»Niemand spricht mehr über das Problem, für das G20 steht«

Interview mit Andreas Blechschmidt

 

Andreas Blechschmidt ist seit 1987 in der autonomen Szene in Hamburg politisch aktiv und seit 1989 Aktivist in der Roten Flora. Er hat die G20 Gegendemonstration Welcome-to-Hell, die im Rahmen des G20-Gipfels im Juli 2017 in Hamburg stattfand, mitinitiiert und angemeldet. Phase 2 Leipzig sprach am 8. Juli 2018, gut ein Jahr nach G20, mit Andreas Blechschmidt über die Wahrnehmung und Einordnung der Ereignisse um den G20-Gipfel, über politische Fehler, Verantwortung und Teilerfolge.

 

Phase 2        Im Nachgang der Proteste gegen den G20-Gipfel beeilten sich PolitikerInnen, massive Konsequenzen für diejenigen anzukündigen, die sie als Hauptverantwortliche für die Eskalation erachteten, die linksradikale Szene. Da es offensichtlich gar nicht so einfach ist, diese Szene personell zu bestimmen, waren es vor allem die mit ihr identifizierten Orte, auf die sich die geforderten Konsequenzen richten sollten. CDU-Generalsekretär Peter Tauber fand: »Die Frage, ob die Rote Flora oder hier in Berlin die Rigaer Straße noch eine Existenzberechtigung haben, ist […] durch diese Ausschreitungen beantwortet. Beide können aus meiner Sicht nicht länger geduldet werden.« Innenminister Thomas de Maizière fügte hinzu: »So etwas wie die Rote Flora, besetzte Häuser in Berlin und so etwas, was es in Connewitz in Leipzig gibt, kann man nicht hinnehmen.« In Berlin existiert zumindest die Rigaer weiter, Connewitz steht ebenfalls und auch die Rote Flora ist noch in Betrieb. War sie nach den Protesten tatsächlich von Räumung bedroht?

 

Andreas Blechschmidt        Das ist schwer zu sagen, aber ich glaube eigentlich nicht. Ich habe den Diskurs nach dem G20-Gipfel so wahrgenommen, dass man die Hoffnung hatte, es habe sich ein Zeitfenster geöffnet, in dem man alte, bestehende Rechnungen billig begleichen könnte. Die in der bürgerlichen Öffentlichkeit bestehende Empörung über die sogenannten Krawalle und Exzesse sollten dahingehend instrumentalisiert werden, zu sagen, das sei in Hamburg passiert, weil es ein linkes Milieu gibt, das das hervorbringt. Entsprechend hat es den Versuch gegeben, das zu kanalisieren und in politisches Kapital zu verwandeln. Das ist in der Vermittlung in den öffentlichen Diskurs aber nicht gelungen. Im Schanzenviertel herrschte eine andere Stimmung. Die Menschen in der Schanze haben das ganz anders wahrgenommen, als die Politik das verkaufen wollte. Für die Menschen waren die Auseinandersetzungen um G20 vor allem ein Ergebnis des Versuches, diesen Gipfel in Hamburg brachial durchzusetzen. Sie haben durchaus differenziert, dass die Auseinandersetzungen ein Ergebnis der Konfrontation mit den Herrschenden waren, auch wenn da keine große Solidarität drin war. In Hamburg hat viel weniger verfangen, dass die Rote Flora verantwortlich sei. Das hat der Hamburger rot-grüne Senat sehr schnell verstanden. Die Flora anzugreifen hätte bedeutet, eine ähnliche Konfrontation zu führen, wie man sie gerade um G20 hatte. Das wäre den politischen Interessen zuwidergelaufen. Deswegen hat Rot-Grün versucht, zurück zu rudern. Denn trotz der großen Empörung in Stadtverwaltung und bürgerlicher Presse wollte niemand so weit gehen zu sagen, wir wollen Rache üben und deswegen muss jetzt die Rote Flora über die Klinge springen.

 

Phase 2        Im Zuge der erwähnten Äußerungen wurden ja nicht nur spezifische Orte identifiziert. Die im Anschluss an den Gipfel vor allem von Olaf Scholz geäußerte Ankündigung, die nötigen Lehren für die Zukunft zu ziehen und mit aller Konsequenz gegen die StraftäterInnen vorzugehen, scheint der Staat zunehmend in die Tat umzusetzen. Die gebildete Sonderkommission »Schwarzer Block« hat in der jüngeren Vergangenheit Tatverdächtige identifiziert und im Mai und Juni 2018 mehrere Razzien durchgeführt und Haftbefehle vollstreckt. Was für eine Zwischenbilanz lässt sich hinsichtlich der Strafverfolgung ein Jahr nach dem Gipfel ziehen?

