Marx‘ Arbeitsscheine

Vom Geld unterschieden—ohne Staat kaum zu denken

1875 skizziert Marx die erste und höhere Phase des Kommunismus und fordert für die erste Phase ein Arbeitsschein-System, nach dem die arbeitsfähigen Mitglieder der Gesellschaft von dieser entsprechend ihres Arbeitseinsatzes entlohnt werden. Wie kommt Marx plötzlich darauf? Würde sich der Kommunismus mit den Arbeitsscheinen nicht die Wertform wieder einhandeln, mithin das verfluchte Geld? Dass die Arbeitsscheine am Ende Geld seien, ist auch unter Marxisten keine seltene Behauptung, entweder zwecks RechtfertigungVgl. z.B. Stefan Varga, Das Geld im Sozialismus. Sein Begriff und seine Funktion, in: Weltwirtschaftliches Archiv 2 (1957), 223-290, 239; sowie Jiří Kosta, Wirtschaftssysteme des realen Sozialismus, Köln 1984, 28. des Geldes im Sozialismus oder als Kritik an Marx gerichtet. In solcher KritikVgl. z.B. Ingo Elbe, Marx vs. Engels. Werttheorie und Sozialismuskonzeption, 2001, https://0cn.de/58ix; sowie Ulrich Weiß, Marx’ Kritik am Gothaer Programm oder: Kein Weg aus dem Kapitalismus, in: Streifzüge 48 (2010) https://0cn.de/b5n7. heißt es oft verblüfft: »Marx hat die Stundenzettel Proudhons doch als verkapptes Geld kritisiert, wieso führt er sie jetzt unter dem Begriff Arbeitsscheine wieder ein?«

Um es vorwegzunehmen: Marx unterscheidet seine Arbeitsscheine von Proudhons Stundenzetteln. So richtig glücklich war er damit trotzdem nicht. Im ersten Band seines ökonomischen Hauptwerks deutet er ihren Einsatz im Kommunismus erstmals, aber nur halbherzig an: »Nur zur Parallele mit der Warenproduktion setzen wir voraus, der Anteil jedes Produzenten an den Lebensmitteln sei bestimmt durch seine Arbeitszeit.«Karl Marx, Das Kapital, Marx-Engels-Werke (MEW) 23, 93. Nur zur Parallele? Im zweiten Band bringt er abermals die Arbeitsscheine als zukünftige Instrumente ins Spiel, und wieder lässt er seinen Unmut durchblicken: »Die Produzenten mögen meinetwegen papierne Anweisungen erhalten, wofür sie den gesellschaftlichen Konsumtionsvorräten ein ihrer Arbeitszeit entsprechendes Quantum entziehn.«Karl Marx, Das Kapital, MEW 24, 358. Meinetwegen? In der Kritik des Gothaer Programms schließlich plädiert er für den Einsatz von Arbeitsscheinen in der ersten Phase des Kommunismus und zählt sie zu den »Muttermalen«Ebd. des kapitalistischen Systems, gegen die, wie es scheint, noch kein Kraut gewachsen ist. Jedes arbeitsfähige Mitglied wird in der kommunistischen Gesellschaft »einen Schein«Karl Marx, Kritik des Gothaer Programms, 1875, MEW 19, 20. erhalten, worauf verzeichnet sei, welche Arbeitsleistung es erbracht hat. Diese Scheine stellen Anrechte auf die Lebensmittel in den Güterdepots dar. Wer viel arbeitet, wird demnach viel, und wer wenig arbeitet, wird wenig konsumieren können. »Es wird gleich viel Arbeit in einer Form gegen gleich viel Arbeit in einer andern Form ausgetauscht.«Ebd. Die Tauschgerechtigkeit, die die bürgerliche Gesellschaft verspricht, aber im Klassenverhältnis hintertreibt, würde in der ersten Phase des Kommunismus praktisch wahr werden. Später schließlich, in der höheren Phase der kommunistischen Gesellschaft, sollen diese Arbeitsscheine und mit ihnen das Prinzip der Tauschgerechtigkeit überwunden werden. Denn das Prinzip der Tauschgerechtigkeit ist janusköpfig. Gerecht ist es, sofern unter seiner Ägide alle nach gleichem Maßstab beurteilt werden, ungerecht ist es, sofern allein der Maßstab der Arbeitsleistung gilt und die verschiedenen Eigenschaften, Umstände und Bedürfnisse der Einzelnen keine Rolle spielen. In der höheren Phase der kommunistischen Gesellschaft soll anstelle des Tauschprinzips ein höheres Prinzip gelten: »Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!«

Höhere Phase — warum nicht gleich?

