NATO am Ende oder am Ende die NATO?

Sechzig Jahre nach ihrer Gründung prägen Konflikte die transatlantische Allianz; gleichzeitig ist sie aktiv wie nie zuvor

Die NATO schwindet dahin, so die Aussage von Peter van Ham, Direktor der Global Governance-Abteilung des niederländischen Instituts für Internationale Beziehungen in Den Haag. Viele politische BeobachterInnen kommentieren aus Anlass des nahenden sechzigsten Jahrestages der NATO-Gründung in ähnlicher Weise die Zukunft des transatlantischen Militärbündnisses. Auch die Linke diskutiert, ob und warum die NATO überlebt. Dabei geht es ihr um mehr: Die Interpretation der NATO-Existenz ist Teil einer größeren Auseinandersetzung über den Charakter der internationalen Herrschaftsverhältnisse und damit über die Ansatzpunkte ihrer Kritik. Während eine Position die globalen Rivalitäten zwischen kapitalistischen Mächten hervorhebt, in deren Folge auch die NATO ein Feld westlicher Gegensätze darstellt, sehen andere die Weltordnung durch eine fortgesetzte Hegemonie der USA bestimmt, die sich gerade auch in der und durch die NATO international verwirklicht. Die rasante und von Widersprüchen geprägte Entwicklung der NATO in den letzten zwanzig Jahren macht eine eindeutige Bewertung des Zustandes der NATO nicht einfach. Vielmehr scheint es so, dass die NATO auf jeweils verschiedenen Entwicklungsstufen für jede der differierenden Positionen einen Beleg darstellen kann.

Im Prinzip läuft die NATO-Diskussion sowohl in der Mainstreamdebatte als auch in der Linken seit zwei Jahrzehnten. Schon das Ende des Kalten Krieges wurde quer zu politischen Standpunkten und Analysekonzepten zunächst von einem Abgesang auf die NATO begleitet. Während einerseits von einer kosmopolitischen Weltordnung unter der friedlichen Herrschaft der Vernunft geträumt wurde, hielten VertreterInnen des außenpolitischen Realismus der idealistischen Weltanschauung die These eines nahenden Auflebens von Mächterivalitäten und die Wahrscheinlichkeit internationaler Konflikte entgegen. Beide Prognosen gingen vom Ende der transatlantischen Allianz aus.