 

Andreas Blechschmidt        Zum einen war der Diskurs der Inneren Sicherheit, Law and Order, immer die Achillesferse der regierenden Hamburger SPD. Sie hat deswegen 2001 die Macht an ein populistisches Bündnis verloren. Als sie mit Olaf Scholz 2011 wieder ans Ruder gekommen ist, war immer klar, dass man sich in diesem Bereich von rechts nicht mehr den Schneid abkaufen lassen will. So muss man auch die Reaktionen von Scholz nach G20 werten. Er hat gemerkt, dass der Diskurs möglicherweise in die Richtung geht, die SPD könne keine innere Sicherheit garantieren. Das erklärt aus meiner Sicht seine harte Rhetorik. Aber wie so oft in der Politik, letztlich gibt es doch immer eine Differenz zwischen Theorie und Praxis. Scholz musste zum einen feststellen, dass er für seine öffentliche Behauptung, in Strukturen wie der Roten Flora seien die Verantwortlichen und LenkerInnen der Proteste zu finden, nicht den Nachweis führen konnte. Was ja nur logisch ist – handelt es sich doch um eine Bewegung, die nicht zentralistisch funktioniert, die undogmatisch und nicht unbedingt greifbar ist. Insofern hat sich der Fokus im öffentlichen Diskurs auf die Formel »Wir kriegen euch alle« verschoben. Das ist die diffuse Drohung: Wer sich hier öffentlich der Ordnung entgegenstellt, gar die Auseinandersetzung mit der Polizei sucht, muss mit Konsequenzen rechnen. Das erklärt den nun betriebenen Aufwand. Die SoKo Schwarzer Block ist die größte polizeiliche Sonderkommission, die es in Hamburg seit 1949 gegeben hat. Gerade heute hat Innensenator Andy Grote in den Medien recht breitschultrig verkündet, man sei nach G20 in Sachen Strafverfolgung so gut aufgestellt, dass linksradikalen StraftäterInnen geraten sei, in Zukunft einen großen Bogen um Hamburg zu machen.

 

Phase 2        Mediale Beachtung hat insbesondere das Verfahren gegen den aus Italien stammenden Fabio V. gefunden. Dem erst 18-Jährigen wurde vorgeworfen, am Rande einer Demonstration im Vorfeld des Gipfels Gewalttaten begangen zu haben. Auch wenn die Linke schnell darin war, den Prozess – durchaus ja mit einiger Berechtigung – zu skandalisieren, wurde bislang nie über die eigene Rolle gesprochen. Trägt eine Linke, die mit markiger Rhetorik zu radikalen Protesten aufruft, nicht auch eine gewisse Verantwortung dafür, wenn unerfahrene, jugendliche AktivistInnen in Konflikt mit der Justiz geraten und so möglicherweise für den Rest ihres Lebens – zumeist allein – mit den Konsequenzen zurechtkommen müssen?

 

Andreas Blechschmidt       Auf diese Frage muss man auf verschiedenen Ebenen antworten. Zum einen steckt in ihr meiner Meinung nach etwas durchaus Paternalistisches, denn sie suggeriert, dass Fabio nicht gewusst habe, auf was er sich einlässt. Das war aber nicht der Fall. In dem Prozess hat er sich selbst sehr politisch verortet. Fabio ist ein politischer, proletarischer junger Genosse, der sich bewusst entschieden hat, nach Hamburg zu gehen, und bewusst gesagt hat, »ich bin Teil der linksradikalen Proteste«. Insofern ist die Sorge, ob man nun Leute nach Hamburg gelockt und instrumentalisiert habe, in diesem konkreten Fall nicht berechtigt. Andererseits – und da würde ich euch durchaus zustimmen – wäre es sicher dringend notwendig gewesen, im Vorfeld ausländische AktivistInnen deutlicher darüber zu informieren, wie hier das Recht funktioniert. Ähnlich wie Fabio wussten viele, die nicht aus Deutschland kamen, zum Beispiel nicht, dass der Tatbestand des Landfriedensbruchs nicht voraussetzt, selber strafbare Handlungen begangen zu haben, sondern dass die bloße Anwesenheit ausreicht, um so behandelt zu werden, als hätte man sie begangen. Das erklärt aus meiner Sicht auch den Umstand, dass es sich bei fast allen Inhaftierten, die im Anschluss als zur Strecke gebrachte Täter präsentiert wurden, um ausländische AktivistInnen handelt, wie eben auch in Fabios Fall. Aufseiten der Antirepressions- und Vorbereitungsstrukturen in Hamburg hat man darauf im Vorfeld nicht ausreichend geachtet, das muss man auf jeden Fall kritisieren.

