Mythos komplexe Welt

QAnon und der gegenwärtige Stand der Aufklärung

Bis heute lautet eine der geläufigsten Erklärungen für den Fortbestand des religiösen Bewusstseins ungefähr so: Religion sei in einer aufgeklärten modernen Gesellschaft etwas Rückständiges. Sie biete aber eine einfache und umfassende Deutung des Ganzen und deshalb wendeten sich die Menschen ihr zu, wenn es unübersichtlich und chaotisch zugeht. Religion verspreche etwas von einer verlorenen Sicherheit, Halt und Gewissheit, damit letztendlich Trost und Zuversicht, wo die Welt aus den Fugen geraten scheint. Kurzum: religiöses Bewusstsein sei ein Krisenprodukt. 

Unsere Gegenwart wird mittlerweile häufig als Krisenzustand beschrieben. Demnach sind alle Gewissheiten oder gesellschaftlichen Institutionen in irgendeinem Zerfalls- und Auflösungsprozess begriffen. Mehr noch, die Krisenhaftigkeit gehört gewissermaßen zum Wesen der Gesellschaft selbst, wie der Modernisierungstheoretiker Ulrich Beck konstatierte. Modernisierung bedeutet ihm zufolge zwar, es geht schon irgendwie freier zu, aber auf Kosten aller Sicherheiten. Schließlich gebe es kein gesichertes Weltverständnis mehr und daher sei, wie Beck kurz vor seinem Tod orakelte, die einzig universelle Gewissheit, dass die Welt nicht mehr zu verstehen ist. Von solch einer Vorstellung ausgehend, lässt sich über die Krisenzustände der Gegenwart dann tatsächlich wenig mehr sagen, als es Armin Nassehi mit seiner Welterklärungsformel regelmäßig tut: »Es ist komplex«. 

Dieser Logik zufolge stünde am Ende einer solchen Erzählung das globale Comeback der Religion, eine Art kosmopolitische Sekte. Zwar hat der planetare Ausnahmezustand, der von den Erschütterungen der Finanz- und Wirtschaftskrise über den Niedergang liberaler Demokratien bis hin zur globalen Pandemie und drohenden Klimakatastrophe reicht, kein Revival der Religion gebracht, aber das regressive Potential dieser Zustände liegt offen auf der Hand. Viele Gewissheiten stehen auf dem Spiel oder haben sich bereits überlebt, was nicht selten als reale Bedrohung erfahren wird. Diese Überforderung äußert sich jüngst in einem reaktionären backlash, aber nur wenig davon spielt offenbar der Religion in die Hände. Eher erleben völkisch-nationalistische Parteien eine Renaissance, mit dem Versprechen, die finstere Elite der Globalist:innen abzustrafen. Institutionen wie die katholische Kirche hingegen verzeichnen keinen nennenswerten Zulauf. 

Es scheint daher naheliegend, dass eine solche Orientierungs- und Erklärungsfunktion in der überkomplexen Realität an anderer Stelle erbracht wird. Sie lässt sich etwa in der Hochkonjunktur von Verschwörungsmythen ausmachen, allem voran der mittlerweile transnationalen QAnon-Bewegung. Dazu passt, dass jenes Verschwörungsdenken deutliche Anleihen bei religiösen Erzählungen nimmt: Der Glaube an den Great Reset oder die New World Order sind apokalyptische Fantasien, denen die Heilsgeschichten vom Erlöser Trump, dem Storm oder Great Awakening, die Rache gegen die geheimen Eliten des Deep State und kinderbluttrinkenden Dämonen als eine Art jüngstes Gericht entgegengesetzt werden. QAnon ist aber keine Quasireligion und lässt sich auch nicht einfach als zeitgenössische Wiederkehr des Religiösen begreifen. Aber welche Rolle spielen diese Anleihen an der Religion dann? 

