, auf Demonstrationen oder bei Menschenansammlungen auf der Straße geführt wurden, wo rassistische oder »aggressive« Aussa­gen weitestgehend ungehört blieben.

Jacques: Einerseits ist da eine oberflächliche Analyse, die Geopolitik und politische Simplifizierungen vermischt (verwahrlos­te Stadtviertel, die fehlgeleitete Revolte von Jugendlichen, etc.) und dadurch nahelegt, dass die jüngsten Ereignisse nicht mit dem expli­zit politischen Handeln militanter islamistischer Gruppen zusam­menhänge, sondern es sich um eine bloße Reaktion auf etwas Äuße­res handele. Das ist eine sehr reduktionistische Betrachtung, die meiner Ansicht nach fälschlicherweise die Urheber der Anschläge von ihren Auftraggebern trennt. Es ist genau dieser politische Fehler – bzw. dieser Kunstgriff –, der es erlaubt, den Islamischen Staat oder Al-Qaida zu verurteilen, für die Terroristen aber gleichzeitig ent­schuldigende Erklärungen zu finden. Diese Haltung verträgt sich außerdem gut mit dem Umstand, dass die Religion immer auf das Soziale reduziert wird, weil die radikale Linke nichts zur Religion im Allgemeinen zu sagen hat. Sie gilt ihnen als etwas von der Ge­schichte überholtes, was eine vollkommen hegelianische Vorstel­lung ist. Es fehlt ihnen daher auch jegliches Verständnis der Frage der Gemeinschaft, der Verhältnisse zwischen Individuum und Ge­meinschaft, die Frage des »Gemeinwesens«, wie Marx es nannte.

Andererseits tut man sich schwer, überhaupt den »Feind« zu benennen – aus Angst, Islamophobie zu befördern, selbst als isla­mophob zu gelten, vom Parti des Indigènes de la République (Partei der Indigenen der Republik, PIR) und postkolonialen Strömungen als »weiße« politische Gruppe bezeichnet zu werden oder aber auf­grund der Befürchtung, den Kontakt mit den Jugendlichen aus den Banlieues zu verlieren. Tatsächlich existiert dieser Kontakt mit den Banlieues überhaupt nicht, da der Großteil der GauchistInnen we­der dort geboren ist noch dort wohnt und nur wenige in diesen Gegenden arbeiten. Es gibt höchstens nachbarschaftliche Kontakte mit ImmigrantInnen aus bestimmten Vierteln. Darin besteht ein gro­ßer Unterschied zu den 1960er und 1970er Jahren, als durchaus Ver­bindungen und Bündnisse mit der Arbeiterjugend existierten – trotz einer Trennung zwischen StudentInnen und ArbeiterInnen. Heutzu­tage kann davon keine Rede sein: Wenn es Kontakt gab, dann eher zwischen Jugendlichen in den noch einigermaßen »gemischten« schulischen Einrichtungen, aus denen, trotz unterschiedlicher (so­zialer) Herkünfte, große Schülerbewegungen hervorgingen. Diese Durchmischung endete mit dem Bau zahlreicher Schulen in den Banlieues für fast ausschließlich dort lebende Kinder. Zusammen mit der Entwicklung illegaler, mit dem Drogenhandel verbundener Aktivitäten und einer wachsenden Präsenz von Salafisten führte das zu einem Bruch. Dieser äußerte sich zunächst in Reibereien und Diebstählen auf Demonstrationen, die von Kerlen aus den Banlieu­es ausgingen, später dann in deren völliger Abwesenheit in politi­schen Bewegungen, in einer Spaltung gewissermaßen.

Man hätte sich mit diesem wenigen Kontakt abfinden können, aber aufgrund der Gewalt auf Demonstrationen, wegen der aggres­siven Praktiken militanter Islamisten und schließlich aufgrund der neuen postkolonialen Deutungsmuster in Teilen der radikalen Lin­ken und selbst der alternativen Szene, erhielten diese Spaltung und die Frage von Identitäten und Partikularitäten zentrale Bedeutung.

