Nichts für schwache Nerven

In der vom Unrast Verlag herausgegeben Reihe transparent, die sich explizit an LeserInnen ohne Vorkenntnisse richtet, erschien der schmale Band Feministische Psychiatriekritik. Dieser gibt einen knappen Einblick in klassische Themenfelder des Gegenstandes und versucht diese mit einem herrschaftskritischen Ansatz zu versehen.

Hauptanliegen der Psychiatriekritik ist es, auf Gewaltverhältnisse in psychiatrischen Einrichtungen aufmerksam zu machen und Betroffene psychiatrischer Gewalt zu Wort kommen zu lassen. Ein anti-psychiatrischer Ansatz, wie die Autorin Peet Thesing ihn vertritt, besteht in der Ablehnung der Klassifizierung »psychische Krankheit« und der Instrumente ihrer Diagnosestellung. Durch starre Einordnung von Emotionalität, sozialem Verhalten oder sexuellem Begehren in die Kategorien von akzeptabel oder abweichend, unterliege das individuelle Erleben einem normierenden Eingriff. Diagnosestellungen würden zwar das Leiden an einem krisenhaften Zustand greifbarer machen, jedoch werde das Erleben der Betroffenen von einer schädigenden Pathologisierung überdeckt. Häufig führe dies direkt in die psychiatrische Praxis, die mehrheitlich auf Entmündigung und Zwang beruhe.

Eine feministische Perspektive innerhalb der Psychiatriekritik skizziert Peet Thesing anhand der Themen geschlechtsgebundene Diagnosestellung, Pathologisierung rollenuntypischen Verhaltens sowie den Auswirkungen von Sexismus und sexualisierter Gewalt. Deutlich lässt sich die Verschränkung der Bereiche am Beispiel der Diagnose einer Borderline-Persönlichkeitsstörung zeigen, die häufiger bei Frauen und Transpersonen gestellt wird. Kriterien für den Befund sind »deutliche Impulsivität«, »streitsüchtiges Verhalten«, »fluide Sexualität«, oder »Störung des Selbstbildes«. Die hier angelegten Symptome würden jedoch gesellschaftliche Vorstellungen einer »normalen« Lebensführung widerspiegeln. Deutlich zeigen sich laut Thesing die schädigenden Auswirkungen der Diagnosestellung insbesondere im Umgang mit Betroffenen sexualisierter Gewalt im psychiatrischen Kontext. Nicht nur diene die Kategorisierung von Verhalten dazu, die Schwere eines traumatischen Erlebnisses festzustellen, und somit einen Maßstab für Ausmaß und Umgang mit dem Erlebten vorzugeben. Auch könne sie dazu verwendet werden, Betroffenen ihre Wahrnehmung abzusprechen, sobald eine Persönlichkeitsstörung diagnostiziert wurde. Damit helfe das psychiatrische System sexistische Strukturen und Phänomene wie rape culture zu festigen. Im Kapitel My body, my choice? werden die beschriebenen Phänomene mit einer feministischen Forderung konfrontiert und die Autorin verdeutlicht, dass auch ein feministischer Zugang nicht frei ist von Pathologisierung und Normierung, wird doch ein abweichender Umgang mit dem eigenen Körper zumindest als »ungesund« betrachtet.

Der hier vertretene anti-psychiatrische Ansatz fokussiert darauf, das Gewaltförmige an der Normierung zu verdeutlichen. Nach dieser Setzung ist kein Platz für reformistische Ansätze der Psychiatriekritik, genauso wenig wie für Überlegungen zur Verbesserung von Arbeitsbedingungen und Ausbildung in psychiatrischen Einrichtungen oder die Frage, welche Potentiale feministische und queere Ansätze der Psychotherapie bieten können. Das psychiatrische System kann zwar Hilfestellung zur Bewältigung persönlicher Krisen geben, so die Autorin, im Fokus des Buches stehen jedoch Überlegungen zu Handlungsmöglichkeiten außerhalb des psychiatrischen Rahmens. Am Ende des Bandes findet sich ein kurzer Ausblick. Alternativen zum psychiatrischen System zu etablieren, etwa Orte, an die sich Betroffene in Krisensituationen wenden können, sowie letztlich die diskriminierenden Verhältnisse abzuschaffen, aufgrund derer sich Menschen in diesen Krisensituationen befinden, sind zentrale Forderungen.

Um jene Ideen weiterzuverfolgen, hätten Darstellungen der Arbeitskonzepte von Einrichtungen wie dem Weglaufhaus oder der Soteria (alternative Einrichtung zur Hilfe in psychotischen Krisen) nützlich sein können. Auch die Erfahrungen von Psychiatriegeschädigten in die Überlegungen zu integrieren wäre eine wertvolle Ergänzung gewesen. Im Vorschlag, Krisensituationen solidarisch miteinander zu lösen und Verantwortung zu übernehmen, bleibt unhinterfragt, wie eine dazu angerufene Community es schaffen kann, feministische Konzepte einzubringen oder mit psychischen Ausnahmesituationen umzugehen. Hier müsste auch die Diskussion Berücksichtigung finden, wie sich eine nicht pathologisierende Anerkennung von schädigendem Verhalten ausdrücken könnte. Weiterführende Verweise hätten dem Band geholfen, eine verlässliche Quelle zur Vertiefung dieser Fragen zu sein. Wenn es auch daran mangelt, so gibt Peet Thesing doch einen Überblick über zentrale Debatten der Psychiatriekritik und zeigt die tiefe Verankerung des psychiatrischen Zugriffs in den gesellschaftlichen Gewaltverhältnissen auf.

Anna Kubus

Peet Thesing: Feministische Psychiatriekritik, Unrast Verlag (Reihe transparent geschlechterdschungel, Band 9), Münster 2017, 84 S., € 7,80.