 

Phase 2       Augenfällig ist, dass sich die Mehrzahl der ersten Verfahren gegen Leute richtete, die auf den im Anschluss an die Ausschreitungen am Freitagabend im Schanzenviertel veröffentlichten Bildern identifizierbar waren. Man könnte den Eindruck gewinnen, es habe sich bei ihnen vor allem um Personen gehandelt, die vorab nur geringfügig politisiert waren, die wenig Erfahrung in organisierten Gruppen und mit der Vermeidung von Strafverfolgung hatten. Es trifft, um es zuzuspitzen, jene, die keine linksradikale Vorbildung hatten, die sich vom Geschehen haben ansprechen und mitreißen lassen. Also eigentlich jene, die Massenproteste auch adressieren, für sich gewinnen oder agitieren wollen. Sind die organisierten Teile der Proteste hier nicht auf zynische Weise ignorant? 

 

Andreas Blechschmidt        Dem würde ich tatsächlich widersprechen. Das wird nicht der Dynamik gerecht, die es in diesen Tagen in Hamburg gegeben hat. In der Nacht vom Freitag auf den Samstag, als sich die Polizei für Stunden nicht mehr in das Schanzenviertel hineintraute, entfaltete sich eine Dynamik, die niemand vorausgesehen hat. Es gab ja keinen Plan, die Polizei an diesem Abend genau an dieser Stelle gezielt anzugreifen oder in eine Konfrontation zu verwickeln. Was passiert ist, war das Ergebnis des polizeilichen Agierens der Woche zuvor. Seit dem vorangegangenen Sonntag, dem 2. Juli, hatte die Polizei keinen Moment ausgelassen, deutlich zu machen, dass sie jeden Protest von der Straße prügeln würde. Und genau das hat sie dann in die Tat umgesetzt. Offenbar hat sie gehofft, dass sie mit dieser aggressiven und eskalierenden Polizeistrategie all denen, die trotzdem nach Hamburg gekommen sind, das Signal senden: »Wenn ihr nicht pariert, dann fegen wir euch von der Straße«. Am Tag zuvor war die Welcome-to-Hell-Demo brutal aufgelöst worden, an dem Tag selbst waren alle Blockadeversuche, die ja niemals das Potenzial hatten, den Gipfel in seinem Verlauf ernsthaft zu stören, immer wieder massiv angegriffen worden. Daraus hat sich am Freitagabend ohne konkrete Planung eine Eigendynamik ergeben. Ich würde sogar sagen, das war ein Riot – und der folgte Gesetzmäßigkeiten, die für viele nicht mehr berechenbar waren. Soweit Leute im Nachhinein dadurch kriminalisiert worden sind, würde ich das der Dynamik der Situation schulden. Man muss aber auch sagen – und damit müsste man sich in der linken und linksradikalen Szene auseinandersetzen –, dass das auch ein Produkt unseres Medienzeitalters ist. Nie sind so viele Dinge in den sozialen Medien hochgeladen worden. Genau daraus hat die Polizei geschöpft, indem sie einen öffentlichen Aufruf gestartet hat, man möge sein Bildmaterial zur Verfügung stellen. Dem sind tatsächlich viele gefolgt. Darüber hinaus stellten die Strafverfolgungsmethoden der Hamburger Polizei ein Novum dar. Mit entsprechenden Gesichtserkennungssoftwares hat sie Terabytes an Bildern und Videos gescannt und durchgerastert. Viele der nachträglichen Verhaftungen waren das Ergebnis. Das wäre vor fünf Jahren noch völlig unvorstellbar gewesen. Ich glaube, das war so nicht voraussehbar.

 

Phase 2        Etwas leichter voraussehbar waren einige legislative und damit deutlich allgemeinere Konsequenzen, die der Gipfel nach sich gezogen hat. Eine davon ist die neue Festnahmeeinheit der Hamburger Polizei, eine andere gewissermaßen das neue Polizeiaufgabengesetz in Bayern, das die dortigen Sicherheitsbehörden mit umfangreichen, bisweilen verfassungsrechtlich bedenklichen Kompetenzen ausstattet. Stellen sich die Proteste als rechtlicher Bumerang heraus?