Bereits vor 1990 hatte es immer weder Krisendebatten gegeben, doch die Diskussion nach 1990 basierte auf einem fundamentalen Wandel der Rahmenbedingungen: Mit dem Niedergang des Warschauer Paktes und dem Zerfall der Sowjetunion fiel die zentrale ideologische Klammer des westlichen Staatenbündnisses weg. Gleichzeitig war die Diskussion über erwartbare Konfigurationen der neuen Weltordnung von der Wahrnehmung eines mächtigeren Deutschlands gekennzeichnet. Deutschland hatte die vollständige Souveränität und mit einem Zuwachs an StaatsbürgerInnen, Territorium, Militär- und Industriepotential an »Währung« in der internationalen Politik gewonnen. Die Horrorvision von der Rückkehr der Geschichte, vorstellbar als Mächterivalität kapitalistischer Zentren mit Deutschland als aggressivem Machtstaat schien unter diesen Umständen plausibel und erhielt in Form der unilateralen deutschen Anerkennungspolitik gegenüber Slowenien und Kroatien Anfang der 90er Jahre sofort empirisches Gewicht. Parallel dazu forderten nationalkonservative Kreise, die außenpolitische Westbindung der »alten« BRD zu überdenken. Sie warfen der Bonner Republik »Machtvergessenheit« vor und setzten ihrem Bild eines deutschen Sonderwegs das geopolitische Konzept einer Mittelmacht entgegen, das auf der Traditionslinie deutscher Weltherrschaftspläne aufbaute. Karriere machte der wiedererwachte außenpolitische Deutschnationalismus aber nicht durch Konzepte, die zu deutlich die Spuren der Expansionsziele von Kaiserreich und NS in sich trugen. Es sollte ein bekennender Antifaschist und zukünftiger grüner Außenminister sein, der 1995 über die neue deutsche Außenpolitik räsonierte und dabei fragte: »Bekommt Deutschland jetzt, nachdem es friedlich und zivil geworden ist und mit dem Ende des Kalten Krieges seine Einheit im internationalen Einvernehmen zurückerhalten hat, all das, was ihm Europa, ja die Welt in zwei großen Kriegen erfolgreich verwehrt hat, nämlich eine Art ›sanfte Hegemonie‹ über Europa, Ergebnis seiner Größe, seiner wirtschaftlichen Stärke und seiner Lage und nicht mehr seines militärischen Potentials?« Doch das von Josef Fischer bis zur eigenen Regierungsverantwortung bevorzugte Modell von Deutschland als waffenlosem Heilsbringer in Europa erwies sich im Laufe der neunziger Jahre als nicht funktional. Das »neue Zeitalter der Demokratie, des Friedens und der Einheit«, von dem die in der KSZE zusammengeschlossenen Staaten 1990 fabulierten, kennzeichnete sich schnell als Zeitalter aufkeimender Nationalismen und Bürgerkriege. Anstatt des prognostizierten »Wohlstandes durch wirtschaftliche Freiheit« erlebten die ehemaligen Staaten des RGW den Niedergang und Ausverkauf ihrer Ökonomien. Staatskrisen und ethnisierte Verteilungskämpfe erhielten damit einen Teil ihrer Nahrung. Sowohl für die NATO als auch für die deutsche Außenpolitik bot dieses Krisenszenario die Chance eines Neuanfangs. Die Stabilisierung potentieller und realer Krisenzonen wurde nun zum Hauptauftrag der Allianz, der 1991 seinen Niederschlag in einem neuen strategischen Konzept fand. Die dort genannten Risikopotentiale entsprechen weitgehend der destruktiven Spannweite des damaligen Zerfalls- und Übernahmeprozesses: Fundamentalismus, organisierte Kriminalität, Nuklear- und Drogenhandel, Flüchtlingsströme, Zugang zu Ressourcen. Der bis 1990 als Leiter des Amtes für Studien und Übungen der Bundeswehr zuständige Admiral Schmähling kommentierte den neuen strategischen Wandel der NATO folgendermaßen: »Damit ist der Weg vorgezeichnet: Weg von der bloßen Verteidigung des NATO-Territoriums, hin zur Verteidigung von politischen und ökonomischen Interessen der Mitgliedssaaten durch eine neue Form des Krisenmanagements. Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung dort wo Konflikte, Krisen und Instabilitäten gegen das eigene Interesse entstehen, also ›out of area‹.«

Unter den Umständen potentieller und realer Instabilität war für Deutschland die angestrebte Hegemonie in Europa auf dem Weg einer zivilen Politik, die diesen Namen auch verdiente, nicht zu erreichen. Es brauchte eine Militärkomponente, die vorerst nur innerhalb der NATO auf Krisenintervention und out of area vorbereitet, nach und nach aber stärker als europäische Außen- und Sicherheitspolitik weiterentwickelt wurde.

Bereits ein Jahr vor Fischers Gedankenspiel schoss die Allianz serbische Flugzeuge vom Himmel. Der erste Kampfeinsatz seit ihrer Gründung. Mit der Begründung, es handele sich um friedenserhaltende Operationen agierte die NATO als militärisches Interventionsbündnis mit einem Kontrollanspruch, der über die Grenzen der Mitgliedsstaaten hinausreichte. Schon 1999 beteiligten sich deutsche Phantom-Jets am Bombenkrieg gegen Restjugoslawien. Die NATO flog damals 38.000 Einsätze gegen einen ehemals recht prosperierenden Balkanstaat und beorderte ihn damit zurück in eine randständige Position innerhalb Europas. Ein Ziel des asymmetrischen Gewaltakts bestand nicht zuletzt darin, die Existenz der NATO als weltpolitischen Ordnungsfaktor für alle Welt in Szene zu setzen.

Der heute im öffentlichen Bewusstsein der Aggressorenstaaten weit zurückgedrängte Krieg gegen Restjugoslawien mit all seiner zynischen Rhetorik von Menschenrechten und Kollateralschäden bildete den faktischen Gegenpol zu Auffassungen über eine zivile postnationale Transformation des Weltsystems. Aber auch die Prognose eines deutschen Alleingangs gegen die bzw. außerhalb der NATO stimmte nicht. Oder doch?