Verschwörungsdenken wie bei QAnon bedient sich nicht religiöser Motive, um deren Funktion einer eindeutigen Welterklärung mit Sicherheit und Trost zu beerben, sondern um eine zutiefst antiliberale und zerstörungsfanatische Agitation zu verharmlosen und politisch anschlussfähig zu machen. Das funktioniert dort, wo religiöses Bewusstsein als bloßer Rückschritt rationalisiert wird, weil es hinter die aufgeklärte Gewissheit einer überkomplexen und zu komplizierten Welt zurückfällt. Schaut man aber genauer auf Bewegungen wie QAnon, so läuft genau diese Rationalisierung fehl. Es ist nicht die einfache Formel, die die Verheißung und den Massenerfolg dieser Erzählungen ausmacht, sondern deren zerstörerische und gewaltvolle Fantasie, in der das Religiöse nur ein Mittel zum nihilistischen Zweck darstellt.

Q

QAnon stellt nur die neueste Spielart altbewährter Narrative dar, die religiöse Momente politisch aufladen und so Einfluss in der US-amerikanischen Gesellschaft entwickeln. Die Erzählungen, derer sich QAnon bedient – die Verführung der Kinder, die weltumspannende (meist satanische) Kabale, deren Einfluss bis in die obersten Riegen Washingtons reicht, und ihre religiös aufgeladenen Momente –, waren von den antikatholischen Know-Nothings der 1850er Jahre über den ersten und zweiten Ku-Klux-Klan bis heute in den USA präsent. Zuletzt war es die Satanic Panic in den 1980er und 1990er Jahren, die auf diese Weise politisch wirksam wurde. 

Auch QAnon speist sich aus solchen halbgaren, antisemitischen Vorstellungen von Kinderschändern, der bluttrinkenden Eliten, der Impflobby (sprich: Brunnenvergifter) und politisch einflussreichen Eliten. Dennoch spricht aus QAnon die politische Gegenwart. Das Phänomen ist so etwas wie der religiös anmutende Flügel der Trump-Bewegung, die sich aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Widersprüchen nährt, wie etwa der zunehmenden Polarisierung von Nachrichtenformaten, dem gleichzeitigen Aussterben lokaler Nachrichten, das zu einer zunehmend un- und missinformierten amerikanischen Öffentlichkeit führte. Solch gesellschaftliche Zusammenhänge sind der Nährboden für populistische und antiaufklärerische Narrative. Mehr noch als eine eigenständige Bewegung, erfüllt QAnon darin die Funktion eines gesellschaftlichen Werkzeugs. Die religiös aufgeladene Erzählung schaffte es, diejenigen christlichen Evangelikalen und anderen rechten Wähler:innen, die Trumps Politik zwar gut fanden, ihn aber moralisch zunächst für unwählbar hielten, von seiner Wählbarkeit zu überzeugen. QAnon ist also weniger eine feststehende Erklärungsideologie als die lose Verbindung unterschiedlichster Motive mit dem Nimbus eines wahren Glaubens, einem Erlöser und der Aussicht auf Versöhnung. Es ist das religiöse Scharnier, um verschiedene reaktionäre Milieus hinter der gleichen rechtspopulistischen Bewegung zu versammeln. 

Ähnlich populistischer Narrative, ist QAnon keine gefestigte und eindeutige Welterklärung, sondern vor allem politische Methode und flexibel auf individuelle Weltanschauungen übertragbar. In QAnon kulminiert eine Vielzahl von alteingesessenen Verschwörungsmythen und menschenverachtenden Ideen, die nur durch eine vage Opposition zu »denen da oben« zusammengehalten werden. Aus teils wahnwitzigen, teils realitätsverzerrenden, teils an wirklichen sozialen Widersprüchen kratzenden Behauptungen, können Anhänger:innen dasjenige Stück des QAnon-Katalogs wählen, das am besten zur individuellen Situation passt, ohne im Widerspruch mit sich selbst oder anderen zu stehen. Daraus ergibt sich eine Art modulares Scharnier für die menschenverachtende, antiaufklärerische Ideologie des aktuellen Trumpismus. 