 

Andreas Blechschmidt        Das so darzustellen, finde ich politisch falsch. Denn wenn man dieser Behauptung, dass man es mit Protesten überspanne, auf den Leim geht, entledigt man sich jeder Möglichkeit, grundlegend und mit der Systemfrage im Gepäck deutlich zu machen, dass die Verhältnisse so, wie sie sind, nicht hinnehmbar sind, dass es einer Veränderung dieser kapitalistischen Gesellschaftsordnung bedarf. Insofern ist die Frage von der falschen Seite her gestellt. Aber natürlich muss man die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse reflektieren. Man muss sich darüber im Klaren sein, dass militante Proteste eine Herausforderung sind, dass sie auf diskursive oder affektive Art eine Machtfrage stellen. Diese Machtfrage wird natürlich nicht ernsthaft gestellt, aber die Ordnung wird durch die bewusste Regelübertretung in Frage gestellt – und darauf reagiert der Staat. Hinsichtlich der Fähigkeit, diese Reaktionen einschätzen zu können, habe ich bezüglich der radikalen Linken so meine Bedenken und im Anschluss an G20 eher den Eindruck einer Selbstüberschätzung gewonnen.

 

Phase 2        Der Staat verfährt ja aber schon seit geraumer Zeit genau so, also indem er auf Regelübertretungen mit der Verschärfung von Regeln reagiert. Zumindest in Hamburg gab es jedoch eine durchaus überraschende Wendung: Im Nachgang der Proteste – auch als Reaktion auf die zahlreichen Vorwürfe gegenüber PolizeibeamtInnen aufgrund von Rechtsverstößen – wurde erst kürzlich bekanntgegeben, dass die Kennzeichnung von PolizistInnen eingeführt werden soll. Hat es also nicht doch auch Erfolge gegeben?

 

Andreas Blechschmidt        Ich glaube, dass die Kennzeichnungspflicht leider kein Erfolg ist. Ich finde sie richtig, da es nie schädlich ist, Polizeigewalt mit den Instrumenten des bürgerlichen Rechts skandalisieren zu können. Ich formuliere das so zurückhaltend, da es in den vergangenen 25 Jahren in Hamburg durchaus Fälle gab, in denen Polizeibeamte, die unstrittigerweise Polizeigewalt ausgeübt haben, namentlich bekannt waren und nicht dafür belangt wurden. Das bekannteste Beispiel ist der Fall des NDR-Journalisten Oliver Neß aus den 90er Jahren. 2001 wurde Beamten Scheinhinrichtungen bei festgenommenen Tatverdächtigen vorgeworfen, und auch die wurden letztlich freigesprochen. Das heißt, die Kennzeichnungspflicht ist eine Beruhigungspille für die restliberale Öffentlichkeit. Gewissermaßen ist sie auch das Eingeständnis, dass es in Hamburg im Rahmen des G20 Polizeigewalt gab, die sich nicht aufklären ließ, da die Beamten anonym geblieben sind. Aus meiner Sicht ist das eine der wenigen Konzessionen, die der Hamburger Senat der Öffentlichkeit gegenüber gemacht hat. Ganz nach dem Motto: Auch wir haben aus den Vorfällen unsere Lehren gezogen. Die Kennzeichnung wird aus einer sechsstelligen Zahl bestehen, die muss man sich erstmal merken. Und selbst wenn die Beamten identifiziert sind, heißt das ja noch lange nicht, dass es einen ernsthaften Willen zur Strafverfolgung gebe. Alle Erfahrungen laufen darauf hinaus, dass die allermeisten Verfahren am Ende eingestellt werden. Die Kennzeichnungspflicht nun als Erfolg der G20-Proteste zu reklamieren, fände ich ein bisschen armselig.

 

Phase 2        Es hat allerdings einige Stimmen gegeben, die die Proteste im Nachhinein als großen Erfolg gefeiert haben, zum Beispiel Emily Laquer von der Interventionistischen Linken (IL). Auch wenn sich die Bedeutung der Ereignisse erst in einigen Jahren gänzlich klar bestimmen lassen werde, sei schon jetzt klar, dass der IL Interessierte die Bude einrennen würden, sagte sie im April der taz. Die Frage, ob der Preis, den die Linke zahlen musste, zu hoch gewesen sei, stelle sich daher erst gar nicht. Vielmehr geht sie davon aus: »Man muss den Preis einkalkulieren, aber er darf einen nicht davon abhalten zu kämpfen.« Du hingegen hast die Ereignisse in Hamburg in der Analyse & Kritik kürzlich als Pyrrhussieg bezeichnet. Das wirft gewissermaßen zwei Fragen auf. Zunächst: Was daran war ein Sieg? Und zweitens: Warum gehst du davon aus, dass es »noch so einen Sieg« bräuchte, und wir wären verloren?

