Naziaufmärsche - Ein pragmatischer Umgang oder strategische Überlegungen

Streitgespräch zwischen dem Bündnis gegen Rechts Leipzig (BGR) und der Antifaschistischen Aktion Göttingen (AAM)

Seit der staatlichen antifaschistischen Offensive im Sommer 2000 gab und gibt es innerhalb der linken Gruppen unter anderem eine Diskussion über den Umgang mit Naziaufmärschen. Dabei könnte die Spannbreite der Positionen kaum größer sein. Einerseits ist von einer allgemeinen Sinnkrise und einem Ende der Antifabewegung die Rede, andererseits wird sich wieder auf das Konzept Antifa und seinem Ansatz des revolutionären Antifaschismus bezogen.

In dem Streitgespräch sollten die jeweiligen Positionen gegeneinander diskutiert werden. Dabei steht das BGR für eine Politik, die sich insbesondere kritisch mit der Zivilgesellschaft auseinandersetzt und nicht an deren Seite gegen Nazis vorgehen möchte und de facto keine Anti-Nazi-Mobilisierung mehr durchführt. Die AAM hingegen setzt weiterhin auf Bündnisse und eine Sichtbarmachung linksradikaler Positionen innerhalb dieser.

Das Streitgespräch wurde in einem Chat-Room von Phase 2-Leipzig geführt.
 

Unsere erste Frage geht an beide Gruppen:
Welchen Stellenwert hat "Anti-Nazi Politik" innerhalb eurer Politik?

BGR: Der Stellenwert von Anti-Nazi-Politik hat sich auf jeden Fall gewandelt. Innerhalb der letzen 3 Jahren haben wir uns noch deutlicher von der einseitige Fokussierung gelöst. Unser Zugang hieß, aus einer direkten Bedrohung heraus Politik gegen Nazis zu machen und darüber hinaus gesellschaftliche Zustände zu kritisieren.

AAM: Anti-Nazi-Politik ist ein unverzichtbarer Bestandteil unseres politischen Selbstverständnisses. Zum einen um Handlungsspielräume für uns selbst und andere Linke zu erhalten, andererseits bietet sich gerade dieses Themenfeld an, leicht zugänglich Menschen, Gruppen und Organisationen zu eindeutiger Positionierung zu zwingen. Und über dieses Vehikel hinaus gesellschaftliche Konflikte zu zuspitzen. Dabei ist es notwendig zwischen den Situationen vor Ort zu unterscheiden. Im Gegensatz zu Regionen, wo Nazis Dominanzcharakter haben, blieb uns meistens die Möglichkeit Ort und Zeitpunkt von Auseinandersetzungen mit Nazis sowohl gesellschaftlich als auch unmittelbar selbst zu bestimmen.

 

An das BGR schließt sich hier die Frage an, was das konkret heißt? Mobilisiert ihr gegen Nazi Aufmärsche oder setzt ihr andere Prioritäten für praktische Politik?

BGR: Natürlich bleiben Anti-Nazi-Aktivitäten Bestandteil unserer Politik. Jedoch bemessen wir unser konkretes praktisches Vorgehen an der Relevanz der Wirkung auf gesellschaftliche Prozesse. Wir denken, dass es nicht möglich ist über Anti-Nazi-Politik gesellschaftliche Zustände zu kritisieren, sondern suchen nach relevanteren Ansatzpunkten.
 

Was sind für euch "relevantere Ansatzpunkte"?

BGR: Relevantere Ansatzpunkte heißt, dass wir denken, dass die Wirkung von Nazis innerhalb der Gesellschaft isoliert und marginalisiert ist. Dass bedeutet aber trotz allem, auf konkrete Bedrohung zu reagieren. Relevantere Themenfelder sind für uns Themen, die sich in einer öffentlichen Auseinandersetzung befinden. Diese wollen wir aufgreifen, um daran eine Kritik an die gesellschaftlichen Zuständen zu formulieren und eine deutliche linke Position sichtbar zu machen. Dies haben wir mit verschiedenen Themenfeldern versucht, wie z.B. die Überwachungsgesellschaft, Zivilgesellschaftskritik oder Arbeitskritik.
 

Eine Frage an Göttingen: Setzt ihr also weiterhin auf das Konzept Antifa?

AAM: Wir setzen weiter auf unser Antifa-Konzept. D.h. wir mussten Anti-Nazi-Politik nie zum beherrschenden Aktionsfeld unserer Politik machen. Wir fänden es falsch einen Großteil des dadurch mobilisierbaren linken Spektrums dem liberalen Bürgertum zu überlassen. Und darüber hinaus finden wir es wichtig, dem Einzelnen die Möglichkeit der Positionierung zu geben und den radikalen Bruch mit den Verhältnissen zu provozieren.
 

Unserer Einschätzung nach, stehen eure beiden Gruppen für unterschiedliche Konzepte. Das BGR hat sich von der Bündnispolitik verabschiedet und mobilisiert nicht gegen Naziaufmärsche in der eigenen Stadt. Die M dagegen engagiert sich in Bündnissen gegen Nazis. Was kritisiert ihr an dem jeweiligen Ansatz der anderen Gruppe?

