Nach den Antideutschen

Über die Vergänglichkeit des Gebrauchswerts der Geschichte für eine emanzipatorische Politik

Antideutsche Kritik, so scheint es, ist erledigt. Den gerade vergangenen Einheitsfeierlichkeiten vermochte sie kaum etwas entgegenzusetzen. Auch wenn am 10. Oktober in Leipzig 1500 Menschen gegen Deutschland auf die Straße gingen, die Verlautbarungen der aufrufenden Gruppen wirken seltsam kraftlos und antiquiert. Vgl. den Aufruf zu den Demonstrationen »Still not lovin' Germany« in Leipzig (http://antide2009.blogsport.de/2009/07/02/still-not-lovin-germany/) und »No love for this nation. Gegen Deutschland und seine Freunde« in Saarbrücken (http://saar.antifa.net/pdf/20090922_PM_demonstration_3_oktober.pdf) und die Kritiken der Gruppe ag no tears for krauts halle, 20 Jahre Antifa: Still not loving Reality (http://nokrauts.antifa.net/index.php) und von Peter Nowak, Von Marlene Dietrich zu Gustav Heinemann, in: trend onlinezeitung 10 (2009). Das Anliegen antideutscher Kritik ist fragwürdig geworden und vermag immer weniger Linke für sich zu mobilisieren. Das war nicht immer so.

 In den neunziger Jahren erschütterten antideutsche Gruppen und Zirkel eine linke Gewissheit nach der anderen. Dazu gehörten etwa Herman L. Gremliza als Herausgeber der Konkret sowie AutorInnen dieser Zeitschrift wie Wolfgang Pohrt, das Projekt Radikale Linke oder die Aktionstage für den Wiederzusammenbruch. Nicht zu vergessen sind die Anfang der neunziger Jahre gegründeten antideutschen MigrantInnengruppen wie Café Morgenland und Köxüz, und natürlich die Redaktion der Zeitschrift Bahamas. Daneben gab es durchaus auch autonome Selbstkritik an linken Gewissheiten, in RZ-Papieren oder etwa dem Buch Postfordistische Guerilla, 1999 von der Gruppe Demontage herausgegeben. Sie alle demontierten das Vertrauen in nationale Befreiungsbewegungen, skandalisierten den antisemitischen Kern des linken Antizionismus, geißelten pazifistische Positionen und den resignativen Rückzug in autonome Nischen nach der linken Niederlage 1989. Zugleich wandten sich Antideutsche mit aller Vehemenz gegen die Verhältnisse in der gerade vereinigten BRD mit ihren brennenden Asylbewerberheimen, rechten Morden, dem Pogrom in Rostock-Lichtenhagen und einem Anfang der neunziger Jahre nicht nur rassistischen, sondern ebenso israelfeindlichen, antisemitischen Konsens.

Errungenschaften

Diese Rahmenbedingungen führten in den neunziger Jahren zu einer dezidierten Kritik der besonderen deutschen Bedingungen, die Auschwitz möglich gemacht hatten und, so die Annahme, im Postfaschismus beziehungsweise Postnazismus bis in die Gegenwart fortdauerten. Als deren Merkmale wurde auf der politischen Ebene der korporatistische Verabredungszusammenhang zwischen Kapital und Arbeit ausgemacht, auf der diskursiven Ebene die kollektive Verdrängung der nationalsozialistischen Täterschaft bei gleichzeitiger Ausbildung eines sekundären Antisemitismus und auf der sozialpsychologischen Ebene der autoritäre bis wahnhafte Charakter der Deutschen.