Die naheliegende Frage: Warum kann dieses höhere Prinzip nicht sofort gelten, warum soll vorher noch das Tauschprinzip gelten? Antwort: Weil die Menschen arbeiten müssen, um ihre Bedürfnisse zu befriedigen, und ein Großteil der Arbeit unattraktiv ist. Unattraktive Arbeit muss erledigt und unter den Gesellschaftsmitgliedern, die sich nicht um sie reißen, nach einem Prinzip verteilt werden, das so gerecht wie möglich ist. Ein besseres als das Prinzip der Tauschgerechtigkeit liegt erst mal nicht auf der Hand. Jedes arbeitsfähige Gesellschaftsmitglied bekommt in Form von Gütern (abzüglich dessen, was die Gesellschaft für Kinder, Kranke, Infrastruktur etc. abzweigt) zurück, was es der Gesellschaft in Form von Arbeitsleistung gegeben hat. Entkommen können die Menschen diesem Schicksal des Leistungsprinzips nicht mit der Revolution der Eigentumsverhältnisse, sondern erst später: wenn »die Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums voller fließen«.Ebd., 21. Im Kommunismus wird die Menschheit ihre Produktivkräfte (Geschick, Kooperation, Wissenschaft, Produktionsmittel) so entwickeln und einsetzen, dass unattraktive Arbeiten wegfallen und alle benötigten Lebensmittel in ausreichendem Maße produziert werden. Übrig blieben irgendwann nur noch die Arbeiten, die ihren Reiz haben: wissenschaftliche, kreative Arbeiten etc. Alsdann würde gelten: »Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!«

Wer nun glaubt, die Produktivkräfte haben sich seit Marx schon unter der Ägide des Kapitals dermaßen weiterentwickelt, dass heutzutage die erste Phase übersprungen werden könne, unterstellt dem Kapital zu viel des Guten. Denn das Kapital ist den Produktivkräften nicht äußerlich, sondern hat deren Gebrauchswert kontaminiert. Dieser kann nicht auf ewig in den Kommunismus verpflanzt werden, aus der Pestquelle kapitalistischer Industrie wird im Kommunismus nicht plötzlich reinstes Wasser fließen. Das Fließband etwa könnte im Kommunismus vielleicht langsamer laufen, seine Eigenlogik—in Charlie Chaplins Modern Times treffend illustriert—aber bliebe. Weiteres Beispiel: Millionen Arbeitskräfte, die billiger sind als adäquate Maschinen, rackern sich in Minen ab, um Rohstoffe aus den Eingeweiden der Erde zu holen, zum Beispiel im Kongo, woher das Tantal für unsere trendy Produktions- und Konsumtionsmittel (Laptops, Smartphones, Gadgets) stammt. Ergo: Sollten eines Tages die gesellschaftlichen Verhältnisse umgewälzt werden, begänne danach der Umbau. Weltweit müssten die Produktionsanlagen und das Transport- bzw. Straßennetz humanisiert werden. Gleichzeitig müsste der jetzige Produktionsorganismus, der seiner Konstruktion nach täglich die Zufuhr von Milliarden Stunden menschlicher Arbeitskraft verlangt, am Leben erhalten werden, so sehr nämlich, dass die notwendigsten Produkte unseres täglichen Bedarfs weiterproduziert werden. Nach der Revolution der Eigentumsverhältnisse müsste auch in vielen stinkenden Fabriken und beklemmenden Minen weitergearbeitet werden (wenngleich diese Arbeit auf mehr Schultern verteilt würde). Sowohl diese Weiterarbeiten, die die Fähigkeiten der Individuen veröden lassen, als auch jene Umbauarbeiten, die zusätzlich hinzukämen, müssten verteilt werden; die höhere Phase bliebe erst mal Zukunftsmusik.

