Menschenfresser

Warum »Doping für alle« keine gute Idee ist, zeigt ein Blick auf die Zustände im Leistungssport

Doping ist im Sport eine verabscheuungswürdige Gemeinheit. Zumindest in diesem Punkt scheint eine wirklich umfassende Einigkeit zu bestehen. Selbst die FürsprecherInnen von alltäglichem Doping für alle – sie nennen es »Neuro-Enhancements« (»von englisch to enhance = aufwerten, mehren« Thorsten Galert u.a., Das optimierte Gehirn, 2; zit. n.: https://www.wissenschaft-online.de/sixcms/media.php/976/Gehirn_und_Geist_Memoranum.pdf.) – sprechen vom »fraglos betrügerischen Doping im Leistungssport«. Vgl. ebd., 11. Das muss erstaunen, übernehmen sie doch im Allgemeinen eine von Peter Sloterdijk 1999 im Vortrag »Regeln für den Menschenpark« entwickelte Haltung: Der Mensch sei nun mal ein kulturelles Wesen, das auch seine eigene Natur zu beherrschen bestrebt sei. Technische Verfahren und Hilfsmittel seien seit eh und je ein entscheidender Bestandteil dieser Selbstproduktion der Menschheit. Was ändert sich also, wenn auf genetischem oder pharmakologischem Weg in das menschliche Leben mit dem Ziel eingegriffen wird, dieses »aufzuwerten«?

Nichts, antworten die »Enhancer«. Denn auch die »Bemühungen, die eigene geistige Leistungsfähigkeit oder das seelische Befinden zu verbessern, werden mit guten Gründen positiv beurteilt. Wer versucht, durch Denksport, Coaching oder Meditation sein psychisches Potenzial auszuschöpfen oder zu erweitern, genießt dafür in der Regel sogar besonderes Ansehen. Auch wer die kleinen Stimmungs- und Leistungsschwankungen des Alltags durch Kaffee, Schokolade, Ginkgo-Präparate oder (maßvollen) Alkoholkonsum positiv zu beeinflussen versucht, handelt damit gewiss nicht unmoralisch.« Vgl. ebd., 2.

Das Enhancement erforschen

Statt also die neuen bzw. – da die Pharmaindustrie noch gar nicht in der Lage ist entsprechende Substanzen mit mehr als einem Placeboeffekt bereitzustellen – zukünftigen technischen Möglichkeiten zu verteufeln, gelte es, sie zu erforschen und zu entwickeln sowie Regeln für ihre Anwendung und ihren Vertrieb zu diskutieren. Das überzeugt auch Lars Quadfasel in der Jungle World. Zwar ist ihm der Posthumanismus des »Enhancement«-Projekts verdächtig, aber wenn er das Argument leicht dreht und bedenkt, was individuelles Leiden vermindert, kommt er zu dem Schluss: »Heute kann das dann eben heißen, Medikamente für AlzheimerpatientInnen oder unruhige Kinder einzunehmen. […] Weil ohnehin kaum jemand sich [der] Anforderung [des alltäglichen kapitalistischen Leistungsdrucks] gewachsen fühlt, gerät jeder nicht kanalisierte Affekt, jede unvorhergesehene Regung zur Störung: Müdigkeit, mangelnde Konzentrationsfähigkeit, Nervosität zeigen nicht mehr an, wie es um meine ureigenen Bedürfnisse steht, sondern wie wenig ich den Ansprüchen um mich herum zu genügen in der Lage bin. Was ›ich‹ will, muss ich daher, und sei es eben pharmakologisch, gegen das durchsetzen, was mich als Ich überhaupt erst konstituiert: meine je individuelle Psyche.« Lars Quadfasel, »No Dope, no Hope«, in: Jungle World 52/2009, zit. n.: http://jungle-world.com/artikel/2009/52/40056.html.

Die »Enhancer« sehen das nicht grundsätzlich anders. Auch sie wollen nur, dass die Menschen mit den an sie gestellten Anforderungen besser zurechtkommen, und darüber hinaus ihren Musikgenuss erhöhen, mitfühlender werden und leichter eine Fremdsprache erlernen können. Sie gestehen dabei ebenfalls zu, dass die Konkurrenz schon weitgehend unerträglich geworden ist und deshalb die »Menschen bereits unter so hohem Leistungsdruck stehen, dass sie Wachmacher oder ›Smart-Drugs‹ ausprobieren, ohne lange über die Risiken nachzudenken.« »Das ist bedenklich«, fahren sie fort, »und niemand kann wollen, dass sich der schon gegenwärtig hohe gesellschaftliche Konkurrenzdruck durch die Verbreitung von Neuro-Enhancement weiter verschärft. Eine durchgängige Ausrichtung des Lebens auf Leistung und Effizienz wäre inhuman und ausgrenzend.« Galert u.a., Das optimierte Gehirn, 7.