Interpretationsschwierigkeiten

Ein Teil der antideutschen Linken sah den Krieg als Werk cleverer deutscher Außenpolitik, die die Vereinigten Staaten gegen ihren Willen zur Intervention zwang: Zunächst unterstützte Deutschland den völkischen Nationalismus in den ehemaligen jugoslawischen Teilrepubliken und verfolgte dabei das Ziel der Einflusserweiterung auf dem Balkan. Die USA musste nun mit Hilfe der von ihr dominierten NATO eingreifen, um durch diese Initiative die geopolitischen Veränderungen in Europa weiter von der Spitze her kontrollieren zu können. Deutschlands Bestrebungen des Einflussgewinns in Europa gerieten mit der US-amerikanischen Strategie, die Entstehung eines Konkurrenten mit globalem Gewicht zu verhindern, in Konflikt. Bereits 1992 hatte das Pentagon das »No Rivals«-Konzept in seiner »Defense Planing Guidance« formuliert: »Wir müssen versuchen zu verhüten, dass irgendeine feindliche Macht eine Region dominiert, deren Ressourcen – unter gefestigter Kontrolle – ausreichen würden eine Weltmachtposition zu schaffen.«

Die Deutschen brauchten die multilaterale Aktion der NATO, um Jugoslawien zerschlagen zu können und nebenbei auch, um noch ihre militärische Zurückhaltung gegen geschichtspolitisch begründete Bedenken durchsetzen zu können. Der tatkräftig unterstützte Zerfall der Balkanrepublik war das Meisterstück der neuen deutschen Außenpolitik.

Während bei diesem Erklärungsansatz die Akzentuierung der Rivalitäten auch unter dem Schild der NATO im Vordergrund stand, betonte eine zweite Interpretation die Gemeinsamkeiten der NATO-Mitglieder. Diese teilen, so das Argument, das Interesse an einer militärischen Absicherung der ökonomischen Globalisierung. Die USA fungierte in dieser Sichtweise als von den kapitalistischen Staaten akzeptierter Hegemon, der als Weltstaat die Ziele einer zunehmend transnational vernetzten Bourgeoisie exekutierte. Der NATO-Krieg gegen Restjugoslawien erfolgte als Gemeinschaftsprojekt, das der Kontrolle potentieller Energietransportwege und der Öffnung bisher unerschlossener Märkte für global orientiertes Kapital diente.

Konkurrenz der Erklärungsansätze 

Im Groben bestimmen diese in der Reflexion des Jugoslawienkriegs vorherrschenden Argumentationen bis heute die linke Debatte über die weltpolitische Konstellation und die darin sichtbar werdende Rolle der NATO – eine Debatte, die als imperialismustheoretische mit dem Anspruch geführt wird, den Zusammenhang zwischen Ökonomie und einer Außenpolitik, die auf direkte oder indirekte Ausweitung des Herrschaftsgebiets zielt, bestimmen zu können. Gleichzeitig sollen damit die Ansatzpunkte politischer Kritik benannt werden. Die erste Interpretation sieht die Rolle der NATO vor dem Hintergrund globaler Rivalitäten zwischen kapitalistischen Zentren. Prominente Vertreter dieser Position sind u.a. Alex Callincos; Peter Gowan und Frank Deppe. Mit Blick auf das kapitalistische Weltsystem geht diese Position von drei miteinander in Konkurrenz stehenden Zentren ökonomischer und politischer Macht aus. Nordamerika, Westeuropa und Ostasien bilden die Fixpunkte einer prekären Struktur der internationalen Beziehungen. Die unterschiedlichen Durchsetzungspotentiale dieser Zentren werden zur Kenntnis genommen, aber nicht als Beweis einer widerspruchslosen Unterordnung unter ein informelles amerikanisches Imperium bewertet. Vielmehr kommt es zwischen den USA und den anderen führenden kapitalistischen Staaten ständig zu Interessenkonflikten. Weder ökonomisch noch politisch habe sich nach dem Kalten Krieg ein neues Ordnungssystem gefestigt. Der Zustand der internationalen Beziehungen sei vielmehr von einer andauernden Suche nach einem Kompromiss zwischen den kapitalistischen Zentren geprägt. Das ließe sich auch am Zustand der NATO ablesen. Statt einer kohärenten Strategie verfolge die Allianz nur noch einen konfusen Aktivismus, der das Problem fragiler Gemeinsamkeiten eher betonen als vertuschen würde. Von dieser Warte aus interpretieren die Vertreter der Konkurrenzperspektive die Entwicklung der europäischen Sicherheitspolitik als Projekt, welches auf Basis des EU-Binnenmarktes und des Euro den globalen Gestaltungsanspruch der USA zunehmend auf militärischem Gebiet in Frage stellt.