AAM: Noch einmal zu unserem Bündnisansatz, wir unterscheiden von Fall zu Fall welche Bündnisse wir eingehen und welche nicht. Daher haben wir in der Vergangenheit verschiedenste öffentliche Aktionsstrategien umgesetzt. Jedes Mal stellt sich die Frage neu, ob ein Bündnis zur Erweiterung des eigenen Handlungsspielraumes dient oder ob die Linke nur zum Schmiermittel für einen reibungslos verlaufenden Standort D verkommt. Entscheidender Punkt ist immer, ob der radikalen Linken ein eigenständiger Ausdruck verschafft werden kann, der nicht von der Mobilmachung der Zivilgesellschaft zu vereinnahmen ist.

BGR: Die AAM schielt auf ein liberales Bürgertum, um ihre Wirkungsmöglichkeiten zu vergrößern. Mal abgesehen davon, dass im Osten das liberale Bürgertum maximal „Die Grünen“- WählerInnen sind, stellt sich die Frage einer Kooperation nur an ausgewählten Punkten. Eine Zivilgesellschaft, wie sie sich formiert, artikuliert sich zunächst als selbstbewusstes Deutschland, dass aus der Geschichte gelernt hat. Im Brei der Zivilgesellschaft kannst du keine kapitalismuskritische Position artikulieren, du wirst als engagierter Demokrat oder als Demokratin wahrgenommen.
Innerhalb eines bürgerlichen Anti-Nazi-Bündnisses wird die antifaschistische Linke immer Schmiermittel bleiben.

 

Eine Frage dazu an die AAM: Habt ihr einen (konkreten) Minimalkonsens für die Mitarbeit in Bündnissen? Wie grenzt ihr euch inhaltlich ab (Antisemitismus, Anti-Amerikanismus)?

AAM: In Göttingen hat die Bündnispolitik ja eine lange Geschichte. In der Regel sind wir hier mit linksliberalen Einzelpersonen konfrontiert, die genau wissen wie wir drauf sind und was mit uns zu machen ist und was nicht. Daher sitzen wir hier auf Bündnissen in einer Position der relativen Stärke. z.B. konnten wir bei den letzten Anti-Nazi-Bündnissen Aufrufe verändern, sagen welche Gruppen wir dulden oder welche nicht, etc. Nichtsdestotrotz haben wir auch Bündnisse verlassen wenn wir etwas untragbar fanden.

BGR: Für weite Landstriche gilt jedoch, das OBM, Kirchen, linke Parteien und Gewerkschaften ihre ehrlich gemeinte antifaschistische Grundhaltung am lautesten artikulieren und das im Sinne von Standortpolitik. Vielleicht mag das in Göttingen funktionieren, ein Exportschlager wird das nicht!

AAM: Eine Antwort an das BGR. Genau das ist die Kernfrage in jedem Bündnis für uns. Es gibt dafür kein überregionales Patentrezept, der jeweilige Kontext entscheidet. Ein Kriterium ist für uns zum Beispiel, das Themen wie Rassismus oder völkische Verwertungsideologie, aus der Mitte der Gesellschaft kommend von uns innerhalb des Bündnisses in den Mittelpunkt gestellt wird und auch in den Bündnismobilisierungen vorzukommen hat. Zweiter Grundpfeiler ist, einen radikalen Ausdruck in der Aktionsform zu finden, der sich außerhalb der sog. demokratischen Spielregeln bewegt.

BGR: Daran zeigt sich das antifaschistisches Engagement nicht gleich Gesellschaftskritik bedeuten muss. Der Zusammenhang von rassistischen, faschistischen Äußerungen mit Rückendeckung der "Mitte der Gesellschaft" thematisiert auch die Heinrich Böll Stiftung ohne gesellschaftskritische Ambitionen

AAM: Im Gegensatz zur Heinrich-Böll-Stiftung ist diese Analyse ein Ausgangspunkt und nicht der Endpunkt unserer Gesellschaftskritik. Und gerade die Möglichkeit der Radikalisierung ist letztlich das Ziel unseres Agierens in diesem Kontext.

BGR: Das hieße ja über die Form der Auseinandersetzung den Inhalt bestimmen zu wollen. Das BGR setzt dabei jedoch auf eine inhaltlich Abgrenzung. Die öffentliche Wahrnehmung liegt nur bedingt in unserer Hand, auch bei noch so spektakulären Auftritten.

AAM: Zu der Frage nach Form und Inhalt. Über die Form der Auseinadersetzung wird gerade für die Linke die Außenwahrnehmung in den Medien und damit in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung bestimmt. Eine direkte militante Aktion lässt sich eben viel weniger in einen demokratischen Konsens integrieren. Hingegen ein noch so kapitalismuskritischer Redebeitrag doch nur als Beweis des herrschenden demokratischen Pluralismus herhalten muss.