Das höhere Prinzip »Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen« gibt auf die Frage, wie die Last der Arbeiten gerecht auf alle Schultern verteilt werden kann, keine Antwort. Gewissermaßen ist es ein außerökonomisches Prinzip, eins, das im Reich der Notwendigkeit nur insofern weiterzuhelfen vermag, als auf das Reich der Freiheit zu verweisen und die Gleichgültigkeit und Gnadenlosigkeit des Äquivalenzprinzips in dem Maße zu korrigieren, wie die Produktivkräfte wachsen und das Reich der Notwendigkeit schrumpft. Was die eigentliche Bewältigung des Reichs der Notwendigkeit anbelangt, vermag Marx kein besseres ökonomisches Prinzip anzugeben als das der Äquivalenz, das Prinzip der Tauschgerechtigkeit: Jedem nach seiner Leistung. Die Arbeitsscheine, wie sie Marx im Sinne hat, sollen dafür sorgen, dass es bestmöglich gilt.

Die Kritik an Proudhons Stundenzettel

Mit den Stundenzetteln hätten die Arbeitsscheine, vertraut man der marxschen Argumentation, nur ihren äußeren Anschein gemein. In Wesen und Funktion wären sie unterschieden. Marx zielt auf die Revolutionierung der Eigentumsverhältnisse und wirft dem kleinbürgerlichen Stundenzettel-Sozialismus à la Proudhon vor, genau vor dieser Revolution zurückzuschrecken und nur die Zirkulationssphäre umgestalten zu wollen. Bei diesem halbgewalkten Sozialismus handele es sich um einen »Sozialismus, der die Privatproduktion bestehn lassen, aber den Austausch der Privatprodukte organisieren, der die Ware will, aber das Geld nicht will.«Karl Marx, Brief an Joseph Weydemeyer vom 1.2.1859, MEW 29, 573. Ein hölzernes Eisen. Die Stundenzettel würden entweder, um ihren Zweck zu erfüllen, nachträglich die Revolution der Produktionssphäre erfordern oder sie würden zwecklos und null und nichtig werden oder sie würden, den kapitalistischen Eigentumsverhältnissen folgsam, zu einer Art Papiergeld transmutieren. Würden hingegen—kommunistisch—zuvörderst die Eigentumsverhältnisse revolutioniert, die Produktionsmittel vergesellschaftet und die Produktion der Gesellschaft konzertiert, dann, so nimmt Marx an, könnten die Arbeitsscheine auf Grundlage der neuen Produktionsweise dabei helfen, Produktion und Konsumtion zu vermitteln, ohne sich blindwüchsig in Geld zu verwandeln.

Im Prinzip greift Marx hier auf eine Argumentationsfigur zurück, die er in jungen Jahren schon in der Auseinandersetzung mit Ludwig Feuerbachs Religionskritik ins Feld führt. Feuerbach interpretiert Gott als ins Himmelreich entäußertes Vermögen der Menschen. Marx stimmt dem zu, begnügt sich aber nicht mit dieser Feststellung. Er will den Grund wissen, warum die Menschen diese Entäußerung nötig hätten, und ihn beseitigen. »Feuerbach geht von dem Faktum [...] der Verdoppelung der Welt in eine religiöse und eine weltliche aus. Seine Arbeit besteht darin, die religiöse Welt in ihre weltliche Grundlage aufzulösen. Aber daß die weltliche Grundlage sich von sich selbst abhebt und sich ein selbständiges Reich in den Wolken fixiert, ist nur aus der Selbstzerrissenheit und Sichselbstwidersprechen dieser weltlichen Grundlage zu erklären. Diese selbst muß also in sich selbst sowohl in ihrem Widerspruch verstanden als praktisch revolutioniert werden.«Karl Marx, Thesen über Feuerbach, 1845, in MEW 3, 5f. Kurz zuvor, in seiner ersten längeren Auseinandersetzung mit der Ökonomie, hat er die Formulierung Feuerbachs auf das Geld übertragen. Es stelle »das entäußerte Vermögen der Menschheit« dar.Karl Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, 1844, MEW I, 565. Und wie er sich nicht mit Feuerbachs Feststellung zufriedengibt, wonach Gott das entäußerte Vermögen der Menschen sei, so gibt er sich schließlich nicht mit der Feststellung zufrieden, wonach das Geld der entäußerte Ausdruck menschlicher Arbeit sei.Marx, Das Kapital, MEW 23, 94f. Er will sowohl im Hinblick auf Gott wie auch auf das Geld ergründen, warum die Menschen diese Entäußerungen nötig hätten, und stößt in beiden Fällen auf »Selbstzerrissenheit und Sichselbstwidersprechen« der Grundlage. Das ökonomische Vermögen der Menschen—ihre gesellschaftliche Arbeitskraft—würde sich im Geld entäußern, weil die Produktion zerrissen sei (Privateigentum an den Produktionsmitteln) und sich selbst widerspreche (Konkurrenz, Klassenverhältnis). Der kleinbürgerliche Stundenzettel-Sozialismus würde die Entäußerung, also das Geld und den Finanzsektor, revolutionieren wollen, ohne die Warenproduktion und das Privateigentum an den Produktionsmitteln abschaffen zu wollen. »Solange die Operationen gegen das Geld als solches gerichtet sind, ist es bloß ein Angriff auf Konsequenzen, deren Ursachen bestehen bleiben [...]«.Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, 1857/58, MEW 42, 166.