 

Andreas Blechschmidt        Den G20 hat sich in Hamburg niemand ausgesucht, außer Olaf Scholz. Trotz allem ist es durch die Proteste gelungen, dass sich Bilder des Protestes – die brennenden Rauchsäulen über dem Hamburger Westen am Freitagmorgen, der Riot im Schanzenviertel am Freitagabend – in das öffentliche Gedächtnis eingeschrieben haben. Und das sind Bilder des Widerspruchs, des Protestes und von in den öffentlichen Raum getragener Militanz. Ich glaube, dass alle Verantwortlichen von dem Gedanken geheilt sind, ein ähnliches Ereignis sei in einer Großstadt in der Bundesrepublik nochmal durchführbar. Insofern kann man schon sagen, dass wir ihnen die Suppe ordentlich versalzt haben und sie mit dem Gipfel in Hamburg keine Propagandashow präsentieren konnten. Das kann man als Sieg bezeichnen.

 

Phase 2        Aber liegt in dem Moment – zumindest, wenn man von einem im emphatischen Sinne liberalen Demokratieverständnis ausgeht –, einen solchen Gipfel in einer Großstadt abzuhalten, wo also noch so etwas wie ein Austausch zwischen Regierungen und zivilgesellschaftlichen, außerparlamentarischen Gruppierungen denkbar ist, nicht auch etwas, an dem festzuhalten lohnenswert wäre? Hier gäbe es doch zumindest der Anlage nach die Möglichkeit politischer Einflussnahme, Austausch oder Partizipation.

 

Andreas Blechschmidt        Ich will das jetzt mal als rhetorische Frage verstehen. Denn aus meiner Sicht würde man damit ja einem inhumanen, gewalttätigen und kriegerischen System eine Legitimität verleihen, die es aus meiner Sicht überhaupt nicht hat. Und jetzt kann ich eigentlich nur Flugblatttexte der Gegenmobilisierung paraphrasieren, wenn ich sage, der G20 ist nicht Teil einer Lösung der weltweiten Probleme, sondern deren Ursache. Insofern fand ich es völlig richtig, sich nicht an den zivilgesellschaftlichen Dialogversuchen zu beteiligen, denn diesen Dialog kann es im Kapitalismus gar nicht ernsthaft geben. Im Umkehrschluss – und damit komme ich auf den Pyrrhussieg zu sprechen – ist es nicht gelungen, eine ernsthafte politische Alternative zu formulieren. Und das fände ich viel wichtiger. Die Gegenproteste – und da bin ich auch ein Teil des Problems, denn ich weiß es auch nicht besser – waren nicht in der Lage, auch nur ansatzweise ein Narrativ in die Öffentlichkeit zu tragen, das den Menschen eine Ahnung dessen vermittelt hätte, warum man die Politik der G20 angreifen müsse. Meinem Eindruck nach war das vielmehr ein Zurückfallen in Proteste, deren Inhalte letztlich niemand mehr wahrgenommen hat. Die Welcome-to-Hell-Demo hat mit einer zweistündigen Auftaktkundgebung begonnen, bei der AktivistInnen aus Mexiko, Russland oder der Türkei versucht haben, das Problem, für das G20 steht, zu benennen und in den weltweiten Kämpfen abzubilden. Darüber hat am Ende aber niemand mehr berichtet, denn es ging nur noch um die Fragen: Hat sich der Schwarze Block entmummt oder nicht? Und durfte die Polizei die Demo so brutal auflösen? Auch bin ich – und das ist der zweite Teil des Pyrrhussiegs – darüber entsetzt, wie der Riot im Schanzenviertel in der linksradikalen Szene rezipiert wird. Ich sehe dahinter einen großen Mangel an theoretischer Auseinandersetzung mit dem, was ein Riot ist. Der ist nämlich erstmal nur ein Statement, er adressiert nichts. Er ist vielmehr der unbändige Ausdruck des Widerspruchs zum herrschenden System, um das mit Karl-Heinz Dellwo zu sagen. Aber die Rezeption in der Linken tendiert – gewissermaßen in den rhetorischen Fußstapfen des Unsichtbaren Komitees – dahin, in den Riots das Aufscheinen des Aufstandes zu sehen, den ersten Schritt, hier und jetzt die Machtfrage zu stellen und eine Veränderung der Verhältnisse umzusetzen. Das finde ich dürftig, politisch angreifbar und geht völlig an den realen Kräfteverhältnissen vorbei. In diesem Sinne ist es Ausdruck einer Niederlage, wenn man sich politisch-strategisch positiv auf die Riots in Hamburg bezieht.