Die zweite Position sieht darin eine Übertreibung. Für marxistische Wissenschaftler wie Leo Panitch und Sam Gindin ist die Macht der USA das zentrale Strukturmerkmal der Weltordnung. Die USA agiert im Sinne des international orientierten Gesamtkapitals. Als hegemoniale Führungsmacht hätte sie es zudem geschafft, die anderen Mächte zu Exekutoren eines von ihnen geführten Imperiums zu machen, welches eng mit der Durchsetzung neoliberaler Verhältnisse verknüpft ist. Während die Ebene internationaler Wirtschaftsbeziehungen immer stärker durch die Bildung transnationaler Kapitalfraktionen gekennzeichnet ist, setzen sich innerhalb der Staaten diejenigen Staatsapparate durch, die an den Interessen transnationaler Unternehmen und internationaler Finanzanleger orientiert sind. Der europäische Kapitalismus könne nur im Rahmen der amerikanischen Vormachtstellung verstanden werden. Dabei handele es sich um einen Akt bewusster Unterordnung, der vom europäischen Kapital und international orientierten Staatsapparaten als Stärkung der eigenen gesellschaftlichen Position begrüßt wird. Die sicherheitspolitische Kooperation der NATO ist aus dieser Perspektive als politischer Überbau transnationalisierter Kapitalverhältnisse unter Führung der USA zu verstehen.

Stellt man die Gemeinsamkeiten zwischen kapitalistischen Staaten in den Mittelpunkt einer imperialismustheoretischen Analyse, dann könnten auch weitere Spielarten unter dieses Kooperationsparadigma subsumiert werden. Die Empire-These von Michael Hardt und Toni Negri, aber auch der von Robert Kurz vertretene Ansatz eines Sicherheitsimperialismus teilen die Auffassung über das Verschwinden der zwischenimperialistischen Kämpfe. Allerdings betten sie dies in spezifische Annahmen über den allgemeinen Bedeutungsverlust des Nationalstaats und sehr unterschiedliche Voraussagen über die polit-ökonomische Reproduktionsfähigkeit des modernen Kapitalismus ein.

Die Entwicklung des Verhältnisses zwischen den USA und den Europäern lässt sich auf der Ebene formaler NATO-Beschlüsse eher als eine Bestätigung der Subordinationsannahme verstehen. Die Versuche der Europäer in den neunziger Jahren, eine eigenständigere Sicherheitspolitik zu entwickeln, standen demnach immer unter dem Vorbehalt US-amerikanischer Zustimmung. Ja mehr noch schienen sie im amerikanischen Interesse zu liegen. Sowohl Bush Senior als auch Clinton hatten in ihren Amtszeiten Schritte hin zu einer europäischen Sicherheitspolitik nicht nur begrüßt, sondern auch gefordert. Allerdings sollten diese die NATO insgesamt stärken. Auf den NATO-Tagungen 1996 und 1997 kamen die Mitglieder der Allianz überein, eine »Europäische Sicherheits- und Verteidigungsidentität« innerhalb der Allianz voranzutreiben. Militärische Ressourcen wie schnelle Einsatzkräfte, Planungs- und Entscheidungsstrukturen sowie Transportkapazitäten sollten zwar von den Europäern separat nutzbar sein, sich aber prinzipiell noch unter der Autorität der NATO befinden. Eine Duplizierung militärischer Fähigkeiten außerhalb der NATO sollte von den Europäern vermieden werden. Faktisch bedeutete dies, dass Europa die Erlaubnis bekam, dort eigenständig zu handeln, wo die USA keine Interessen haben. Noch im Frühjahr 2003 bekam diese Sachlage eine Bestätigung in Form eines offiziellen Sicherheitsabkommens zwischen EU und NATO. Demnach liegt die Interpretation nahe, dass die NATO unter Führung der USA im Sinne eines gemeinsamen globalen Herrschaftsinteresses operiert.