Ende der neunziger Jahre waren die Antideutschen als einzige Fraktion innerhalb der radikalen Linken in der Lage, angemessen auf die rot-grüne Politikwende unter Gerhard Schröder zu reagieren und diese als das zu denunzieren, was sie war: der Versuch, fünfzig Jahre nach dem »Zivilisationsbruch Auschwitz« neues nationales Selbstbewusstsein regelrecht herbeizubomben, vermittels einer bis dahin für undenkbar gehaltenen geschichtspolitischen Offensive zu Beginn des ersten deutschen Angriffskrieges nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, und zwar gegen den einstigen Kriegsgegner Jugoslawien. Deutschlands Souveränität sollte durch neues »Verantwortungsbewusstsein vor der Geschichte« ins Werk gesetzt werden, bekanntlich nicht trotz, sondern wegen Auschwitz: »Krieg im Kosovo, Zwangsarbeiter entschädigt, Deutschland wiedergutgemacht« lautete der bündige Titel einer Konferenz des damaligen Bündnisses gegen IG Farben.

Trotz wichtiger Interventionen auf der Höhe der hegemonialen bundespolitischen Debatten waren die Antideutschen in dieser Zeit innerhalb der Linksradikalen isoliert. Dies änderte sich Anfang des neuen Jahrzehnts, ausgelöst durch den Ausbruch der sogenannten zweiten Intifada in den palästinensischen Gebieten im Sommer 2000. Von diesem Zeitpunkt an wurde antideutsche Kritik innerhalb der radikalen Linken vermehrt debattenbestimmend. Der Einfluss unterschiedlicher Gruppen wie der Redaktion der Bahamas, des Bündnis gegen Antisemitismus und Antizionismus, des Bündnis gegen Rechts Leipzig, der Bad Weather Antifa oder Diskussionen um den Flyer »Coole Kids tragen kein Palituch« führten zu einer Spaltung und Neuanordnung der deutschen Linken. Im Mittelpunkt standen im Gegensatz zu den neunziger Jahren insbesondere die Kritik des Antisemitismus und, nach den Anschlägen des 11. September 2001, des Antiamerikanismus sowie des Islamismus als reaktionäre Krisenideologie. Boykottiert-Israel-Parolen an den Wänden linker Jugendzentren und besetzter Häuser sowie der Appell an Volk und Nation als Subjekte emanzipatorischer Bewegungen gehören seitdem im wesentlichen der Vergangenheit an oder sind zumindest in weiten Teilen der postautonomen Linken nicht mehr diskursfähig. Die »Antideutschen« haben, soviel steht fest, eine modernisierende Funktion auf die deutsche Linke ausgeübt.

Der große Verdienst der antideutschen Kritik war es, penetrant auf die nach Auschwitz veränderten Bedingungen emanzipatorischer Bemühungen hingewiesen zu haben. Das brachte sie unter anderem in Konflikt zu den historisch unterbestimmten Formen linksradikalen Engagements, wie etwa zu jenem autonomen Feuer-und-Flamme-für-jeden-Staat-Antinationalismus der neunziger Jahre, der moralisch so nachvollziehbar wie für die Kritik der konkreten Verhältnisse folgenlos war und gerade mit Hinblick auf den chronischen Palästinadiskurs stets Gefahr lief, ins offen Antisemitische überzugehen. Sie zeigte damit eindringlich, dass die Notwendigkeit, historische Besonderheiten zu denken, für die Gesellschaftskritik kein ehrpusseliger Selbstanspruch historischer Gerechtigkeit ist, sondern die Forderung politischer Praxis selbst. Die Kritik der Verhältnisse muss eben konkret sein, oder sie wird falsch, weil sie das Objekt der Kritik verfehlt. Es steht jedoch auf einem anderen Blatt, wie antideutsche Kritik versuchte, die gesellschaftlichen Verhältnissen zu analysieren.