 

Phase 2        An den Riots selbst hast du nachträglich einiges kritisiert. Beispielsweise, dass Brandsätze in Geschäfte geworfen wurden, über denen sich Wohnungen befanden, oder dass versucht wurde, eine Tankstelle in Brand zu setzen. Wenn man sich aber die vorab kursierenden Aufrufe vergegenwärtigt, den zu der von dir angemeldeten Welcome-to-Hell-Demo sowie einige weitere, vornehmlich aus dem autonomen und anarchistischen Spektrum, entsteht der Eindruck, dass hier mit rhetorischen Schwergewichten operiert wurde: »Hamburg sehen, solange es noch steht!« oder der Wunsch, »die Herrschenden dieser Welt« in der Hölle willkommen zu heißen. Wenn man solche Metaphern aufbaut, muss man dann nicht auch damit rechnen, dass Leute diese Metaphern in die Tat umsetzen?

 

Andreas Blechschmidt        Ja, damit muss man offensichtlich rechnen. Ich möchte das in zwei Richtungen beantworten. Zum einen finde ich es richtig, eine unversöhnliche Haltung deutlich zu artikulieren. Wir bewegen uns in einem politischen Feld, in dem es wichtig ist, Widerspruch wahrnehmbar zu machen. Ich finde es richtig, das unter den Aspekten politischer Kommunikation im öffentlichen Raum zuzuspitzen. Weil ich der Meinung war und bin, dass die Verhältnisse höllisch sind, habe ich das Motto Welcome to Hell immer verteidigt. Im übertragenen Sinne sollte den Verantwortlichen die Hölle heiß gemacht werden. Jeder weiß, dass wir zu mehr nicht in der Lage sind, als erstmal verbale Kraftmeierei zu betreiben. Das im Nachhinein darin umzumünzen, es sei damit dazu aufgerufen worden, Hamburg in Schutt und Asche zu legen, finde ich Kindergartenkram. Trotzdem haben wir eine Verantwortung für das, was wir politisch mit anschieben. Die Auseinandersetzung mit der Polizei zu suchen, war in der Logik dieser Woche konsequent. Damit hatte ich kein Problem, auch wenn das natürlich nicht den kapitalistischen Widerspruch auflöst. Aber es gibt für mich eine politische Moral und klare Kriterien dafür, was vermittelbar ist. Das Anzünden von Geschäften, über denen sich Wohnungen befinden, oder der ernsthafte Versuch, in einem Wohnviertel eine Tankstelle in Brand zu setzen, ist für mich als Teil der radikalen Linken ein absolutes No-Go, es ist völlig sinnbefreit. Der gegenwärtig entscheidende Punkt ist, dass in der Auseinandersetzung um diese Fragen in der Hamburger radikalen Linken etwas auseinanderfällt. Da wird klar geäußert, man dürfe sich nicht öffentlich von solchen Aktionen distanzieren, weil man der Gegenseite so die Möglichkeit der Spaltung an die Hand gebe. Karl-Heinz Dellwo erhebt das Nicht-Distanzieren gar zu einem politischen Paradigma. Da muss man ganz deutlichen Widerspruch formulieren. In Hamburg ist das aber noch lange nicht geklärt und läuft gerade eher darauf hinaus, sich gegenseitig die politische Integrität abzusprechen. Seit die Flora in der Nacht des Riots darauf verwies, dass sie zwar mit den militanten Auseinandersetzungen kein Problem habe, es aber nicht als emanzipatorisch erachte, alle in Angst und Schrecken zu versetzen oder gar Wohnhäuser anzuzünden, wird ihr unterstellt, sie habe sich gänzlich von der Militanz distanziert. Es wird weder im von Dellwo herausgegebenen Buch Riot – Was war da los in Hamburg? noch in der autonomen Broschüre Rauchzeichen anerkannt, dass es eine Differenzierung gab. Dass diese Differenzierung innerhalb der radikalen Linken momentan nicht möglich ist, finde ich alarmierend. Anstatt sich solidarisch über diese Punkte zu streiten, dominiert in der Szene das Narrativ eines erfolgreichen Protests, da die ­Riots gezeigt hätten, dass man auch im 21. Jahrhundert noch in einer Metropole den Kapitalismus militant in Frage stellen könne. Das ist aus meiner Sicht zu wenig.

 

Phase 2        Aber geht das denn auf? Einerseits beziehst du dich positiv auf den Symbolgehalt der Rauchwolke über Hamburg als Ausdruck des politischen Widerspruchs. Auf der anderen Seite weist du darauf hin, dass die politischen Inhalte – wenn man das so zuspitzen möchte – von dieser Rauchwolke medial umnebelt worden sind. Müsste man die Praxis dieser Linken nicht hinterfragen?