Diese Ideologie weigert sich nicht gegen die komplexe Realität, sondern ist deren direkte Konsequenz. Sie nimmt die aktive Zerstörung jener Verhältnisse zum Ziel, denen die Einsicht in die Überkomplexität als höchste Stufe der Erkenntnis gilt. Dass es bei QAnon entsprechend nicht um Einfachheit oder Kohärenz geht, wird an der Entstehungsgeschichte umso deutlicher. Oft wird der sogenannte Pizzagate-Skandal zum Ende des Präsidentschaftswahlkampfs zwischen Hillary Clinton und Donald Trump als Qs Gründungsmythos beschrieben. Nachdem Wikileaks im November 2016 Tausende von E-Mails aus Clintons Wahlkampfbüro veröffentlicht hatte, stürzten sich Journalist:innen darauf, um Clinton kurz vor der Wahlnacht zu kompromittieren. Ein Eintrag beim Online-Forum 4chan berichtete daraufhin von Mustern, die in den E-Mails erkennbar seien und auf ein Kinderschänder-Netzwerk um Clinton hinweisen würden. Dieser nur halb ernst gemeinte Troll-Post wurde kurzerhand durch prominente rechte Verschwörungsideologen wie Mike Cernovich und Alex Jones als Wahrheit angepriesen. Cernovich behauptete auf seinem Blog Danger & Play, der E-Mail-Leak beweise, dass Clintons innerer Zirkel Menschenhandel von Kindern und einen Sex-Kult betreibe. Die Pizzeria Comet Ping Pong geriet in den Fokus, weil die Kampagne dort nicht nur Essen bestellte, sondern auch Fundraising-Events veranstaltete. Sogleich wurde sie zum Hauptquartier des Kinderhandels erklärt, »Pizza« und »Pasta« zu Codewörtern für »Mädchen« und »kleine Jungen« umgedichtet. Die Geschichte führte im Dezember 2016 zum Pizzagate, als ein Mann mit einer Maschinenpistole die Pizzeria stürmte, um die herbeifantasierten Kinder aus den Fängen des Clinton-Sexrings zu befreien. 

Die wahnsinnigen Theorien, die zum Pizzagate führten, bildeten das Fundament für das, was wir heute als QAnon erleben. Q selbst tauchte zum ersten Mal im Oktober 2017 im berüchtigten /pol/-board des Webforums 4Chan auf: Der User, der später als Q Clearance Patriot bekannt wurde, schrieb in einem kryptischen Post, dass Hillary Clinton unmittelbar vor ihrer Verhaftung stehe und es bald »massive riots« geben werde. Er sei, klärte er später auf, ein Washington-Insider mit exklusivem Zugang zu geheimen Informationen der höchsten Sicherheitsstufe – der sogenannten Q-Level Security Clearance. Q behauptete, Unterlagen gesammelt zu haben, die beweisen, dass es eine pädophile, satanistische Weltverschwörung gäbe. 

Mehr als dieser Gründungsmythos selbst lässt sich jedoch als ideologisches Grundgerüst der QAnon-Bewegung kaum ausmachen. Aus hunderten weiterer Posts (den Q-Drops) spannen seine Anhänger:innen kontinuierlich vage Interpretationen zu ineinander verflochtenen Narrativen. Im Netz der Q-Erzählung finden sich verschiedenste schwer begreifliche Ideen, die sich aus individuellen Exegesen der Q-Drops herleiten, die aber weder inhaltliche Konsistenz, geschweige denn eine einfache Erklärung bieten. Im Gegenteil, sie sind Ausdruck einer wahnhaften Komplexität: Neben der Kabale der satananbetenden Pädophilen und dem Deep State, erzählen unterschiedliche Interpretationen von der Massenverhaftung oder wahlweise, nach Grad der Menschenverachtung, der Massenhinrichtung der gesamten Washingtoner Elite. Sie erzählen von der großen Epiphany, in der alle noch nicht Wissenden endlich Qs Ideen als Wahrheit erkennen würden. Manche glauben an die Zahl 17 als heilige Q-Zahl oder dass Trump nicht nur politischer Heilsbringer, sondern der wortwörtliche Heiland sei und wahlweise in der Tradition des persischen Königs Kyrus II. oder in Davids Namen als König von Juda die Menschheit ins Himmelreich führe. Manche glauben daran, dass die COVID-Impfung ein Plot der Eliten sei, um weitere Kontrolle über die Bevölkerung auszuüben, andere wiederum, dass Trump höchstpersönlich für die Herstellung des Impfstoffs verantwortlich sei. Weit verbreitet war die Überzeugung, dass Trump in jedem Fall die Wahl 2020 gewinnen würde. Als das nicht geschah, war dies wiederum Teil des Plans. All diese Erzählungen ergeben im Q-Universum Sinn, denn Q ist ausufernd und tief, mit Schicht um Schicht kontextueller Erklärungen, Akronymen, Personengeflechten, die für sich keinen Sinn ergeben wollen. Die einzig falsche Exegese ist die Rationalisierung der Erzählung, gegen die sich das ganze Projekt richtet. 