Antideutscher Obskurantismus

Auf der praktisch-lebensweltlichen Ebene der antideutschen Kritik lässt sich heute eine kulturell-identitäre Verfestigung konstatieren, etwa im blauweißen Fahnenkitsch verbliebener antideutscher Antifagruppen. Diese hat ihre Entsprechung auf der theoretischen Ebene im Zurücktreten von Analyse und Argumentation zugunsten manichäisch-polemischer Kategorisierungen im Gestus nietzscheanischer Kritik. Vgl. Die Kritik an Thomas Mauls Buch Die Macht der Mullahs in Kolja Lindner/Urs Lindner: »Kopftuch vs. Bikini«, in: Jungle World 16/2007. Solcherlei Ermüdungserscheinungen haben nicht nur mit der tatsächlich beunruhigenden anhaltenden Beratungsresistenz eines Teils der Linken zu tun, sondern verweisen auch auf eine reale Veränderung der deutschen Verhältnisse. Auf diese vermag antideutsche Kritik nicht mehr, wie noch zu Anfang des Jahrzehnts, angemessen zu reagieren.

Die Annahme eines spezifisch postfaschistischen Charakters der deutschen Nation erweist sich für die Aufhellung der gegenwärtigen Verhältnisse als zu eng gefasst. Der Versuch, die Verhältnisse nach 1945 über die politökonomischen Annahmen zum Spätkapitalismus kombiniert mit subjekttheoretischen Überlegungen in Anschluss an Theodor W. Adorno und Max Horkheimer zu konzipieren, stellt sich heute als theoretische Sackgasse heraus. So nahmen etwa die AutorInnen der Bahamas an, dass das deutsche Krisenlösungsmodell, für das Auschwitz stehe, nach 1945 ubiquitär geworden sei. Diese Konzeption hat sich bis heute innerhalb der antideutschen Diskussion weitgehend durchgesetzt, insbesondere in der vulgarisierten bewegungsantideutschen Form. Das implizierte die mehr polemisch vertretene denn argumentierte Annahme, dass die deutsche Volksgemeinschaft beziehungsweise deren wahnhafte Ideologie bis in die Gegenwart mehr oder weniger ungebrochen fortbestehe. Nach dem 11. September 2001 fand das seine Zuspitzung im Wort von der »antisemitischen Internationale«, vor der die Bahamas warnte.