Kooperation

Zweifelsohne diente die NATO von Beginn an dem Schutz des kapitalistischen Gesamtsystems. Ihre Gründung 1949 entsprach diesem Ziel gleich in dreifacher Weise. In geopolitischer Hinsicht sollte die Ausweitung des Staatssozialismus verhindert werden. Gleichzeitig wollten die USA nach ihrem Sieg im Zweiten Weltkrieg und dem damit verbundenen Niedergang des europäischen Konkurrenzimperialismus ihren Einfluss in Europa aufrecht erhalten. In diesem Sinne galt es insbesondere, eine Rückkehr Deutschlands zu einem expansionistischen Machtanspruch von vornherein zu unterbinden. Es war das Bonmot des ersten NATO-Generalsekretärs Lord Ismay, der diese dreifache Aufgabe mit den Worten pointierte: »to keep the Russians out, the Americans in and Germany down.« Mit der Verfestigung des Ost-West-Gegensatzes verschoben sich die Gewichte. Die in Sonntagsreden über die NATO gerne aufgegriffene Wertegemeinschaft des Westens beschreibt den Bereich des in der NATO verkörperten Gesamtinteresses, welches seit den fünfziger Jahren bis 1990 die Existenz der Allianz definierte. Natürlich, runtergebrochen auf irgendeine substantielle Definition von Demokratie, war die »Wertegemeinschaft« Augenwischerei. Mit Portugal, Griechenland und der Türkei fühlten sich Führer- bzw. Militärdiktaturen in der NATO wohl. Der Antikommunismus dieser und der westlichen Staaten aber war tatsächlich ein Gemeinschaft stiftender Wert.

Auch nach 1990 zeigte sich die NATO als ziemlich flexibles Bündnis, wenn es um die Bestimmung gemeinsamer Interessen ging. So einigten sich die Mitgliedsstaaten 1991 und 1999 zweimal innerhalb von neun Jahren auf die Neuformulierung ihrer strategischen Ausrichtung – ein Vorgang, der wie alle NATO-Entscheidungen im Konsensprinzip abgeschlossen wurde. Stand vor 1990 die »kollektive Verteidigung« als Schwerpunkt der NATO-Ausrichtung gegen den Osten, signalisierten die neuen Konzepte der neunziger Jahre eine neu gewichtete Funktionsbestimmung. Die Bedrohung des Bündnisses sah man jetzt von »einem breiten Spektrum militärischer und nicht-militärischer Risiken« ausgehen. Instabilität, regionale Krisen, Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, Flüchtlingsströme und Terrorismus stehen seit dem NATO-Gipfel von 1999 auf der Agenda. Aufgabe der Allianz ist es, diese Sicherheit durch die Schaffung so genannter Stabilitätszonen zu gewährleisten. Dieser überaus weitläufig definierte Sicherheitsimperativ ist bis heute das Bindemittel der transatlantischen Allianz. Zudem entterritorialisiert die NATO sukzessive ihren räumlichen Geltungsanspruch. Dies tut sie praktisch: Einsätze laufen derzeit im Mittelmeer, in Afghanistan, im Irak, im Sudan und am Horn von Afrika. Die auf dem Papier stehende Festlegung eines »euro-atlantischen« Aktionsradius lässt sich, wie die weltweit stattfindenden Operationen zeigen, großzügig auslegen. In der 2006 auf dem Gipfel in Riga verabschiedete Comprehensive Political Guidance steht die Bekämpfung des Terrorismus an erster Stelle der Stabilität gefährdenden Szenarien. Die abhanden gekommene Rolle des Antikommunismus wird heute ansatzweise vom Feindbild des internationalen Terrorismus ausgefüllt. Aber auch die »Versorgung mit lebenswichtigen Ressourcen« wird 2006 erstmals in einem offiziellen Dokument der NATO als eine Herausforderung für die Allianz dargestellt. In dem NATO Review werden die »Intervention in Ölförderländern« ebenso wie die Kontrolle von Transportwegen oder »Terrorabwehroperationen gegen Öl-Dschihadisten« der Schaffung eines »Sicherheitsumfeldes« zugeordnet. Die Kontrolle der Ressourcen ist weniger ein Relikt klassisch-imperialistischer Raubökonomie, sondern ein Bestandteil der von allen westlichen Staaten geteilten Sorge um die Funktionsabläufe einer globalen Weltwirtschaft. Nichtsdestotrotz ist die NATO damit ein Instrument eines weltweiten westlichen Kontrollanspruchs. Sie dient der Absicherung globaler Herrschaft.

Dabei agiert sie weniger als Hebel eines Staates oder einer bestimmten Kapitalfraktion. Die Gewährleistung von Sicherheit ist allgemeine Voraussetzung des globalen Verwertungszusammenhangs und »zwingt« die Herrschaft zum militär-polizeilichen Krisenmanagement.