 

In Leipzig wurde auf zivilgesellschaftliches Engagement bei Naziaufmärschen ja auch schon mit symbolischen Aktivitäten geantwortet. Also auf Aktionsformen gesetzt wurde, die sich vom zivilgesellschaftlichen Engagement nicht vereinnahmen lassen. Also Abgrenzung durch Form auch um den Nazis und den guten Menschen die Bilder zu stehlen?

BGR: Bedingt schon, jedoch benötigen wir diese nicht um dem "Zu-Vermittelnden" Gehalt einzuflößen.
 

Frage an Göttingen: Wie setzt ihr die Prioritäten eurer Aktivitäten? Am 1. Mai erschien euch der eigene Naziaufmarsch wichtiger als der 1. Mai in Berlin.

AAM: Zitat aus unserem Aufruf: "Und weiter ist es nicht nur für GöttingerInnen sinnvoll und praktisch möglich, am 1. Mai zunächst den Nazis den Vormittag zu versauen und dann abends in Berlin mit der revolutionären Demonstration um 18 Uhr einen lautstarken eigenständigen Akzent zu setzen." Und so war es auch.

BGR: Nazis den Vormittag zu versauen gut und schön, aber wo bleibt an dem Punkt das instrumentelle Verhältnis weitergehende Kritik zu formulieren?

AAM: Auf das BGR antwortend, um weitergehende Kritik überhaupt an potentielle AdressatInnen zu bringen, muss man sich erst einmal Gehör verschaffen. Unter der Parole "Keine Nazis sind auch noch keine Lösung" standen am 1. Mai die Bullen und die Stadt im Mittelpunkt unserer Kritik, sozusagen als für uns unmittelbare Vertreter des Staates und das haben nicht nur sie auch so verstanden.

 

Wir würden noch gern vom BGR konkret wissen: Warum übernehmt ihr bei Naziaufmärschen keine Verantwortung für anreisende Antifas (z.B. Infrastruktur)? Und unterstützt ihr noch das "Umland", das wahrscheinlich eine andere Realität bezüglich der Bedrohung hat?

BGR: Die Bedrohung, gerade im ländlichen Bereich hat sich nur punktuell gebessert. Aber es war schon immer unser Ansatz bestehende Strukturen zu unterstützen, dieser Anspruch ist zumindest unwiderrufen.
Nazis ist durch die gegenwärtige gesellschaftliche Situation die Möglichkeit genommen - ob ihre gesellschaftlichen Isolierung - Stichwortgeber zu sein, oder inhaltlich gesellschaftliche Auseinandersetzungen zu beeinflussen.

 

Mobilisiert die AAM auch gegen zivilgesellschaftliche Aktivitäten?

AAM: Praktisch haben wir z.B. die diversen Politikerauftritte in Göttingen gestört oder wie bei Fischer sogar zusätzlich noch zu einer Gegen-Demonstration aufgerufen. Insofern versuchen wir eigentlich ständig regional in tagespolitische Ereignisse einzugreifen, überregional leider symbolischer und zumeist auf publizistischen Ausdruck beschränkt.

BGR: Gerade die Erfahrungen in Leipzig verdeutlichen, dass hier nicht die Nazis das größte Problem sind, sondern die 10.000 Bürgerinnen und Bürger die auf Geheiß ihres OBM ihren Standort schützen und gleichzeitig mit dem Verweis darauf, aus der deutschen Geschichte geläutert hervorgegangen zu sein Deutschlands gewandelte Rolle in der Welt wahrnehmen.

 

Abschließend an beide Gruppen die Frage: Ist der Umgang mit Naziaufmärschen in eine strategische Diskussion eingebettet oder läuft das nebenher, weil man als Antifa eben den Nazis nicht die Strasse überlässt?

AAM: Von beidem ein bisschen. Zum einen sehen wir uns als organisierte Kraft in der Verantwortung, Beteiligungsmöglichkeiten jenseits des Zivilprotestes zu schaffen, auf unmittelbare Bedrohung zu reagieren und die jeweilige entstandene Aufmerksamkeit zu nutzen. Strategisch geht es um die Stärke und Schwäche linksradikaler Positionen im jeweiligen regionalen Kräfteverhältnis. Und das ist auch essentiell für alle weiterführenden politischen Aktionen außerhalb der Nazis. Und dabei gilt es ständig deutlich zu machen, dass die gesellschaftlichen Randakteure der NPD nicht das eigentliche Problem sind

BGR: Unser Umgang bemisst sich immer an der Frage, inwieweit eine linksradikale Position an dieser Stelle transportiert werden kann. Unsere Priorität ist es, eigene Inhalte zu setzen und außerdem innerhalb von Leipzig nicht in der Lage der alleinigen DienstleisterInnen für Antifa-Infrastruktur zu sein.

 

Die Phase 2, Leipzig Interviewerinnen bedanken sich bei der M und dem BGR für die Beteiligung an dieser neumodischen Diskussionsform.

AAM: Unser Schlusswort lautet: ZURÜCK AUF DIE STRASSE !

Phase 2 Leipzig