Dabei fällt auf, dass der antideutschen Kritik, von Ausnahmen abgesehen, in den letzten zehn Jahren nicht nur die konkreten kapitalistischen, rassistischen und vergeschlechtlichten Herrschaftsverhältnisse samt ihrer widersprüchlichen Verschränkungen in Ort und Zeit aus dem Blick geraten sind, sondern darüber hinaus der vornehmste Gegenstand der Antideutschen selbst: Deutschland. Dabei spricht nichts gegen die Untersuchung der deutschen Besonderheit im Vergleich mit anderen nationalen Verfasstheiten. Gerade die Konzeption des deutschen Korporatismus und die damit zusammenhängende Arbeitsideologie ist aber nicht wesentlich weiterverfolgt worden. Beim Versuch, die je aktuellen RepräsentantInnen der deutschen Kollektivseele auszumachen, und um die Kategorisierung »völkischer Regress« vs. zu verteidigender »westlicher Vernunft« nicht aufgeben zu müssen, kommt es seit geraumer Zeit zu bemerkenswerten Verschiebungen. Der Ausweis des völkischen Regresses wird immer seltener an hegemonialen Phänomenen entfaltet, sondern anhand von »die Aufklärung verratenden Kulturrelativisten«, an islamistischen Gruppen oder durch den Hinweis auf die iranische Diktatur und deren Vernichtungsdrohung gegen Israel. »Wenn Islamfaschismus die Antwort ist, was war dann die Frage?« gab bereits 2004 das Bündnis gegen Antisemitismus und Antizionismus zu bedenken, vgl. dies., Kapitalismus und deutsche Spezifik. Über die Differenzen in antideutscher Theorie und den unklaren Gebrauch von Begrifflichkeiten wie ›bürgerlicher Gesellschaft‹ und ›deutscher Spezifik«, in: Phase 2, 16 (2005), 41-43. Es ist gerade die Annahme eines ungebrochen völkischen Wesens samt des welthistorischen Pendants der zu verteidigenden »westlichen Vernunft«, die angesichts der realen Transformation der deutschen Gesellschaft obskurantistische Züge annimmt. Obskurantistisch, weil nicht die augenscheinliche widersprüchliche Realität kritisiert wird, sondern eine maßgeblichere Realität hinter der Realität. Wenn etwa mit Blick auf die gegenwärtige Wirtschaftskrise niedergangstheoretisch davon gesprochen wird, dass diese »jetzt schon hundertvierzig Jahre andauert«, heute »zu einem permanenten Zustand politischer Unvernunft potentiell mörderischen Zuschnitts« geworden sei, die durch die »Krisenprävention im Racket-Staat« nur noch befördert werde, dann ist damit nicht nur eine falsche Konzeption kapitalistischer Normalität verbunden, die maßgebliche Differenzierungen der Kritik der politischen Ökonomie in den Wind schlägt. Alle Zitate aus Uli Krug, Apparatur der Panik. Zum Funktionswandel der Krise, in: Bahamas 57 (2009), Zit. N.: http://redaktion-bahamas.org/auswahl/web57-3.html. Zur Kritik dieses von der Kritischen Theorie begonnenen und von Wolfgang Pohrt weitergeführten Spätkapitalismustheorems vgl. Kolja Lindner: Rien ne va plus – Wolfgangs Pohrts Theorie des Gebrauchswerts, in: Beiträge zur Marx-Engels-Forschung. Neue Folge (2007), 212-246. Damit einher geht ein eskapistischer Alarmismus, der davor warnt, der Volkszorn könne jederzeit losbrechen. So, als hätte sich seit Kriegsende beziehungsweise seit Mölln und Solingen Anfang der neunziger Jahre nichts geändert. Die hasserfüllte Polemik der antideutschen Kritik, gerade auch in den geschliffenen Sätzen der Bahamas, hatte zwar oft etwas Befreiendes. Wer Hartz IV als Widergänger der nationalsozialistischen deutschen Arbeitsfront präsentiert bekam, der durfte sich nach der Lektüre weniger ohnmächtig fühlen. Vgl. Uli Krug/Karl Nele, Verstaatlichung der Arbeitskraft. Hartz IV und die Kontinuität deutscher Krisenbewältigung, in: Bahamas 45 (2004), Zit. n. http://redaktion-bahamas.org/auswahl/web45-1.html. Doch die Assoziation ersetzt nicht den Nachweis, worin die spezifisch deutsche kontinuierliche Verknüpfung zwischen beiden Institutionen bestehen soll. Ein solcher historischer Relativismus, der den traditionell inflationären linken Faschismusvergleichen ähnelt, führt dazu, dass politische Verschiebungen nicht mehr angemessen, das heißt in ihrer je historischen Unterschiedlichkeit, analysiert und bekämpft werden können. Hinzu kommt, dass solcherlei Polemik die womöglich viel beunruhigendere Tatsache übersieht, dass Hartz IV nicht nur das Produkt deutscher Arbeitsideologen ist, sondern eine Form unmenschlicher sozialer Elendsverwaltung, die sich ähnlich auch in Frankreich, Polen oder England finden lässt.

Der ideologische Umbau der deutschen Nation

All das ist insofern bemerkenswert, als dass es gerade die AutorInnen der Bahamas waren, die Ende der neunziger Jahre den Umbau des hegemonialen deutschen Geschichtsbildes zur kritisch geläuterten Nation, die »Erhöhung des Büßers«, Karl Nele, Bußfertig obsiegen. Die Verbrechen der Wehrmacht und ihre Diskussion, in: Bahamas 23 (1997), Zit. n. http://redaktion-bahamas.org/auswahl/web18.html. präzise erfassten. Die antideutsche Hermeneutik des Verdachts, die den Antifaschismus von Schily, Scharping, Fischer und anderen rot-grünen Protagonisten der deutschen Geschichtsrevision als zynische Machttaktik denunzierte, war in der damaligen Situation richtig. Zugleich macht es auf einer politischen Ebene heute keinen Sinn mehr, dem antifaschistischen Selbstverständnis der bundesdeutschen Eliten einen emphatischen Antifaschismus, der es wirklich ernst meine und aus Auschwitz die richtigen Konsequenzen zu ziehen bereit wäre, nämlich die Abschaffung des Kapitalismus statt nur der armseligen »Entschädigung« früherer deutscher Sklavenarbeiter, entgegenzuhalten.