In diesem Sinne ist der Einsatz in Afghanistan der große Testfall für die NATO. Über 50.000 Soldaten der Allianz versuchen hier eine Rückkehr der Taliban-Herrschaft zu verhindern. Während die NATO dieses Ziel und damit auch eine weitere Expansion des Islamismus in der Region vordergründig zu erreichen scheint, bleiben weitergehende politische Verbesserung und wirtschaftliche Fortschritte aus. Doch trotz der – auch auf einer ökonomisch desaströsen Lage beruhenden – prekären Sicherheitslage geben sich die Mitglieder der Allianz mit der jetzigen Eingrenzung des Problems mehr oder weniger zufrieden. In der mangelnden Bereitschaft zur größeren Kostenübernahme oder Bereitstellung von Truppen zeigt sich, dass die Einigung auf gemeinsame westliche Sicherheitsinteressen immer noch auf der Grundlage nationaler Präferenzordnungen erfolgt: Deutschland profitiert von der ökonomischen Globalisierung, deren Feind der islamische Terror ist. Deutschland weiß auch, dass die USA viel mehr im Fadenkreuz des Islamismus stehen und deshalb zu kostenaufwendigerem Engagement gezwungen sind. Der deutsche NATO-Einsatz in Afghanistan vermittelt auf diese Weise zwischen geteilten Interessen und nationalem Egoismus. Angesichts dieser multiplen Interessenlage ist die NATO auch als eine Arena der internationalen Kompromissbildung und Aushandlung der konkreten Erscheinungsweise des imperialistischen Gesamtinteresses zu verstehen. Die westlichen Industriestaaten, die das allgemeine Interesse an stabilen Verhältnissen und einer für sie offenen Marktordnung teilen, verhandeln hier über Strategien, die Art und Weise ihrer Sicherheitspolitik und die Kostenverteilung – ein Aspekt, der nach dem Wegfall des staatsozialistischen Einigungsfaktors vielmehr an Gewicht gewonnen hat und im Hintergrund steht, wenn der gegenwärtige NATO-Generalsekretär eine »Streitkultur« in der Allianz einfordert oder Angela Merkel für eine Aufwertung des politischen Charakters der NATO plädiert.

Zu beobachten ist diese NATO-Funktion auch an der Diskussion über ihre Osterweiterung. Der bisherige Erweiterungsprozess war einer von schrittweiser Annäherung zwischen wechselnden BefürworterInnen der jeweiligen BeitrittsanwärterInnen. Zunächst sprach sich Deutschland für eine schnelle Aufnahme von Polen, Tschechien und Ungarn aus, weil es sich von diesem Schritt eine Stabilisierung des unmittelbaren Staatenumfeldes versprach. Slowenien und Rumänien sollten nach dem Willen der NATO-Mitglieder Italien und Frankreich ebenfalls schnell aufgenommen werden. Die USA reagierten anfangs zurückhaltend, da sie zwar auch ein stabiles Osteuropa wünschten, jedoch die Konfrontation mit der russischen Atommacht nicht zu sehr provozieren wollten. Die NATO-Staaten einigten sich auf verschiedene Kooperationsformen, mit denen die beitrittswilligen Länder einbezogen und auf eine funktionsfähige Kooperation vorbereitet, aber noch nicht formal aufgenommen wurden. Angesichts der Balkankrise und einer Politik Russlands, die nicht mehr ganz widerstandslos ehemaliges Einflussgebiet dem Westen überlassen wollte, änderte sich der Kurs der USA. Auf dem NATO-Gipfel 1994 sprachen die Allianzmitglieder gemeinsam eine Empfehlung für die Osterweiterung aus, 1997 erfolgte die offizielle Einladung an die deutschen Wunschkandidaten und 1999 war die Aufnahme der ersten drei neuen Mitglieder offiziell abgeschlossen. Die zweite Erweiterungsrunde folgte nach einem ganz ähnlichem Muster: Zunächst beschloss man in Form des »Membership Action Plan« einen Kompromiss zwischen den Befürwortern und Gegnern einer schnellen Aufnahme der baltischen und der südosteuropäischen Staaten Slowenien, Rumänien und Bulgarien. Nach dem 11. September 2001 erschien den alten NATO-Mitgliedern eine vergrößerte Allianz umso sinnvoller und die Aufnahmedynamik beschleunigte sich. Seit 2004 umfasst die NATO nunmehr 26 Mitgliedstaaten. Vor dem Hintergrund der Geschichte der ersten beiden Erweiterungsrunden relativiert sich auch das Spaltungspotential, welches heute ab und an in die Diskussion um den Beitritt Georgiens und der Ukraine hineininterpretiert wird. Deutschland konnte sich mit seinen Bedenken gegen die Aufnahme Georgiens und der Ukraine vorerst durchsetzen. Enge Kooperationsbeziehungen zwischen der NATO und diesen Staaten bestehen aber bereits und es ist eher eine Frage der Zeit, wann die Aufnahme dieser und weiterer potentieller Kandidaten Wirklichkeit wird. Der Umgang mit Russland ist dabei strategisch rational und lange nicht von einer ideologischen Kluft wie zu Zeiten des Kalten Krieges geprägt. Mit dem NATO-Russland-Rat besteht eine institutionalisierte Form des Spannungsabbaus. Im Fall des Georgien-Kriegs lag dieser kurz auf Eis, ein paar Monate später funktioniert er wie gehabt. Ohnehin war der Kontakt nie ganz abgebrochen. Die Arbeitsgruppen des Rates, die sich mit der gemeinsamen Terrorismusbekämpfung beschäftigten, trafen sich ohnehin weiter. Russland wünscht nicht das Scheitern der NATO am Hindukusch, weil es die Destabilisierung der südlichen Landesteile fürchtet. Erinnern sollte man sich in diesem Zusammenhang an die Idee der ehemaligen US-Außenministerin Condoleeza Rice, Russland in die NATO aufzunehmen. Dass das gemeinsame Interesse die Streitpunkte Raketenabwehr, Georgienkrieg, Pipelinerouten, Ausgestaltung der Iran-Politik u.e.m. überwiegt, ließ sich erst jüngst auf der Münchner Sicherheitskonferenz beobachten. Die USA versprachen mehr Konsultationen und stellten gar eine Abstimmung mit Russland über das Raketenabwehrsystem in Aussicht. Und richtig auch der Hinweis des französischen Staatsoberhaupts, der die Ängste vor einer europäisch-russischen Konfrontation unter anderem mit dem Hinweis abschwächte, Moskau wolle sich als Energielieferant doch nicht mit seinen Kunden überwerfen. Statt eines neuen Kalten Krieges erleben wir gegenwärtig die Abstimmung von Interessenpolitik bei Zimmertemperatur.