Diese Kampfansage an die Rationalität wird regelmäßig fehlgedeutet. Zumindest aus liberaler Perspektive wird die mythische Welterklärung QAnons wie eine wahnhafte Form religiösen Bewusstseins behandelt und auf ihre vermeintliche Funktion als einfache Welterklärung reduziert. Das folgt dem Muster, dass wer die komplexe und komplizierte Welt als letztgültigen Horizont anerkennt, solche irrationalen Weltsichten nur als verrückt abwehren kann. Der Wahn hat darin keine andere Bedeutung als eine Art Weigerung gegen die Realität, der überforderten Kleingeistern eine einfache Erklärung liefere, um sich auf der Gewinnerseite eines globalen Kampfes zwischen Gut und Böse sehen zu können. Das Verschwörungsdenken nimmt schlicht die Rolle ein, die in einem aufgeklärten Setting die Religion hatte: eine einfache Erklärung einer komplexen Welt.  

Viel mehr als die Unwahrheit dieser Erzählungen steht daher deren Einfachheit im Fokus der Kritik. Demnach würden sie komplexe Fragen auf einfache Antworten verkürzen. Dem stünde oft ein instrumenteller Einsatz zur Seite, etwa wenn Agitator:innen – oder wie man heute sagt Populist:innen – sich dieser bemächtigten. Auch für eine linke Position ergibt sich daraus das Problem, dass dem regressiven Wahn scheinbar nicht viel mehr entgegenzuhalten ist, als dass es eben eigentlich viel komplizierter sei. Problematisch ist das nicht nur, weil es eine klare Haltung gegen den Wahnsinn untergräbt, sondern weil darüber verkannt wird, was die Funktion von Verschwörungsmythen ist.

»Es ist nicht einfach«

Wenn heute Verschwörungserzählungen und Populismus damit gekontert werden, sie würden nur einfache Antworten auf komplexe Probleme liefern, liegt dem das Missverständnis zugrunde, Einfachheit würde immer gleich Mythos bedeuten. Aus der berechtigten Abgrenzung gegen verkürzte (Kapitalismus-)Kritiken, schlechte Abstraktionen oder bloße Fehlschlüsse wurde eine Apologie der Überkomplexität. Das betrifft nicht etwa nur jene Karikaturen eines postmodernen Relativismus. Bewegungsmarxist:innen bauen ihre Hegemonietheorie schon lange auf die Unergründbarkeit des Sozialen, ideologiekritische Theorielinke hingegen ziehen sich allzu gern auf eine Dialektik zurück, die in den meisten Fällen kaum etwas anderes bedeutet, als dass widersprüchliche Realität nun einmal widersprüchliches Denken brauche. Einig kann man sich darin sein, wie es eine linksradikale Stickerkampagne auf den Punkt bringt: »Es ist nicht einfach. Vereinfachte Welterklärungen sind Teil des Problems, nicht der Lösung. Für eine radikale Kritik der Verhältnisse«. Radikale Kritik kann nicht einfach sein – hinter diesen Stand des Bewusstseins fallen die Vereinfacher:innen zurück und sind damit so rückständig wie einst das religiöse Bewusstsein gegenüber den Errungenschaften liberaler Befreiung vom autoritären Dogma. 