 

Andreas Blechschmidt        Was das Hinterfragen betrifft, sind wir auf einer Linie. Was ich politisch falsch finde, ist, sich gegeneinander auszuspielen. Und das impliziert meines Erachtens deine Frage. Für mich gibt es die darin aufgemachte Dichotomie nicht. Gerade wenn man sich im außereuropäischen Ausland, genauer, in den gemeinhin als Peripherie oder Schwellenländer bezeichneten Regionen, bewegt und mit den Leuten spricht, wird schnell deutlich, dass es für sie von großer Bedeutung ist zu wissen, dass es in den Metropolen Widerspruch gibt. Dieser symbolische Gehalt ist für mich äußerst wichtig. Denn ich bin der Meinung, dass die Frage, ob dieses System weiter fortbesteht, nicht durch den Aufstand in den Metropolen geklärt wird. Die kann es nur geben, wenn sich Kämpfe international verbinden. Allerdings bin ich da ganz der Meinung Herbert Marcuses: Die Niederringung des Kapitalismus ist ein Generationenprojekt. Auch wenn ich nicht glaube, dass ich das selbst erleben werde, möchte ich mich mit meinen Haltungen und Kämpfen in eben jene lange Linie einreihen. Militante Aktionen wie jene in Hamburg haben – bei aller Berechenbarkeit, bei aller Begrenztheit – manchmal doch das Potenzial, Spielräume für Destruktion und Widerspruch zu eröffnen. Ein Ansatz, der erstmal einen Schritt zurücktritt, der in die gesellschaftlichen Debatten interveniert, ist sicherlich nie verkehrt. Deshalb glaube ich, dass man nicht auf die Option militanter Praxisformen verzichten darf. Man muss aber gleichzeitig die politische Größe haben, für diese Formen die Verantwortung zu übernehmen. Mit Blick auf die Freitagnacht in Hamburg hapert es aber genau hieran. Bisweilen haben die Anwürfe fast schon stalinistische Züge angenommen, indem zum Beispiel die Äußerungen der Roten Flora unmittelbar nach dem G20 komplett unterschlagen wurden.

 

Phase 2        Einige der vorab kursierenden Aufrufe, die darin vorgenommenen Feindbestimmungen von »Pfeffersäcken« und »Millionären« – deren Adressen gleich mit der Aufforderung zu Hausbesuchen veröffentlicht wurden – und die personifizierende Kapitalismuskritik erinnerten bereits im Vorfeld eher an die stalinistischen Zeiten linker Geschichte. Es scheint im Rückblick so, als seien diese Ankündigungen zumindest in Ansätzen am Freitagmorgen auf der Elbchaussee in die Tat umgesetzt worden. Wie lässt sich die Grenze zwischen legitimen Protestformen und solchen, die in ihr reaktionäres Gegenteil umschlagen, unterscheiden?

 

Andreas Blechschmidt        Indem die Wahl der Mittel und die Vermittelbarkeit reflektiert, diskutiert und kritisch hinterfragt werden. Um es konkreter zu machen: Die politische Stoßrichtung der Aktion am Freitagmorgen bei der 200 Menschen durch den, plakativ gesagt, eher proletarisch geprägten Teil von Altona gegangen sind, um dabei 19 Autos anzuzünden und Geschäfte zu entglasen, war doch ganz eindeutig. Sie sollte die Behauptung der Polizei, sie habe die Kontrolle über die Stadt und könne den kapitalistischen Normalzustand schützen, dementieren. Das fand und finde ich politisch nachvollziehbar – nur die Art und Weise eben nicht. Die Elbchaussee in Hamburg ist der Inbegriff der Millionärs- und Pfeffersäcke-Gegend. Nur jener Teil, in dem sich die Aktion dann abgespielt hat, ist eben der eher proletarische Abschnitt mit Mietswohnungen, in dem dann auch vornehmlich Kleinwagen abgefackelt wurden. Das war nicht nur ein Kollateralschaden, sondern ein politischer Fehler. Denn das eröffnet ein Narrativ, das politisch aus einer vollkommen anderen Ecke kommt. Nämlich, dass nichts mehr berechenbar ist, dass nicht mehr garantiert werden kann, ob Wohnungen angezündet werden oder die Feuerwehr noch durchkommt, um Menschen zu retten. Das ist tatsächlich etwas, das ich für politisch extrem gefährlich halte. Man muss für militante politische Aktionen einstehen und begangene Fehler klar benennen, um sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Es geht nicht darum, den Menschen, die am Freitagmorgen auf der Straße waren, die Solidarität zu entziehen oder sie zu denunzieren. Man muss aber formulieren können, dass man das für einen politischen Fehler hält, für etwas, das so in Zukunft nicht funktioniert.

