Menschen wie Weichtiere

Freud und Adorno lautet ebenso schlicht wie bombastisch der Titel eines neuen Sammelbandes. Doch schon auf den ersten Seiten rutschen die beiden großen Namen in die zweite Reihe und was auf dem Buchdeckel noch ein Untertitel war, wird zur Überschrift der Einleitung und zum eigentlichen Thema: »Zur Urgeschichte der Moderne«. Zur Moderne gehört die Zurückdrängung mythischer Bewusstseinsstufen ebenso wie deren Wiederkehr unter veränderten Vorzeichen. Urgeschichte bedeutet also wesentlich Naturgeschichte und zwar eine, die sich noch immer undurchschaut hinter dem Rücken und über den Köpfen der Menschen abspielt. Als zentraler Konvergenzpunkt von Psychoanalyse und kritischer Gesellschaftstheorie wird hier die Erfahrung dieser »zweiten Natur« bestimmt.

Damit wendet sich der Band gegen die cultural studies mit ihren Konzepten wie »agency« und Debatten um »Anthropozän« und »animal turn«. Aus der »Umstellung der Leitbegrifflichkeit von ›Gesellschaft‹ auf ›Kultur‹« folge ein Kulturverständnis, das weder von Triebkräften noch von ökonomischen Grundlagen weiß, und darum die gewordene und veränderbare zweite Natur mit einer ewigen ersten verwechselt. Dagegen wird nun eine mit Adorno dialektisch-materialistisch gewendete Psychoanalyse als kritische Kulturtheorie vorgestellt. Die nicht immer konsistenten, doch stets korrespondierenden Beiträge, kreisen als Kollektivleistung um zwei Komplexe: Natur und Sprache. Philip Hogh analogisiert Sprachgenese und Subjektwerdung, um Sprache selbst als zweite Natur zu interpretieren, die im gleichen Maße, wie sie die innere Natur der Menschen verändert, an die Leiblichkeit gebunden bleibt. Jene Leiblichkeit, die die poststrukturalistischen Theorien gerne ganz abschaffen würden, wie Alex Gruber am Beispiel von Butler und Derrida nachweist. Wo Natur als intentionsloses Sein nur noch Heideggernde Schriftursprünglichkeit ist wie bei Derrida und der Trieb eine reine Diskursverlängerung wie bei Butler, wird der Mensch genau als das geleugnet, als was ihn der Sammelband überhaupt erst wiederbelebt: als Naturwesen.

Hier schließt der wohl schönste aller Beiträge an, in dem Erik Porath der Schnecke durch die Wissenschaftsgeschichte und damit der Entwicklung der Intelligenz in ihre somatischen Fundamente folgt. Sind ihre Fühler bei Horkheimer/Adorno Emblem geistigen Lebens, dienen sie Freud zur Illustration der Grenze von Reizschutz und Kontaktaufnahme. Das kleine Kriechtier zeigt die Dialektik der Vernunft en miniature: Dummheit erscheint vor allem als Verhärtung und Rückzug, Lernen dagegen als fühlendes Vortasten, Bewegungsdrang, Neugier. Anhand der Meeresschneckenforschung des von der Psychoanalyse zur Neurowissenschaft konvertierten Erik Kandel belegt Porath die Plastizität des Nervensystems bis in die Zellen hinein.

Die Vernunft erstarrt, wenn sie den falschen Teil der archaischen Vermögen beerbt; nur als Mimesis qua Mimikry macht sie die Menschen zu Scheintoten, verdinglicht deren geistige Fähigkeiten zu reflexhaften Reaktionen auf äußere Reize. Die somatischen Impulse weisen dagegen über die bloße Anpassung hinaus – vielleicht so wie die Libido, die es im Gegensatz zu den Selbsterhaltungstrieben mit der Realität nicht so genau nimmt. Christine Kirchhoffs kluger Aufsatz ergänzt den von Adorno übersehenen Aspekt der Lebensnot als einer inneren Bedürftigkeit. Freud denkt rückwärts: analog zum Traum als halluzinatorischer Wunscherfüllung ist auch das Denken Ersatz für den sofortigen Lustgewinn. Dem muss die Suche nach unmittelbarer Erfüllung vorausgehen, die als unzerstörbarer unbewusster Wunsch entscheidend für die Subjektkonstitution bleibt. Der Aufschub der Befriedigung folgt nur aus der Tatsache, dass der Mensch nur mit Hilfe anderer seinen Hunger stillen kann. Dieser äußere Mangel ist nach Adorno gesellschaftlich bestimmt: zweite Natur.

Erst wer das gesellschaftliche Naturverhältnis nicht de-, sondern rekonstruiert, kann notwendige Anpassung von unnötigem Verzicht und irrationaler Versagung unterscheiden. Eine solche Kulturgeschichte der Naturbeherrschung käme nicht als Ursprungserzählung daher, sondern als Deutung von kulturellen Texten und historischen Szenen, wie Birgit Erdle in ihrem Aufsatz zum Mythos bei Freud und Adorno überzeugend nachweist. Die Aufgabe des Enträtselns verstellter Sinnzusammenhänge und die Notwendigkeit, Leiden überhaupt zur Sprache zu bringen, formuliert auch Emil Angern.

Wenn Helmut Dahmer am Ende darauf pocht, dass der Übermacht des Sozialen gegenüber den Einzelnen nur durch einen Vorrang der Gesellschaftstheorie beizukommen sei, wiederholt sich eine Prämisse des Vorworts: das hier anvisierte Projekt einer Naturwissenschaft des Sozialen enthielte als »normativ-politische Komponente« notwendig die »Perspektive praktischer Veränderbarkeit«.

Wer also, mit anderen Worten, marxistisch denkt, muss weder irrational die Vernunft als solche abschaffen, noch den Menschen derart zur Schnecke machen, dass die conditio humana zur Frage des Klimawandels schrumpft. Was dagegen Grundannahmen einer materialistischen Erkenntnistheorie sein könnten, ist nun nachzulesen.

Iris Dankemeyer

Christine Kirchhoff/ Falko Schmieder (Hrsg.): Freud und Adorno. Zur Urgeschichte der Moderne. Kulturverlag Kadmos, Berlin 2014, 181 S., € 19,90.