In einem Manuskript unterstellt er dem Stundenzettel-Sozialismus Hartnäckigkeit und wagt ein Gedankenexperiment. Was wäre, wenn die Volksbank (die in Proudhons Konzeption die Stundenzettel emittiert) und das Stundenzettelsystem mit aller Macht durchgesetzt würden? Die Volksbank, so beginnt das Gedankenexperiment, würde also Stundenzettel an die Entrepreneure ausgeben, und zwar so viele, wie diese Waren bei ihr abgeliefert haben. Folglich müsste diese Bank dafür sorgen, dass alle Waren auch wirklich bei ihr landeten, dass also nirgends privater Warentausch stattfände. Denn würde nur ein Teil der Waren bei der Bank landen, während der andere Teil privat getauscht würde, verkümmerten die Stundenzettel zu »Theaterbilletts«, die nicht allgemeingültig den Warenverkehr vermittelten, sondern nur einen partikularen Tauschakt, hier den »zwischen der Bank und ihren Kunden«.Ebd., 89. Marx möchte das Experiment nicht schon an diesem Punkt scheitern lassen und unterstellt, dass die Entrepreneure sich auf die Konditionen der Volksbank einlassen. »Die Bank wäre also der allgemeine Käufer und Verkäufer.«Ebd. Dann hätte sie als nächstes die Aufgabe zu meistern, das Maß der Stundenzettel zu finden. Die Bank müsste herausfinden, welche Zeit zur Produktion jeweiliger Waren angebracht wäre und schließlich noch alle unterschiedlichen Arbeiten auf einen Nenner bringen, um nicht Stundenzettel für die jeweiligen Waren, sondern einheitliche Stundenzettel auszugeben. »Aber auch das wäre nicht hinreichend.«Ebd. Die so ermittelte durchschnittliche Arbeitszeit wäre widersinnig, würde die gesamtgesellschaftliche Arbeitszeit in falschen Proportionen, d.h. für die Herstellung von Waren verausgabt, die nicht der Nachfrage entsprechen. Dann nämlich hätte die Bank nicht die gewünschten Waren parat—und die via Produktion erarbeiteten Stundenzettel ließen sich im Güterdepot nicht realisieren. Oder umgekehrt: Stundenzettel mit Anspruch auf Produkte wären von der Bank emittiert worden für Tätigkeiten, deren Produkte sich nicht verkauften. Sofern sie Geldware und Markt aufgehoben hätte, müsste die Volksbank selber die proportionale Produktion garantieren und für die maßgerechte Verteilung der Arbeitszeit auf die verschiedenen Produktionszweige sorgen. Sie müsste also die Produktion der Waren dirigieren. Das System der Stundenzettel und die Notwendigkeit proportionaler Produktion bedingten darüber hinaus die Aufhebung des Klassenverhältnisses; die Volksbank müsste regeln, wie viele Arbeitskräfte in jedem Privatbetrieb angestellt wären, und die Arbeitskräfte müssten ihre tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden zertifiziert bekommen. Um es kurz zu machen: Die Entrepreneure wären in der Konsequenz nur Bedienstete bzw. Bevollmächtigte der Volksbank. Sie könnten weder frei kaufen noch verkaufen, sie bekämen vorgeschrieben, was und wie viel sie zu produzieren hätten. Damit würde auch ihr Privateigentum an den Produktionsmitteln sinnlos, weil sie nicht darüber entscheiden könnten, und ferner könnten die sogenannten Entrepreneure auch nicht über die Anzahl ihrer Arbeitskräfte bestimmen und nicht mal Profit erwirtschaften. Die Volksbank auf der anderen Seite würde nicht nur Stundenzettel ausgeben und den Warenverkehr monopolisieren, sondern auch die gesamtgesellschaftliche Produktion organisieren. Sie »wäre nicht nur der allgemeine Käufer und Verkäufer: sondern auch der allgemeine Produzent. In der Tat wäre sie entweder die despotische Regierung der Produktion und Verwalterin der Distribution, oder sie wäre in der Tat nichts als ein board, was für die gemeinsam arbeitende Gesellschaft Buch und Rechnung führte. Die Gemeinsamkeit der Produktionsmittel ist vorausgesetzt etc.«Ebd. In dem einen wie dem anderen Fall würde das System der Volksbank und Stundenzettel »die Negation der ganzen Grundlage der auf dem Tauschwert basierten Produktionsverhältnisse«Ebd.,686. nach sich ziehen.