 

Phase 2        Aber tendieren nicht gerade diese aktionistischen, militanten Teile der radikalen Linken dazu, unkontrollierbar zu sein, Racketstrukturen auszubilden und nicht an den Debatten teilzunehmen?

 

 

Andreas Blechschmidt        Erstmal ist Unkontrollierbarkeit ja nicht schlecht. Sie darf aber nicht heißen, sich der politischen Haltung zu entziehen. Subversive Aktionen gab es in der radikalen Linken schon immer. Gerade in der Geschichte der Hamburger Linken hat es in den Protesten der Hafenstraße, während der Entstehung der Flora oder den Bambule-Aktionen immer Momente gegeben, in denen militante Formen selbsterklärend Möglichkeitsräume geöffnet und Kommunikation in der Stadtöffentlichkeit geschaffen haben. Vor allem haben linke Proteste der Gegenseite immer wieder deutlich gemacht, dass sie eben nicht allmächtig ist und damit kalkulieren muss, einen Preis zu zahlen. Natürlich haben auch die Auseinandersetzungen im Rahmen des G20 verdeutlicht, dass der Schutz der Staatsgäste höhere Priorität hatte als alles andere. Ich finde, das ist eine Lehre, die man produktiv wenden kann. Daher wäre es aus meiner Sicht verfehlt, zu sagen, das waren alles Heißsporne und das, was sie gemacht haben, war politisch unverantwortlich.

 

Phase 2        Aber ist es denn legitimierbar, das Argument, der Staat schütze die Staatsgäste, aber nicht seine BürgerInnen, auf dem Rücken von Unbeteiligten auszutragen?

 

Andreas Blechschmidt        Naja, es war ja sicherlich nicht das Ziel, die Autos anzuzünden, um den BürgerInnen vor Augen zu führen, dass sie vom Staat keine Hilfe zu erwarten haben. Ich kann über die Motive nur Vermutungen anstellen, da ich nicht an der Aktion beteiligt gewesen bin – um das klarzustellen. Ich vermute wie gesagt, dass die Aktion den politischen Kontrollverlust vorführen wollte, in der Ausführung ist man aber aus meiner Sicht zu kurz gesprungen. Natürlich ist die Frage nach Unbeteiligten immer ein Teil der Debatte, den militante Aktionen berücksichtigen müssen.

 

Phase 2        Vorhin haben wir bereits kurz über die Alternativen zum bestehenden Gesellschaftssystem gesprochen. Angesichts der gegenwärtig völlig fehlenden Aussicht auf eine progressive Überwindung der Verhältnisse stellt sich die Frage, ob der Kapitalismus, der massive Ungerechtigkeiten, aber eben auch weltweit steigende Lebenserwartung, verbesserte Gesundheitsversorgung und zunehmenden Bildungschancen breiter Teile der Weltbevölkerung mit sich bringt, im Sinne des Erreichten gegen seine negative Aufhebung zu verteidigen wäre; ob eine Linke, wie sie sich auch mit den eher dystopischen Bildern der Riots gegen G20 präsentiert hat, tatsächlich darüber hinausgehen könnte und nicht dahinter zurückfallen würde?

 

Andreas Blechschmidt        In Anlehnung an Ronald Schernikau würde ich mal sagen: Die Niederlage des Kommunismus ist kein Argument gegen den Kommunismus. Ich finde diese Formel sehr sympathisch und noch dazu sehr richtig. Denn all das, was ihr gesagt habt, die steigende Lebenserwartung usw., möchte ich überhaupt nicht in Frage stellen. Das gilt natürlich insbesondere für die Metropolen hier, aber auch in den Metropolen der sogenannten Schwellenländer hat sich der Lebensstandard erhöht. Trotzdem bleibt die Frage, um welchen Preis diese vermeintlichen Fortschritte erlangt wurden. Und ich glaube nach wie vor, dass dieser Preis zu hoch ist. Natürlich versucht der Kapitalismus sich gerade in den Metropolen über diese Verbesserungen Legitimität zu verschaffen. Es muss Alternativen dazu geben, weil zu viele Menschen von all diesen Verbesserungen nach wie vor ausgeschlossen sind. Im Umkehrschluss der Frage aber dafür zu plädieren, sich in den Verhältnissen einzurichten, erscheint mir wie eine sehr europäische Perspektive, die ich aus meinen internationalistischen Erfahrungen nicht teilen will. Ich glaube nicht, dass man den Kapitalismus reformieren kann, sondern dass es geschichtlich nach wie vor richtig ist, die Hoffnung auf eine menschliche Alternative zum gegenwärtigen System nicht aufzugeben.

 

Phase 2        Vielen Dank für das Gespräch.