Phase 2: Der Aufstieg postkolonialer Deutungsmuster, der auch in Deutschland zu beobachten ist, scheint eine zentrale Rolle zu spielen. Könnt Ihr ein bisschen mehr dazu sagen, welche Formen das in Frankreich annimmt, wo die Erinnerung an die Kolonialzeit, an Algerien etc. ja eine andere Rolle spielt als das koloniale Erbe beispielsweise in Deutschland?

Yves: Die Mehrzahl der linken Gruppen hat sich ent­schieden, ihren Schwerpunkt auf den Kampf gegen antimuslimi­schen Rassismus zu legen (was sie dazu bringt, sich zu weigern, den Islam und sogar salafistische Gruppen zu kritisieren); eine Min­derheit der radikalen Linken und ein guter Teil der sogenannten re­publikanischen Linken sind in Bezug auf die Frage des Antisemitis­mus sensibler (was sie jedoch häufig dazu bringt, abzustreiten, dass überhaupt antimuslimischer Rassismus existiert; bestimmte linke Intellektuelle gehen sogar so weit, in sehr fragwürdiger Weise über MigrantInnen oder ausländischstämmige in Frankreich leben­de Menschen zu sprechen oder einen vermeintlichen linken »Ein­wanderungsfundamentalismus« anzuprangern – im Klartext, um die Schließung der europäischen Grenzen zu legitimieren).

Der Großteil der AktivistInnen und immer mehr Universitäts­angehörige aus den Sozialwissenschaften, deren Einfluss auf die Studierenden nicht zu vernachlässigen ist, prangern die Laizität als »bourgeois« oder »postkolonial« an. Sie wollen nicht anerkennen, dass Religionen im öffentlichen Raum ab dem Moment zum Prob­lem werden, wo politisch-religiöse Strömungen Nutzen aus der von der radikalen Linken so sehr gepflegten identitären Mode ziehen, um partikulare religiöse Forderungen vorzubringen und den in Frankreich besonders zahlreichen Nicht-Gläubigen und AtheistIn­nen bestimmte Verhaltensweisen oder »Werte« aufzuzwingen.

Jacques: Es lässt sich bei den Reaktionen auf die Anschläge eigentlich nur zwischen jenen Individuen und Gruppen unterschei­den, die der Kälte des Kapitals eine revolutionäre Kälte entgegen­setzen und jenen, die in eine prinzipienlose Islamophilie verfallen. Diese Islamophilie ist im Übrigen ein junges Phänomen. Die ersten Risse innerhalb der traditionellen Linken finden sich aber schon in den 1980er Jahren, als streikende migrantische Arbeiter bei Citroën erstmals »muslimische« Forderungen erhoben; später gab es auch in der anarchosyndikalistischen Gewerkschaft CNT eine Spaltung entlang der Frage, ob ein Gewerkschaftsmitglied ein praktizieren­der Moslem sein kann, mit allem, was das beinhaltet und bewirkt.

Ich denke nicht, dass die Ursachen für die Islamophilie in einer spezifisch französischen postkolonialen Schuld zu suchen sind. Die Gründe liegen vielmehr, erstens, in der Betrachtung des Islam als Religion der Armen und, zweitens, im Niedergang des politischen Universalismus, der die Angriffe der MultikulturalistInnen und selbst der radikalen Linken ertragen musste, die auf einmal postmo­derne Theorien entdecken und in ihre traditionelle klassenpolitische Argumentation Versatzstücke der Gendertheorie und re-essentiali­sierende Analysen integrieren. Aufgrund ihres Antiimperialismus, der sie zu propalästinensischen, antiamerikanischen und ganz all­gemein pro-arabischen Positionen führt, tendieren sie schließlich indirekt noch stärker in Richtung Islamophilie.