Soweit Marx‘ Gedankenexperiment. Gleichwohl glaubt er nicht daran, dass sich die Entrepreneure auf ihre Degradierung einlassen würden und die Gesellschaft von ihrer Zirkulationssphäre her umgekrempelt werden könnte. Und er findet es »verdächtig«, dass »Proudhon und Konsorten«Ebd., 59. daran glauben. Die Produktions- und Eigentumsverhältnisse, so Marx, seien entscheidend, sie müssten geändert werden. Das Privatkapital müsste enteignet und die Produktionsmittel vergesellschaftet werden. Nur so könne verhindert werden, dass sich die Gesellschaftlichkeit der Arbeit in einem verselbständigten Reich der Wertformen verdinglicht.

Funktion und Garant der Arbeitsscheine

Dem äußeren Anschein nach unterschieden sich die Arbeitsscheine in der kommunistischen Gesellschaft nicht von den Stundenzetteln im Volksbanksystem: Sie bestünden, den Ideen nach, jeweils aus wertlosem Material, wahrscheinlich Papier, und wären mit einer Zahl beschrieben, die die Größe geleisteter Arbeit ausdrückte. Aber, so Marx, ihrer Voraussetzung nach unterschieden sich die Arbeitsscheine und Stundenzettel. Proudhon wolle das Unmögliche: Stundenzettel auf Grundlage der Privatarbeit. Er selber wolle Arbeitsscheine auf der Grundlage unmittelbar vergesellschafteter Arbeit. Auf dieser Grundlage wäre jede Einzelarbeit, seiner Vorstellung nach, von vornherein als gesellschaftlich notwendige gesetzt; keine Arbeit müsste sich mehr im Verhältnis zur Geldware als gesellschaftlich notwendig beweisen, da die gesamtgesellschaftliche Arbeitszeit mittels gesamtgesellschaftlicher Buchführung und gemäß den Bedürfnissen geplant und auf die verschiedenen Geschäftszweige verteilt wäre. Unter dieser Voraussetzung, d.h. Proportionate Production, »wird die Geldfrage ganz sekundär und speziell die Frage, ob tickets, blaue oder grüne, blecherne oder papierne, ausgegeben werden [...]«.Ebd., 87. Zwischen den Betrieben fände nicht nur kein Warentausch mehr statt, sondern überhaupt kein Tausch. Denn die Tickets bzw. Scheine dienten nicht dazu, den Stoffwechsel in der Produktion zu vermitteln, sondern allein dazu, das Verhältnis zwischen Produktion und Konsumtion zu regeln. Sie seien »ebensowenig ›Geld‹ wie etwa eine Theatermarke. [...] Das Arbeitszertifikat konstatiert nur den individuellen Anteil des Produzenten an der Gemeinarbeit und seinen individuellen Anspruch auf den zur Konsumtion bestimmten Teil des Gemeinprodukts.«Marx, Das Kapital, MEW 23, 109f. Mit ihren Arbeitsscheinen (Arbeitszertifikaten) könnten die Gesellschaftsmitglieder »den gesellschaftlichen Konsumtionsvorräten ein ihrer Arbeitszeit entsprechendes Quantum entziehn. Diese Anweisungen sind kein Geld. Sie zirkulieren nicht.«Marx, Das Kapital, MEW 24, 358.