Und Konflikte

Trotz der genannten Gemeinsamkeiten und Kooperationsmechanismen ist die Bindekraft des Bündnis nicht garantiert.

Das zentrale Spannungsmoment innerhalb der NATO besteht in Form der fortschreitenden europäischen Sicherheitspolitik. Vom ehemaligen stellvertretenden Außenminister der Clinton-Administration, Strobe Talbott, ist die Aussage überliefert, dass die USA keine Sicherheitspolitik der EU wünscht, die innerhalb der NATO entsteht, dann über sie hinauswächst und schließlich mit ihr in Konkurrenz gerät. Seit 1998 beschreitet die EU mehr oder weniger geschlossen genau diesen Weg. Die Liste der Fortschritte reicht von der Bereitstellung einer europäischen Eingreifgruppe über den Aufbau einer europäischen Rüstungsagentur und generalstabsähnlicher Strukturen bis hin zu einer europäischen Sicherheitsstrategie. De Facto wird damit genau die Dopplung der militärischen Strukturen betrieben, die eigentlich nicht über den Rahmen der NATO hinausgehen sollte. Die autonomen Einsätze der EU im Kongo 2003 und 2006 fanden ohne vorhergehnde Konsultationen in der NATO statt, was als Missachtung der NATO und US-Dominanz in sicherheitspolitischen Fragen gewertet werden kann.