Entgegen diesem vermeintlich radikalen Selbstverständnis ist aber die unhinterfragte Annahme einer überkomplexen Welt eine tendenziell bürgerliche Perspektive, in dem Sinn, dass sie idealistisch bleibt. Idealistisch meint, wie Max Horkheimer einmal anmerkte, die Vorstellung, dass die Welt irgendwie identisch wäre mit dem Bewusstsein, das wir von ihr haben. Liberale gehen etwa davon aus, Freiheit und Gleichheit seien allein deshalb schon realisiert, weil man in der Lage ist, in solchen Begriffen zu denken. Aber es ist eben auch idealistisch, die Welt als überkomplex und überkompliziert anzunehmen, nur weil das Bewusstsein mit einer rationalen Bestimmung der Verhältnisse überfordert ist. Oder anders gesagt: Die materialistische Frage bleibt darin unbeantwortet, nämlich welche gesellschaftlichen Verhältnisse eigentlich ein Denken hervorbringen, das die Welt nicht mehr versteht. 

Zumindest eine linke, sagen wir revolutionäre, Position der Aufklärung hatte diese Frage vor Augen und die rationale Durchdringung der Verhältnisse zum Ziel. Wenn Marx irgendetwas geleistet hat, dann doch, dass er die historische Spezifik der kapitalistischen Moderne adäquat als jenen Moment begriffen hat, in dem, wie es im Kommunistischen Manifest heißt, »die Menschen […] endlich gezwungen [sind], ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen zu betrachten«. Erst als alle Verhältnisse so grundlegend umgewälzt wurden, wie es nun mal im Zuge von Aufklärung und Industrialisierung passierte, wurde überhaupt erkennbar, was für einen Zusammenhang sie bilden. Anders gesagt: Nur wo die Verhältnisse rational durchsichtig sind, kann vernünftiger Weise ihre Veränderung gefordert werden. 

Marx’ Kritik an der Religion hatte nur diesen einen Sinn: Religion ist es, die die Erkenntnis der wirklichen Bewegung der Gesellschaft verschleierte. Der Rückfall in ein religiöses Bewusstsein war daher viel mehr als nur die konkrete Illusion, sondern die Abkehr von dem Vermögen, die Dinge so zu begreifen, wie sie sind, und sie in der Folge zu verändern. Jeder Mythos, so Marx in den Feuerbachthesen, findet daher seine rationale Auflösung in der menschlichen Praxis, was bedeutet, dass es in der menschlichen Gesellschaft kein Faktum mehr gibt, das nicht durch sie selbst verständlich gemacht werden kann. Kein Gott, kein Staat, kein Kapital. 

Eine Linke hat heute nur noch einen vagen Begriff von solcher Demystifizierung, wenn sie gegen die offensichtlichen Mythen ihrer Zeit nur in Anschlag bringen kann, dass man nichts so einfach erklären könnte, wie es Verschwörungstheorien beanspruchen. Gegen diesen (mindestens politisch unbefriedigenden) Zustand findet sich daher immer wieder der Versuch, zu einer einfachen Erklärung zurückzukehren. Etwa wenn Marx wieder als eine Autorität angeführt wird, da er ja eine Erklärung anbiete, die gesellschaftliche Verhältnisse auf den Punkt bringt, und das relativ einfach, aber komplex genug. It‘s capitalism, stupid. So gibt etwa das Jacobin-Magazin politische Aufklärungsfibeln zu Kapitalismus und Sozialismus heraus, in denen man auf wenigen Seiten alles erfahren soll, was man für die politische Praxis wissen muss. Aber weder dieser Glaube an die autoritative Deutung, dass Marx einfach Recht hatte, noch der Glaube an die Unergründbarkeit der Welt sind in der Lage, eine Analyse der wirklichen Bewegung der Gesellschaft anzustellen. Dies wäre aber der einzige Einspruch gegen die falschen Vereinfachungen, der nicht selbst mythische Überzeugung ist. Aus der Verlegenheit heraus wird die eigene Falschheit zu gern auf das religiöse Bewusstsein und, analog dazu, das Verschwörungsdenken projiziert. Die uneingestandene Gemeinsamkeit ist der Punkt, an dem das gegenwärtige Verschwörungsdenken seine destruktive Anziehungskraft entfaltet und sich zugleich als bloß defensive Reaktion auf die Überforderung einer zu komplex gewordenen Realität verharmlosen lässt.