Seit sie glauben, im militanten Islamismus ein Ersatzprodukt für ihre alte marxistische Eschatologie gefunden zu haben, lehnen diejenigen, die sich als linksradikal bezeichnen, jede Analyse ab, die den offensiven – und insbesondere terroristischen – Islamismus und die Religion des Islam miteinander in Beziehung setzen. Aber das ist eine sehr paradoxe Position, denn einerseits heißt es, dass der Islam nicht als eine politische und ideologische Kraft gesehen werden könne, während er andererseits bisweilen sogar als die ein­zige »zu schonende« Religion angesehen wird, weil sie als Entschul­digung vorbringen kann, die »Religion der Armen« zu sein.

Der IS und Al-Qaida repräsentieren dieser Auffassung zufolge also nur neue Formen des Faschismus, weshalb der Begriff »Islam­faschismus« auch von vielen GauchistInnen verwendet wird. »Der Feind« wird weiterhin als »Faschist« oder eben als »islamistischer Faschist« bezeichnet. Den Begriff »Faschismus« einzuführen, dient aber nur dazu, etwas, was man nicht versteht, den radikalen Islamis­mus, in eine Sprache zu hüllen, die politisch bedeutungsvoll ist, weil sie sich auf eine bekannte, historisch-politische Form bezieht. Da­bei ist es ein enormer Widerspruch, einerseits Islam und Islamis­mus nicht miteinander zu assoziieren und andererseits von »Islam­faschismus« zu sprechen.

Phase 2: Haben sich in Folge der Anschläge in der Linken also neue Gräben aufgetan?

Yves: Ja, natürlich. Die Anschläge haben sowohl auf in­dividueller Ebene als auch an den Rändern der politischen Organi­sationen zu lebhaften Diskussionen, zu Austritten und zu sehr hef­tigen Auseinandersetzungen geführt.

Jacques: Die Gruppen haben ihre Sichtweise tendenziell radikalisiert, um zu zeigen, dass das, was passiert ist, letztendlich nur ihre zuvor vertretenen Standpunkte bestätige, wobei dies alles andere als naheliegend ist. So haben die gegen »die Gottesläste­rer« und »die Juden« gerichteten Terroranschläge vom 7. und 9. Ja­nuar jene neue Grenze zwischen Freund und Feind bestätigt, die besteht, seit die Klassengegensätze faktisch in den Hintergrund getreten sind. Dieser Riss wurde noch vergrößert durch die Reakti­onen, die unter muslimischen Jugendlichen aus den Banlieues zu beobachten waren, die in großer Zahl zum Ausdruck gebracht haben, dass sie sich im »Je suis Charlie« der Demonstrationen nicht wie­derfinden; und durch die am Rande geäußerte Haltung des »Sie ha­ben es ja auch provoziert«. Dennoch muss man anmerken, dass das »Je ne suis pas Charlie« (»Ich bin nicht Charlie«) nicht nur von die­sen Jugendlichen geteilt wurde, sondern auch von nicht-migranti­schen Jugendlichen aus der Mittelschicht, die sehr empfänglich für Verschwörungsideologien sind.

Die Reaktionen auf die Anschläge vom 13. November schienen das zum Teil zu entkräften, da die Anschläge nahezu einhellig verur­teilt wurden, auch von MuslimInnen. Auf Seiten der GauchistInnen und anderer Linker erforderte das eine Änderung der Taktik. Es war nicht mehr möglich, die Anwesenheit französischer Nationalfahnen auf den Demonstrationen ins Feld zu führen, um seinen Dissens zum Ausdruck zu bringen und sich zu weigern, an solch einer ver­meintlich »weißen« und national-chauvinistischen Reaktion teilzu­nehmen. Die Linken waren wie gelähmt durch diese Ereignisse, so als ob die Anschläge im Januar nur ein Vergeltungsakt gewesen seien, der eine Ehrenschuld zwischen den radikalen MuslimInnen und den respektlosen gotteslästerlichen SatirikerInnen beglichen habe. Daher auch die schäbigen Stellungnahmen beispielsweise aus dem Spektrum des Unsichtbaren Komitees (Der kommende Auf­stand), oder die ziemlich unpassenden und argumentativ und poli­tisch sehr schwachen Stellungnahmen von Jean-Marc Rouillan, ei­nem ehemaligen Mitglied von Action Directe, der den »Mut« der Attentäter rühmte. Das sind zwei Beispiele für theoretische Blind­heit und, de facto, ein Abstreiten des Ereignisses.