Damit wird nämlich das unterschlagen, was mit Beginn der rot-grünen Ära viele Linksradikale auf dem falschen Fuß erwischt hat: dass es möglich ist, aus Auschwitz andere Konsequenzen zu ziehen als die Einrichtung einer kommunistischen Gesellschaft, die die Irrationalität der bürgerlichen Gesellschaft in ihrem Exzess der deutschen Vernichtungstat erkennt. Bis zum Ende der Regierung Kohl 1998 war es einfach, den deutschen Eliten Geschichtsverdrängung und Geschichtsrevisionismus vorzuwerfen. Noch 1995 waren die Verhältnisse etwa angesichts der ersten Wehrmachtsausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung weitgehend eindeutig. Der Gebrauch der deutschen Geschichte zur Herstellung eines neuen, kritischen Nationalbewusstseins begann gerade erst, sich abzuzeichnen. Entsprechend war es für die radikale Linke noch einfach (und richtig), die Ausstellung gegen die damals noch deutungsstarke deutsche Rechte zu verteidigen. Auch wenn es bitter ist, dem rot-grünen Umbau der Nation kann rückblickend nicht ernsthaft entgegengehalten werden, den Antifaschismus nur vorgegeben zu haben: Die Gleichung »Deutschland = Auschwitz« wurde nicht nur diskursiv »überdeckt«, sondern realiter widerlegt. Deutschland ist heute »soziale Marktwirtschaft«, Festung Europa, Hartz IV, Geschäfte mit dem Iran. Konzentrationslager sind aber derzeit nicht in Betrieb und auch nicht in Planung. Und der Deutsche Gewerkschaftsbund ist bei allen assoziativen Parallelen nicht die Deutsche Arbeitsfront, und völkische Bewegungen werden nicht erst seit dem Antifasommer 2000 auch staatlich bekämpft.

Dass der verbliebene Teil der Antideutschen diese Anerkennung der Veränderung verweigert, hat seinen Grund jedoch nicht nur in der fragwürdigen theoretischen Annahme eines spezifisch deutschen spätkapitalistischen Rackettstaates. Es ist auch die Weigerung, den eigenen Anteil am gesellschaftlichen Unheil anzuerkennen, die Tatsache nämlich, dass der nationale Umbau Deutschlands zum »besseren Deutschland« auch das eigene »Geschöpf« ist. Wie alle Veränderung der westlichen Gesellschaften nach 1968, ist auch der Umbau der deutschen Gesellschaft zu einer fraglos modernen Gesellschaft mit Homoehe und verändertem Staatsbürgerschaftsrecht wesentlich das Ergebnis von Kämpfen der Neuen Linken. Zu diesen aber sind auch die Bemühungen der Antideutschen zu zählen, sei es, indem sie vor einem »Vierten Reich« warnten, sei es, indem sie erfolgreich die Nichtentschädigung früherer NS-Zwangsarbeiter skandalisierten. Dass der Linken das politische Ziel schneller, als sie es merkte, unter der Hand entwunden und als ein vollkommen Anderes gegenübergestellt worden ist, kann nicht verwundern. Historisch ist dies immer so gewesen. Bezogen auf die deutsche Situation bedeutet das nicht mehr und nicht weniger, als dass die Möglichkeit abgenommen hat, durch den Verweis auf die historischen deutschen Verbrechen und die hegemoniale geschichtspolitische Erzählung die Notwendigkeit zur Veränderung der Gesellschaft zu verdeutlichen. Als die Naturfreundejugend Berlin auf der Fanmeile am Brandenburger Tor am 8. Mai 2005 Deutschlandfähnchen mit der Aufschrift »Deutschland denken, heißt Auschwitz denken« verteilte, blieb die Irritation des Zielpublikums zum Entsetzen der AktivistInnen weitgehend aus.