Jiří Kosta, ein tschechisch-slowakischer Ökonom und Reformsozialist, widerspricht Marx; die Arbeitsscheine würden zu Geld werden: »Ihre Funktion als Tauschmittel (wie das Geld) bliebe freilich dieselbe: Die Menschen würden mit den Bescheinigungen wie mit einem einzutauschenden Äquivalent umgehen, etwa wie es Inhaftierte mit Zigaretten im Knast tun.«Kosta, Wirtschaftssysteme, 28. Allerdings: Arbeitsscheine kann man nicht rauchen; auch sonst haben sie keinen Gebrauchswert. Ihnen müssen Gebrauchswert (dass sie Geld seien) und Tauschwert aufgestempelt werden—und zwar allgemeinverbindlich, d.h. durch irgendeinen, wie auch immer gearteten, politischen Souverän, der den Nennwert der Arbeitsscheine in seinem Einflussgebiet garantiert. Ohne einen solchen Souverän, der ihren Nennwert stempelt und durchsetzt, wären die Arbeitsscheine nur Papierfetzen. Anders die Zigaretten im Knast: Dieser Leitwährung—vorausgesetzt, der Durchschnittsinhaftierte raucht noch—kommen Wert und Gebrauchswert zu, ohne draufgestempelt werden zu müssen. Die Zigaretten können trotz der Autorität des Staates als Geld dienen und geradezu an dieser und der Gefängniswacht vorbei zirkulieren. Die Arbeitsscheine hingegen würden selbst auf dem Schwarzmarkt die Staatsautorität voraussetzen, die sie stempelt, ausgibt und ihre Funktionsfähigkeit garantiert.

Was wäre nicht alles zu tun, um die Arbeitsscheine durchzusetzen und die ihnen zugedachte Funktion zu garantieren! Zuerst einmal müsste Arbeitszeitrechnung gelingen, d.h. die verschiedenen Arbeiten auf einen gleichen Nenner gebracht werden, und zwar bewusst, also so, dass Geld und Markt nicht vorausgesetzt sind und diese Abstraktion und Rechenleistung hinter dem Rücken der Beteiligten vollziehen. Sodann müssten die Arbeitsleistungen der Individuen ermessen werden (wie eigentlich?), um ihnen die gemäße Anzahl an Arbeitsscheinen geben zu können. Schließlich müsste dafür gesorgt werden, dass die Angestellten in den Güterdepots Arbeitsscheine und Güter gerecht tauschten. Es müsste für proportionale Produktion gesorgt sein. An jedem Ort müssten die benötigten Güter in den Güterdepots und in allen Betrieben die nötigen Arbeitskräfte und Produktionsmittel vorhanden sein. Ferner müsste jede Schattenwirtschaft unterbunden werden; die Arbeitsscheine dürften nirgendwo anders als in den Güterdepots gegen Güter getauscht werden. Nicht umsonst bemerkt Marx: »Die Arbeitsscheine zirkulieren nicht.« Besser gesagt: Sie dürften es nicht. Zirkulieren könnten sie schon. Soweit sie ein Anrecht auf sämtliche Güter in den Depots darstellten, wären sie auch als Tauschmittel auf dem Schwarzmarkt attraktiv. So könnte ein heimlicher Warenproduzent auf dem Schwarzmarkt verbotene oder anderswie nicht erhältliche Güter verkaufen und dafür eine besonders hohe Summe Arbeitsscheine erhalten. Nehmen wir an, dieser heimliche Warenproduzent wäre eine Drogendealerin. Da in den Güterdepots Drogen vielleicht nicht zu erwerben wären, so könnte diese wenige Drogen gegen große Summen Arbeitszertifikate verkaufen. So hätte sie, den Scheinen nach, eine besonders große und gesellschaftlich notwendige Arbeitsleistung erbracht und könnte sich in den Güterdepots entsprechend bereichern. Vom Konsum her wäre das System noch intakt. Sie würde diejenigen Arbeitsscheine in den Güterdepots eintauschen, die diejenigen Mitglieder der kommunistischen Gesellschaft, die bei ihr Drogen gekauft hätten, nicht mehr eintauschen könnten. Aber seitens der Produktion wäre das System unterhöhlt. Die Arbeitskraft der Drogendealerin wäre aus der gesamtgesellschaftlichen Arbeitskraft herausgefallen. Ferner könnte die Drogendealerin mittels der ihr gehörenden großen Summe von Arbeitsscheinen auf dem Schwarzmarkt Arbeitskräfte und ein Destilliergerät als Produktionsmittel ankaufen, um damit mehr Drogen zu produzieren, die sie wiederum auf dem Schwarzmarkt für Arbeitsscheine verkaufen würde. Die Drogendealerin und ihr Angestellter in ihrem Drogenlabor wären zwei Arbeitskräfte weniger, deren Arbeit die kommunistische Gesellschaft mit Arbeitsscheinen zu entlohnen hätte; die Anzahl der ausgegebenen Arbeitsscheine würde ebenso sinken wie die von der kommunistischen Gesellschaft produzierten Güter. Und je bedeutender die Schwarzmärkte, je größer ihr Warenumfang und je mehr Arbeitskraft sie der Gesellschaft entzögen, umso weniger Arbeitsscheine würden in den Händen der Gesellschaftsmitglieder landen und umso weniger Güter in den Depots. Die Versorgung der Bevölkerung mit legalen Gütern wäre gefährdet.