Für die AnhängerInnen von Der kommende Aufstand zum Bei­spiel zeigte die Angelegenheit: Die terroristische Barbarei ist nicht schlimmer als die kapitalistische Barbarei (geäußert von Personen, die in dem demokratischen Land, in dem sie leben, freien Zugang zu den großen Medien haben, sich frei ausdrücken und kämpfen kön­nen, ist das eine dreiste Aussage!). Das Leben der gewöhnlichen Menschen ist kein wahres Leben, sondern nur ein Überleben. Sie verdienen es daher nicht wirklich, zu leben, und man wird schon gar nicht ihren Tod beweinen.

Was Rouillan betrifft, verhält es sich etwas anders, nämlich eher auf der Ebene des »Bauchs« statt des Intellekts: Die Terroris­tInnen sind mutig, denn sie sind nur wenige und müssen gegen tau­sende PolizistInnen kämpfen. Rouillan interessiert sich kein biss­chen für die Opfer der Attentate, denn auch für ihn ist niemand un­schuldig und es gibt daher auch keine Schuldigen. Allein die Geste sei auf eine gewisse Weise schön, wenn sie gegen den Staat gerich­tet ist! In beiden Fällen wird das Abscheuliche verteidigt. In beiden Fällen ist das Entscheidende, »im Spiel zu bleiben« oder zumindest den Anschein zu vermitteln.

Phase 2: Wie wurde auf die Verhängung des Ausnahmezustands in Paris reagiert?

Jacques: Mit der Zeit traten die Darstellung und die Analy­se der Ereignisse in den Hintergrund und wurden durch das Anpran­gern des Ausnahmezustands ersetzt, der dazu führte, dass nun der Staat wieder als Hauptfeind ausgemacht werden konnte. Da die An­hängerInnen von Der kommende Aufstand einen Großteil ihrer Ener­gie darauf verwenden, ausgehend von der Schmitt’schen Theorie des Ausnahmezustands, die herrschaftlichen und polizeilichen Maßnahmen des Staates anzuprangern (Kritik an Datenbankerfas­sung, DNA-Tests, Überwachungskameras, etc.), mussten sie dies nur noch zuspitzen, um ihre Geltung zu belegen. Dieser Analyse nach wird behauptet, dass die Feinde des Staates nicht mehr in ers­ter Linie äußere Feinde sind, wie in konventionellen Kriegen, son­dern dass ihr Hauptfeind ein innerer Feind sei; die VertreterInnen dieser Hypothese beziehen sich auf das jüngste Beispiel eines Aus­nahmezustands in Europa, nämlich den italienischen Staat während der »bleiernen Jahre« von 1969 bis 1982. Ich würde sagen, dass die Veränderung des Staates von der Form des Nationalstaates hin zu einer Art »Netzwerk-Staat« dagegen spricht. Die Herrschaft im All­gemeinen ist heute nicht mehr disziplinär und autoritär. Sie ist Kon­trolle und Selbstkontrolle, in gewisser Weise partizipativ und daher ziemlich konsensuell, und die allgemeine Ablehnung des politi­schen Personals widerspricht dem nicht, sondern bestätigt es auf seine Weise.

Die Maßnahmen des Notstands sind also nichts Ungewöhnli­ches in einer kapitalisierten Gesellschaft, in der die Antagonismen eingedampft sind. Es sind traditionelle Maßnahmen zum Erhalt der öffentlichen Ordnung, die zwar sicherlich die Freiheit einschränken, dabei aber nicht über das übliche Maß hinausgehen, da sie Teil eines Arsenals sind, das seit etwa 20 Jahren dazu dient, soziale Kämpfe und ihre Protagonisten zu kriminalisieren. Aber diese Kriminalisie­rung wird möglich nicht durch einen Ausnahmezustand oder eine Situation des Notstands, sondern in erster Linie aufgrund der Schwäche der sozialen Kämpfe und der Isolation der kämpferischs­ten und avantgardistischsten Elemente.