Instrumentelle Religiösität

Das religiöse Bewusstsein ist ein Platzhalter für einen solchen Rückfall hinter das rationale Bewusstsein, weil es tatsächlich eine, wenn auch falsche, Rückbesinnung auf etwas ausdrückt, was in der Entzauberung der aufgeklärten Welt nicht aufgehoben war. Sigmund Freud hatte im Unbehagen der Kultur darauf hingewiesen, dass die moderne Kulturentwicklung notwendigerweise mit einem Ambivalenzkonflikt verbunden sei. Er nannte es den Widerspruch zwischen Eros und Destruktionstrieb und meinte damit den Umstand, dass individuelle Freiheit in der Gesellschaft nur auf Kosten von Triebunterdrückung zu haben ist. Das Scheitern an der eigenen Freiheit wird dabei als Schuldgefühl verarbeitet, was dazu führt, »daß der Preis für den Kulturfortschritt in der Glückseinbuße durch die Erhöhung des Schuldgefühls bezahlt wird«. 

In einer Gesellschaft, die tendenziell freie Individuen in Abhängigkeit hält (als Lohnabhängige), bekommt dieser Zusammenhang systemischen Charakter. Schuld meint dabei nicht nur das Scheitern daran, seines eigenen Glückes Schmied zu sein. Sondern auch die Reaktion auf den objektiven Umstand, dass Menschen als geknechtete Wesen leben, obwohl es die erkennbare Möglichkeit gibt, eine freie und gleiche Gesellschaft für alle zu ermöglichen. Trotzdem sterben Menschen an den EU-Außengrenzen, versinkt die halbe Welt im Elend, um den relativen Wohlstand des globalen Nordens zu gewährleisten und man begegnet der Obdachlosigkeit vor der eigenen Haustür. Es gibt einen menschengemachten Zusammenhang zur individuellen Existenz, der in der kapitalistischen Moderne zumeist durch Schuldabwehr verdrängt werden muss. Im Gegensatz dazu ist es gerade die Religion, die eine bewusste Bearbeitung der Schuld anbietet. Für Freud war klar, dass »die Religionen wenigstens […] die Rolle des Schuldgefühls in der Kultur nie verkannt [haben]«. Jesus starb für unsere Sünden. 

Erkennt man an, dass in der Religion etwas aufgehoben ist, für das die aufgeklärte Welt nur Verdrängungsmechanismen bereithält, erscheint sie beinahe wie das harmlose Pendant der destruktiven Schuldabwehr im Antisemitismus, wie eine Notwehrreaktion auf die Zumutungen einer menschenfeindlichen Moderne. Das religiöse Bewusstsein hat etwas Unschuldiges. Und darin liegt selbst eine entlastende Funktion, denn man könnte nun im Umkehrschluss annehmen, auch Phänomene wie QAnon seien so etwas wie ein drastischerer Reflex auf die enttäuschten Versprechungen einer liberalen Gesellschaft oder eben auf die Überforderung einer zu komplexen Welt. Diese Unschuldigkeit ist es, auf die der Einsatz religiöser Momente im Verschwörungsdenken abzielt. Und zwar als instrumenteller Einsatz. 

Schaut man sich die Verschwörungserzählungen von QAnon genauer an, so wird klar, dass diese Religiosität nicht für Welterklärung oder Komplexitätsreduktion nutzen, und es auch nicht um Entlastung oder eine Rückkehr zur Unschuld geht. Religion ist darin nur eine Anspielung, eine fast beliebige Verklammerung destruktiver und regressiver Elemente. QAnon nutzt das Missverständnis, die Leute würden sich aus Angst und Deprivation von den Versprechen der Aufklärung abwenden und wieder im Religiösen ihr Heil suchen. Dieses Missverständnis deutet Bewegungen wie QAnon einfach als reaktionär und verkennt dabei das zutiefst antiliberale und zerstörungsfanatische Projekt, dem religiöse Anspielungen als Anknüpfungspunkt und Selbstverharmlosung dienen.