Um die Zirkulation von Arbeitsscheinen und Waren zu verhindern, die kommunistische Produktionsweise aufrechtzuerhalten und die Konvertibilität der Arbeitsscheine zu sichern, könnte die Gesellschaft zwei verschiedene Vorrichtungen treffen. Die erste wäre, dass ein board, d.h. eine Institution, die proportionale Produktion arrangiert—und zwar voll und ganz. Alle Güter, nach denen es irgendein Bedürfnis gäbe, selbst wenn es Waffen, Drogen oder Tarotkarten wären, müssten in den Güterdepots vorhanden sein. Wenn dem so wäre, hätte der Schwarzmarkt keine ökonomische Funktion. Die alternative Vorrichtung wäre despotischer Natur. Die Schattenwirtschaft und alles eigensinnige ökonomische Handeln könnten polizeilich verhindert werden. Zudem könnten die Arbeitsscheine namentlich gekennzeichnet und in allen Güterdepots die Personalausweise der Einkaufenden kontrolliert werden. Obendrein müsste kontrolliert werden, dass die Angestellten in den Güterdepots diese Ausweise auch wirklich verlangten und sich nicht schmieren ließen. Ein Überwachungsapparat wäre notwendig. Ob dieser notwendig wäre, hinge nicht nur vom guten Willen ab. Gelänge die proportionale Produktion in der kommunistischen Gesellschaft nicht, blieben ja nur despotische, polizeiliche Mittel, um den Schwarzmarkt zu unterbinden und die Arbeitsscheine und die ihnen zugedachten Funktionen halbwegs durchzusetzen.

Kostas Knast-Zigaretten hingegen fungieren als Geldware, wie sie im Buche steht. Als Leitwährung unter Häftlingen existiert sie unabhängig von der Souveränität. Die Arbeitsscheine hingegen wären, sofern sie funktionierten, alles andere als Geldware. Sie wären reines Nominalgeld, ihnen fehlte es an Warencharakter. Und gerade als solches bedürfen sie offenkundig einen außerordentlich funktionstüchtigen, umfangreichen und allgegenwärtigen Planungs- oder Staatsapparat. Das ist die Crux.

Im Realsozialismus waren die Planungs- oder Staatsapparate offenbar zu schwach. Sie konnten die Arbeitsscheine und ihre Voraussetzungen nicht realisieren. Die Apparate scheiterten an der Durchführung der Arbeitszeitrechnung, an der Planung der proportionalen Produktion und daran, die Schwarzmärkte und überhaupt die unkontrollierte Zirkulation der Waren und Zahlungsmittel zu unterbinden. Was sich ergab und durchsetzte im Realsozialismus, waren keine Arbeitsscheine, war auch kein kapitalistisches Geld, sondern eigentümliches sozialistisches Geld. Von diesem Geld handelt mein Text Sterntaler. Wie das Geld sozialistisch wurde in der letzten Ausgabe der Phase 2.

Hannes Giessler Furlan

Der Autor wohnt in Brasilien. Sein Buch »Verein freier Menschen? Idee und Realität kommunistischer Ökonomie« ist 2018 im Verlag zu Klampen erschienen.