Darum also die Verdammung des Dopings im Leistungssport. Leistungssport ist die reine Konkurrenz. In ihm ist die Konkurrenz so rein, dass sie nicht einmal mehr als Fetisch bezeichnet werden kann, denn als Fetisch müsste sie etwas anderes verdecken. Aber im Leistungssport verdeckt der Konkurrenzkampf nichts, sondern er wird als allein gültiges Prinzip angebetet. Deshalb gibt es im Sport ab einer bestimmten Stufe des Leistungsniveaus auch gar nicht mehr die Möglichkeit, ohne Doping mitzumachen. Denn anders als im Bereich des »Neuro-Enhancements«, das aus diesem Grund allein tatsächlich kein Hirn-Doping ist, gibt es auf der Ebene der körperlichen Leistungsfähigkeit tatsächlich hochwirksame Mittel und Techniken zur Steigerung des individuellen Könnens. Sind diese Mittel und Techniken in einer sportlichen Konkurrenz präsent, heißt es sie anwenden oder ausscheiden.

Sport und Konkurrenz

Doch selbst diese Alternative ist im Bereich des Leistungssports keine Beschreibung echter Möglichkeiten. Um in der Konkurrenz überhaupt bestehen zu können, ist ein jahrelanges Training von einer solchen Intensität notwendig, dass es kein Leben neben dem Sport mehr geben kann. Wer aber sein Leben so vollständig auf das Bestehen im Wettbewerb ausgerichtet hat, wird kaum das Aufgeben dieser Ausrichtung als gleichwertige Option begreifen. All die Quälereien der unzähligen Trainingseinheiten zuvor werden beim Ausstieg aus der Konkurrenz plötzlich sinnlos. Denn Leistungssport ist kein Selbstzweck, er ist keine Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper zur Entwicklung von dessen Potenzialen, die als Erfahrung für sich selbst stehen könnte. Die Auseinandersetzung mit dem Selbst und dessen Zurichtung stehen im Gegenteil immer unter dem Zwang der Konkurrenz. Sie sind Mittel und nicht selbstständiger Zweck.

Dass die zutreffenden Argumente einer Selbstschädigung in einer solchen Situation wirkungslos bleiben müssen, hängt mit der Unterordnung des Selbst unter die Konkurrenz zusammen. Bereits das notwendige Training ohne Doping lässt die Körper ihre Grenzen soweit überschreiten, das Unfälle und irreversible Schäden auftreten. Ob mit oder ohne Doping ist der Leistungssport ein Balanceakt, den Körper athletisch herzurichten, ohne ihn soweit zu zerstören, dass er nicht mehr im Wettbewerb zu funktionieren vermag.

Wie weit die Zerstörung des Körpers für die Konkurrenz gehen könnte, machte Helmut Digel, Mitglied des höchsten Organs des Dachverbands der nationalen Leichtathletikverbände IAAF, deutlich. Er fragte, was denn wäre, »wenn gesunde Sportler sich von beiden Beinen trennen würden«, Zit. n. www.faz.net. um mit der Hilfe von Prothesen Höchstleistungen zu erzielen. Hintergrund dieser Überlegung war die Rücknahme des Ausschlusses des Südafrikaners Oscar Pistorius von den Olympischen Spielen 2008 in Peking. Pistorius konnte dann in Peking zwar doch nicht antreten, weil er die Qualifikationsnormen verfehlte. Aber sein Vordringen in den Bereich der athletischen Leistungsspitze verschob die Diskussion um Hilfsmittel bei sportlichen Leistungen über das Feld der klassischen Dopingpräparate und -methoden auf die unmittelbare »Verbesserung« der Körper.

Wie groß die Angst der Sportverbände ist, hier ein Tor in die von Digel heraufbeschworene Zukunft aufzustoßen, zeigt sich derzeit vor allem im konsequenten Ausschluss des Behindertensports von den »normalen« Wettbewerben. Jede Form von Prothese gilt als unerlaubtes Hilfsmittel, selbst wenn sie sich eindeutig leistungserschwerend auswirkt und außer Pistorius ist kein Fall bekannt, indem die Konkurrenz durch ihre Zulassung auch nur berührt werden könnte.

Die aus der Dopingdiskussion bekannte Sorge um die »Reinheit« des Sports wird in diesen Fällen schon präventiv in Stellung gebracht. Der Ausdruck »Reinheit« verweist dabei auf zweierlei. Zum einen auf die Normalitätsvorstellungen, die im Leistungssport als Grundlage der Konkurrenz durchgesetzt werden. Zum anderen aber auch auf die allgemeinen Bedingungen der Konkurrenz, die von den Sportverbänden festgelegt werden. Hier wird entschieden, was in der Konkurrenz zulässige und was unzulässige Methoden und Mittel sind. Allerdings zeigt die Entwicklung des Dopings, dass die Festlegungen der Sportverbände mit der Realität oft nicht Schritt halten können. Mit anderen Worten, die Konkurrenz erzwingt die Ausnutzung aller Möglichkeiten zur Leistungssteigerung. Einmal angewandt ist deren Verbot aber nur schwer zu bewerkstelligen, ging ein Verzicht auf wirksame Mittel und Methoden doch unweigerlich mit einem Leistungsabfall einher.