Historisch situierter Antinationalismus

Die Herausforderung heute, gut vier Jahre nach diesem sinnfälligen Ereignis, besteht darin, allgemeine Bedingungen und nationale Besonderheiten zusammenzudenken. Es ist überfällig, anzuerkennen, dass der geschichtspolitische Umbau Deutschlands zur normalen Nation tatsächlich, zumindest auf der Ebene der bundesdeutschen Eliten, erfolgreich abgeschlossen wurde. Diese Aussage ist nicht »wahr« im Sinne eines linken Geschichtsbewusstseins, wohl aber in Hinblick darauf, wie die Chancen stehen, heute auf dem Feld der deutschen Ideologieproduktion politisch gegen die deutschen Verhältnisse erfolgreich agitieren zu können. Die beste historische Wahrheit nutzt nichts, wenn sich niemand dafür interessiert. Das klingt zynisch, verweist aber auf die Eigenart linker Gesellschaftskritik. Diese muss sich an den realen Kräfteverhältnissen und den vorherrschenden ideologischen Formen orientieren. Sie kann daher nur dort einsetzen, wo Widersprüche vorhanden und kritisch entfaltbar sind. In diesem Sinn ist die Beschäftigung mit Geschichte wesentlich instrumentell. Andererseits sind die normativen Grundlagen der Linken stets an historischen Verhältnissen gewonnen. Dass der kategorische Imperativ Adornos neben den Marxschen getreten ist, ist Folge der deutschen Vernichtungstat. Die damit verbundene Erkenntnis zu bewahren ist aber nicht nur Ausdruck antifaschistischer Eigensinnigkeit, die nachkommenden linken Generationen kaum zu vermitteln wäre, sondern Forderung linker Praxis selbst. Will diese erfolgreich sein, muss sie fähig sein abzuschätzen, welche Hindernisse ihr entgegentreten können. Der Nationalsozialismus hat gelehrt, dass die Linke Antisemitismus als reaktionäre Ideologie ernst nehmen muss und reaktionäre Überwindungsversuche der Gesellschaft prinzipiell möglich sind. Aus diesem Grund verbietet sich, trotz des zunehmenden zeitlichen Abstandes zu Auschwitz, die Rückkehr zu einem Antinationalismus sans phrase der achtziger Jahre.

Festzuhalten ist darüber hinaus, dass der geschichtspolitische Wechsel nicht ohne Ungleichzeitigkeiten abgeht. Superkritischen rot-grünen SchlussstrichpolitikerInnen beim Reden über die NS-Vergangenheit zuzuhören ist das eine, heutigen Jugendlichen beim Hüpfen über die Stelen des Holocaust-Denkmals in Berlin zuzusehen und die reaktionären Verhältnisse im Gebirgsjägerdorf Mittenwald oder in einer ostdeutschen national befreiten Zone etwas anderes. Außerdem mag Deutschland für die bundesdeutschen Eliten, die mehrheitlich Nachfahren von TäterInnen sind, normalisiert sein. Für die Nachfahren der Opfer sieht dies anders aus.