Zerstörung der Vernunft

Das genau ist der Zusammenhang, der sich im scheinbar wirren QAnon-Universum zeigt: Es lässt sich nicht rational fassen und in einen Bezugsrahmen interessengeleiteter Politik oder vernünftigen Austauschs integrieren. Das ist aber kein Defizit, Rückfall oder eben bloß wahnsinnige Projektion eines Wunsches nach Klarheit und Einfachheit. Es ist eine Kampfansage gegen die Rationalität selbst und mit ihr gegen den Liberalismus. Die Leute gehen nicht einfach aus falschem Bewusstsein der Verheißung auf den Leim, hinter der abstrakten Herrschaft des Kapitals stünde die konkrete Herrschaft der Eliten und ihres Deep State. Die Anziehungskraft und das politische Kalkül bestehen vielmehr in der Aussicht auf eine überlegenere Machtposition. Darin fällt der Liberalismus auf QAnon herein, wenn er glaubt, es würde nur um diese falschen Konkretionen gehen. QAnons Wahnsinn und in sich widersprechende Behauptungen absoluter Wahrheiten zwingen liberale (also bürgerliche) Positionen zur defensiven Beteuerung, dass es niemals Monopolkapitalismus, elitäre Netzwerke, Korruption, Ungleichheit geben könne und diese Unmöglichkeit allein die Verschwörungstheorie widerlege. Kurzum, solche Positionen führen zur Leerformel einer komplexen Welt, in der jeder Versuch einer Erklärung der Gesellschaft – sei er wahnsinnig oder rational – schon Verblendung bedeute. Der Widerspruch zwischen der gesellschaftlichen Realität und dieser idealistischen Vorstellung verschärft sich dadurch zusehends und je schärfer er wird, desto größer ist die Angriffsfläche und das Mobilisierungspotential jener autoritären und faschistoiden Kräfte. 

Dass dieser Angriff irrational ist, ist kein Beleg für seine vermeintliche Rückständigkeit. Vernunft ist seit jeher die Begründung und Rechtfertigung liberaler Herrschaft. Es ist also kein Zufall, dass die Mobilisierung gegen eine aufgeklärte, liberale Gesellschaft an deren Zerstörung ansetzt, dass Desinformationen und Fake News mit direkten Angriffen auf liberale Freiheitsrechte einhergehen. Diese Bewegungen als Rückfall hinter die vernünftige Einsicht einer komplexen Welt zu deuten, so als wäre es ein quasireligiöser Rest, verkennt den Zusammenhang mit dem weitverbreiteten Relativismus, dass wirklich vernünftig nur die Einsicht in die Unergründbarkeit der Welt sei. Solcher Idealismus teilt mehr mit einem religiösen Bewusstsein als mit jenem aufklärerischen Impuls, der aus der Kritik der Religion entstand. Und je mehr sich ein aufgeklärtes Bewusstsein dem Mythos der komplexen Welt angleicht, desto mehr werden Bewegungen wie QAnon nicht nur religiöse Motive, sondern auch den Nimbus radikaler Aufklärung und die Verpflichtung zur Wahrheit für sich beanspruchen.  

Wie es Theodor W. Adorno in Theorie der Halbbildung anmerkte: »in vieler Hinsicht ist die Gesellschaft […] durchsichtiger als je zuvor. […] Objektiv produziert ist vielmehr die subjektive Beschaffenheit, welche die objektiv mögliche Einsicht unmöglich macht.« So komplex, ausdifferenziert, vernetzt, hybrid die Verhältnisse auch sein mögen, es sind soziale Verhältnisse, die sich als solche erkennen lassen. Das eigentlich Erklärungsbedürftige ist vielmehr der Stand des Bewusstseins, diese einfache Tatsache nicht mehr zu begreifen. 

Erwin Fraenkel / Alex Struwe 

Die Autoren sind Redakteure der Phase 2 und verstehen die Welt nicht mehr.