Ein solcher Leistungsabfall ist für die individuellen Teilnehmenden an der Konkurrenz eine Bedrohung. Für sie steht die weitere Beteiligung am Leistungssport damit auf dem Spiel. Er widerspricht aber auch der Logik der Konkurrenz, die auf ewigen Fortschritt, also auf immer neue Rekorde ausgerichtet ist. Die Konsequenz dieser Situation ist, dass der gesamte Druck auf den SportlerInnen liegt. Sie sollen die Konkurrenz immer weiter vorantreiben und gleichzeitig den »moralischen« Ansprüchen der Regelwerke genügen. Ein Dilemma, aus dem es individuell keinen Ausweg geben kann, weshalb bezüglich »Dopings« Selbstbetrug und die Suche nach verfeinerten Methoden der unauffälligen Anwendung Hand in Hand gehen.

Nun ließe sich die Dopingdiskussion eigentlich wie die Jagd nach Rekorden bequem vom heimischen Sofa aus im Fernsehen verfolgen. Doch nicht erst der Vorschlag zur Freigabe des »Neuro-Enhancements« macht deutlich, dass die sportliche Konkurrenz keine Angelegenheit von ein paar Freaks bleibt. Längst sind LeistungssportlerInnen neben KünstlerInnen zu den Modellen der allgemeinen Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt geworden.

Kunst, Sport, Arbeit

Wie an KünstlerInnen wird auch an SportlerInnen geschätzt, dass sie sich vollkommen mit ihrem Tun identifizieren. So sehr, dass sie als Beispiele der Selbstmotivation und Selbstüberwindung gelten. Bei SportlerInnen kommt die vollständige Ausrichtung auf die Konkurrenz hinzu, die über jeden Zweifel erhaben ist: Bis zuletzt gegen sich selbst und jede Vernunft alles zu geben um die oder der Beste zu sein, gibt tatsächlich auch das Idealbild in der kapitalistischen Arbeitswelt wieder. Und mehr noch als der Sport präsentiert sich die Teilnahme an der kapitalistischen Arbeit als vollkommen alternativlos.

Bezüglich der Zurichtung und Zerstörung der Körper mit dem Ziel, in der kapitalistischen Konkurrenz bestehen zu können, heißt das, dass sich die Verhältnisse des Sports hier mindestens genauso brutal reproduzieren werden, wenn erst einmal wirksame Methoden oder Präparate gefunden wurden. So wie die Einzelnen schon heute gezwungen werden, an der Konkurrenz teilzunehmen, werden sie dann ihre Körper auf die allgemeine Konkurrenzfähigkeit trimmen müssen. Moralische Appelle werden dann genauso wenig nützen, wie heute im Sport.

Die frommen Wünsche der Zukunft werden heute schon von den »Enhancern« vorformuliert: »Solange sich pharmazeutisches NE [= Neuro-Enhancement; offensichtlich ist die fremdsprachige Beschönigung noch nicht genug verschleiernd] nicht als physisch wie psychisch unbedenkliche Handlungsoption ausweisen lässt, müssen Enhancement-Unwillige davor geschützt werden, wegen dieser Verweigerung ins soziale Hintertreffen zu geraten.« Galert u.a., Das optimierte Gehirn, 11.

Wissend oder zumindest ahnend, dass eine solche Forderung der Realität nicht standhalten wird, machen die »Enhancer« aus den düsteren Prognosen ihr finales Argument für die völlige Freigabe des Dopings außerhalb des Sports. Aus der Ecke des Ominösen und Illegalen geholt, könnten erst die Verbesserungen der Mittel in Wirksamkeit und Nebenwirkungsarmut beginnen. Legalisiert könnten ÄrztInnen die Vergabe kontrollieren und wissenschaftliche Untersuchungen die Ausbalancierung von Leistungssteigerung und geistiger und körperlicher Zerstörung gewährleisten. Schließlich könnten die Mittel einen vernünftigen Preis bekommen und durch staatliche Subventionierung das Riesengeschäft der Zukunft für die pharmazeutische Industrie werden. Da sich die Sache nicht aufhalten lässt, lautet mit anderen Worten der zynische Schluss, läge es doch nahe sich ihr vollkommen zu verschreiben. Weil es aber nicht um Verbesserung, Vermehrung oder Aufwertung der individuellen Fähigkeiten geht, sondern um die Zurichtung und Unterordnung unter die Imperative der Konkurrenz, sollten sich die Betroffenen von solchen Angeboten nicht verführen lassen, sondern wehren, wo immer und solange sie es noch können.

~Von M. Büchse. Der Autor ist Mitglied der Phase 2 Redaktion Berlin.