Für gesellschaftskritische Praxis ergibt sich dadurch ein Vermittlungsproblem. Einerseits kann Deutschland nicht mehr primär über den Umgang mit der eigenen mörderischen Vergangenheit delegitimiert werden, andererseits ist ein Großteil der politischen und normativen Maßstäbe der postautonomen Linken in Deutschland aus der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus gewonnen, sei es die Einsicht in die notwendige Verteidigung bürgerlicher Staaten gegen reaktionäre Bewegungen, sei es die Einschätzung des Antisemitismus. Damit aber ist die innerlinke Frage aufgeworfen, in welchem Verhältnis in Zukunft geschichtspolitische und gesellschaftskritische Interventionen mit gegenwärtigem Bezug stehen müssen, um politisch erfolgreich zu sein. In den gesellschaftlichen Kämpfen muss Geschichte gegenwärtig bleiben, sie wird aber heute als Begründungszusammenhang wenig taugen, um gesellschaftliche Forderungen zu vermitteln. Angesichts der nach der Bundestagswahl maßgeblich durch Peter Sloterdijk eingeläuteten rechten Offensive geht es auch darum, die Gesellschaft wirklich zu verändern. Die Haltung von Leuten, die sich den gegenwärtigen gesellschaftlichen Widersprüchen nicht stellen wollen, sondern lieber in Gedanken räumlich und zeitlich in die Ferne schweifen, um sich dort mit einem sauberen ideellen Antifaschismus solidarisch zu erklären, wird dazu wenig beitragen. Denn in der gegenwärtigen politischen Situation, in der nach der vergangenen Bundestagswahl das rechtskonservative Milieu zum Jagen auf alle »Überflüssigen« und »Leistungsverweigerer« bläst, und eine erneute deutliche Umverteilung von unten nach oben ansteht, tut die radikale Linke gut daran, sich wieder in Stellung zu bringen. Solchen konkreten politischen Verschiebungen muss ihre Bösartigkeit und Lebensfeindlichkeit nachgewiesen werden, der Verweis auf einen spezifisch deutschen Charakter ist zu allgemein. Das gilt selbst dann, wenn Peter Sloterdijks Äußerungen sich tatsächlich anhören wie diejenigen von Wehrmachtsangehörigen 1944 in Pariser Offizierscasinos. vgl. Peter Sloterdijk, Die Revolution der gebenden Hand, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10. Juni 2009, sowie Aufbruch der Leistungsträger, in: Cicero. Magazin für politische Kultur 11 (2009).

Abseits antideutscher Manifestationen zum Supergedenkjahr 2009 haben zwei linksradikale Gruppen bzw. Bündnisse gegen die herrschaftlichen Inszenierungen der deutschen Nation des Supergedenkjahres 2009 agitiert, zum einen die Naturfreundejugend Berlin mit ihrem plüschigen Pink Rabbit, zum anderen das …UmsGanze!-Bündnis mit ihrer »Staat. Nation. Kapital. Scheiße«-Kampagne. Beiden Kampagnen ist heftige Kritik entgegengebracht worden. Der Naturfreundejugend Berlin, dass ihr Hase die Ernsthaftigkeit und Schärfe der Kritik vermissen lassen würde, und dem …UmsGanze!-Bündnis, weil Geschichte und alle Konkretion der gegenwärtigen historischen Bedingungen zugunsten einer geschichtsvergessenen Konstruktion geglättet seien. Bei aller Unterschiedlichkeit an Voraussetzungen und politischem Konzept sind beide Kampagnen jedoch auch die Reaktion auf ein Ungenügen antideutscher Theorie und Praxis, Deutschland vornehmlich anhand deutscher Geschichte zu skandalisieren. Es sind die ersten, vielversprechenden Schritte, den gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen, angefangen beim Alltagsrassismus, dem Grenzregime, den asymmetrischen Geschlechterverhältnissen, der grundlegend kapitalistischen Ausbeutung und dem aktuellen Arbeitsregime, dem Antisemitismus und den anderen reaktionären Krisenideologien bis hin zur Überwachung und Militarisierung der Öffentlichkeit wieder etwas entgegenzusetzen. Das schließt nicht aus, auch die Besonderheiten der deutschen Ideologie samt der imperialen Begehrlichkeiten begrifflich präzise zu bestimmen. Auch die normativen Fortschritte der deutschen Gesellschaft zu benennen wäre für einen solcherart historisch situierten Antinationalismus keineswegs das Eingeständnis der eigenen Schwäche. Denn gemessen an den Möglichkeiten einer befreiten Gesellschaft ist dieser Fortschritt der deutschen Verhältnisse immer noch lächerlich klein.

~Von Mark Hachnik.