Als 2003 während des Irakkrieges Deutschland, Frankreich und Belgien im NATO-Rat Schutzvorbereitungen blockierten, mit denen die Türkei im Falle eventueller Vergeltungsaktionen unterstützt werden sollte, positionierten sich die osteuropäischen NATO-Staaten gegen diese Haltung. Was damals noch als Faustpfand gegen ein deutsch-französisches Gegenmachtprojekt EU galt, ist heute zumindest schon konzeptionell überwunden. Mit dem früher oder später verabschiedeten Verfassungsvertrag der EU verbindet sich auch die Legitimität einer »ständig strukturierten Zusammenarbeit im Verteidigungsbereich«. Die einflussreichen Staaten wie Deutschland, Frankreich oder Spanien können so auf dem Weg einer »Koalition der Willigen« den Widerstand von fester an die NATO gebundenen Staaten übergehen. Ziel dieses EU-Macht-Projekts ist nicht eine im innerimperialistischen Krieg endende Herausforderung Nordamerikas. Die Formel der »westlichen Wertegemeinschaft« und die Entwicklung des vernetzten Kapitalismus repräsentieren auf gewisse Weise eine Lernfähigkeit des kapitalistischen Westens. Vorerst zielen die großen EU-Staaten in der NATO mit einer Art subversiven Solidarität auf mehr Einfluss innerhalb der Allianz. Das Schlagwort dazu heißt »gleichberechtigte Partnerschaft«. Es meint die Ausweitung des Einflusses der EU in der NATO durch die Option, auch ohne sie agieren zu können. Die Ankündigung des neuen US-Vize Joseph Biden auf der Münchner Sicherheitskonferenz, die USA werde nun vermehrt auf Dialog mit den Europäern setzten, signalisiert, dass dieses neue Kräfteverhältnis in der NATO von der neuen US-Administration vorerst akzeptiert wird. Ob sich daraus später neue Brüche und neue Koalitionen im Weltsystem ergeben und wie andere US-Regierungen mit dieser Entwicklungstendenz verfahren, wird in den nächsten zwanzig Jahren zu überprüfen sein.

Welche Kritik? 

Besonders die Entwicklung einer eigenständigen Sicherheitspolitik der kerneuropäischen NATO-Mitglieder bildet heute das Potential eines tiefergehenden Bruchs im Westen. Als weltweit tätiges Interventionsbündnis sowie als Kompromissfindungs- und Aushandlungsarena der Sicherheitsinteressen der westlichen Staatenwelt hat die Allianz allerdings gegenwärtig mehr Bedeutung als zu Zeiten eines identitätstiftenden Antikommunismus. Die NATO führt nicht nur Krieg und sichert Protektorate, in ihr verhandeln Nationalstaaten mit unterschiedlichem Einfluss über die konkrete Ausgestaltung von Sicherheit als Grundlage von Kapitalakkumulation und staatlichem Selbsterhalt. 

Die imperialismustheoretischen Stränge der NATO-Analyse, die entweder von einer Konkurrenz kapitalistischer Machtblöcke oder von einer US-geführten Kooperation ausgehen, vernachlässigen jeweils diesen Vermittlungsaspekt. Stattdessen interpretieren sie Formen von Kooperation oder Konflikt jeweils als Zeichen einer von einzelnen Kapitalfraktionen getriebenen Außenpolitik. Neben diesem gemeinsamen Manko ermöglichen sie in unterschiedlicher Weise eine Kritik der gegenwärtigen Weltordnungspolitik. Der Ansatz globaler Rivalität legt zumindest den Blick auf die Risse im transatlantischen Bündnis nahe und fördert so die kritische Wahrnehmung des europäischen Konkurrenzprojekts. Die zweite Sichtweise betont zwar richtigerweise allgemeine Interessen der kapitalistischen Zentren an einer globalen Weltwirtschaft, läuft aber dabei Gefahr, aufgrund eines starren US-zentrierten Analyseschemas die Ansätze eines »Euroimperialismus« und damit den Sprengsatz im Bündnis der westlichen Staaten zu unterschätzen. Eine Kritik deutscher Außenpolitik aus dieser Perspektive führt fast zwangsläufig zum Vorwurf, Deutschland und Europa wären Vasallen der USA. Ein sich aus dieser Abhängigkeit befreiendes Europa kann dann als emanzipatorischer Schritt missverstanden werden. Von den ideologischen Triebquellen des Euroimperialismus, die sich seit dem 2. Golfkrieg verstärkt und andauernd darum bemühen, in den USA den Weltfeind zu verorten und demgegenüber Europa als zivilisatorischen Fortschritt preisen, lässt sich diese Art der parteinehmenden Kritik nicht unterscheiden. Daraus die Konsequenz zu ziehen, man könne sich auf eine Ablehnung der deutsch-europäischen Machtpolitik zurückziehen und müsse demgegenüber die NATO als Garant deutscher Unterordnung verteidigen, wird dem Entwicklungsstand deutscher Machtentfaltung in der und durch die NATO aber ebenso wenig gerecht. So stellt die Kritik der NATO und der deutschen Rolle darin ein wirkliches Dilemma dar, welches dazu neigt von der Linken in die eine oder andere falsche Einseitigkeit aufgelöst zu werden.

~ Von Uli Schuster. Der Autor ist Mitglied der Leipziger Gruppe INEX.