Es scheint, als ob die Polizei teilweise in »rechtsfreien Zonen« ihrem »Unmut Luft gemacht hat«, wo sie, unter dem Vorwand des Terrorismus, auf bekannte StraftäterInnen stieß, die in normalen Zeiten mehr oder weniger unantastbar gewesen waren. Es ist schwer, die Konsequenzen abzuschätzen. Bestimmte Jugendliche aus den Banlieues haben sich an den »Nuits debout«, den nächtli­chen Demonstrationen auf dem Platz der Republik, beteiligt, um von diesen Vorfällen zu erzählen und zu fordern, dass sie auch außer­halb ihrer Viertel angeprangert werden. Aber was die Bevölkerung dieser Viertel im Allgemeinen wirklich dazu dachte, ist im Moment schwer zu sagen.

Insgesamt blieb die Reaktion auf den Ausnahmezustand über­schaubar, weil es einen antiterroristischen und von Sicherheitsden­ken geprägten Konsens gab. Es wurden lediglich einige geplante Maßnahmen skandalisiert, die aber letztendlich nicht durchgekom­men sind, wie die Aberkennung der Staatsbürgerschaft oder die Festschreibung von Notstandsmaßnahmen in der Verfassung, oder aber die Idee von Sonderstrafen für den Tatbestand des Terrorismus. Aber diese Kritik wurde von den politischen Gruppen der radikalen Linken ohne wirkliche politische Argumentation vorgebracht. Das Erläutern der Gefahren, die von bestimmten gerichtlichen Maßnah­men ausgeht, wenn sie durch einen »Mitnahmeeffekt« auch nach Ende des Ausnahmezustands weiter bestehen, wurde Rechtsexper­tInnen überlassen. All diese Mängel, all dieser Unwillen auf Seiten der radikalen Linken musste zwangsläufig zu großer politischer Iso­lation führen, weil sie dem Staat und seinem Notstand nichts ande­res entgegenzusetzen hatten.

Phase 2: Wie würdet ihr abschließend das Verhältnis der radika­len Linken zur Gesellschaft einschätzen?

Jacques: Ich würde sagen, dass die Spaltung, die mir am bedeutendsten erscheint, nicht diejenige ist, die innerhalb linker Gruppen oder zwischen verschiedenen Gruppen der radikalen Lin­ken entstanden ist, sondern die zwischen diesen Gruppen einer­seits und den nicht politisch organisierten Individuen und den »Un­politischen« andererseits. Wir waren daher nur sehr wenige, die am 7. und 8. Januar sofort auf die Straße gingen, nachdem wir die Nach­richten in den Medien gehört hatten, und die zu den Kundgebungen gingen, zu denen nicht von Organisationen aufgerufen wurde, son­dern über die sozialen Netzwerke. Insofern ist es nicht erstaunlich, dass zum selben Zeitpunkt, als der Staat versuchte, das Heft durch die Ankündigung einer offiziellen Demonstration einige Tage später wieder in die Hand zu nehmen, die Gruppen sich bemühten, ihre Legitimität am Gegenpol wiederzuerlangen. Da sie nicht an der Spitze der Spontandemonstrationen standen, mussten sie zumin­dest an der Spitze derjenigen stehen, die die politische und staatli­che Vereinnahmung dieser Demonstrationen in einem republikani­schen und nationalistischen Sinne anprangern – auf die Gefahr hin, die ursprüngliche Bedeutung dieser, aufgrund ihrer Auflösung in die großen Demonstrationen vom 11. Januar nur kurzlebigen, Bewe­gung zu übersehen.

Phase 2: Vielen Dank für das Gespräch!