Nun sag, wie hast du’s mit dem Staat

Zum Spannungsverhältnis politischer und menschlicher Emanzipation

Karl Marx warf in Bezug auf die Judenemanzipation des 19. Jahrhunderts die Frage nach der Art der Emanzipation auf. Während die politische eine Emanzipation durch den Staat und im Staat meint, zielt die menschliche auf die Emanzipation vom Staat, der seine von der Gesellschaft getrennte Form verlieren soll. Die politische Form der Emanzipation, die Marx aus den bürgerlichen Revolutionsbewegungen Europas entwickelte, reproduziert die Trennung von Staat und bürgerlicher Gesellschaft—die Zersetzung des Menschen in bourgeois und citoyen—und setzt den bourgeois als »eigentlichen und wahren Menschen«Karl Marx/Friedrich Engels, Zur Judenfrage, Marx-Engels-Werke (MEW) 1, 366.. Sie verhält sich dadurch zur bürgerlichen Gesellschaft »als Grundlage ihres Bestehens, als zu einer nicht weiter begründeten Voraussetzung, daher als zu ihrer Naturbasis«Marx/Engels, Zur Judenfrage, MEW 1, 370.. Indem die politische Emanzipation auf die politische Sphäre begrenzt bleibt, rührt sie deren Ursprung, die bürgerliche Gesellschaft, nicht an. Dagegen ist die menschliche Emanzipation die radikale Umgestaltung der gesamten Gesellschaft, die den Menschen von aller personalen und gesellschaftlichen Herrschaft befreien soll. Auch wenn Marx die immanente Grenze der politischen Emanzipation aufzeigt, verwirft er sie nicht, sondern sieht ihr gleichwohl begrenztes Potential sehr klar. Die politische Emanzipation kann ein Moment der menschlichen Emanzipation, jedoch nicht mit ihr identisch sein: »Die politische Emanzipation ist allerdings ein großer Fortschritt, sie ist zwar nicht die letzte Form der menschlichen Emanzipation überhaupt, aber sie ist die letzt Form der menschlichen Emanzipation innerhalb der bisherigen Weltordnung.«Ebd., 356.

Anders als in Marx’ Zeiten scheinen emanzipatorische Forderungen in parlamentarischen Demokratien ganz selbstverständlich auf den Staat verwiesen. Einige der stärksten und sichtbarsten aktuellen Initiativen sind nahezu vollständig auf den Staat zentriert, an ihn richten sich ihre Forderungen und auf ihn bauen ihre Hoffnungen. So konnte die LGBTIQ*-Bewegung ihre größten Erfolge der letzten Jahre in der juristischen Anerkennung von Geschlechteridentitäten und Liebesbeziehungen bzw. Familienmodellen feiern, während anderswo unter dem Label der Enteignung die Verstaatlichung von Mietwohnungen mehrheitsfähig wird.Laut einer im Auftrag des Tagespiegels durchgeführten repräsentativen Umfragestudie befürworten 54,8% der BerlinerInnen die Initiative Deutsche Wohnen & Co Enteignen: httpw://www.tagesspiegel.de/berlin/civey-umfrage-fuer-dentagesspiegel-mehrheit-der-berliner-fuer-enteignung-von-grossvermietern/23837788.html Die junge klimapolitische Bewegung Fridays for Future, deren Slogan »system change statt climate change« die Herzen der radikalen Linken hat höher schlagen lassen, appelliert in ihrer zentralen Forderung an den Staat, seine im Pariser Abkommen festgehaltenen Verpflichtungen zur Reduktion des Ausstoßes von Treibhausgasen doch bitte einzuhalten. Und auch in unteilbaren Bündnissen gegen Rechtsruck und für Seenotrettung findet sich die außerparlamentarische Linke in seit dem Unvereinbarkeitsbeschluss von 1961 ungekannter Nähe zur SPD wieder, wenn sie vom Staat einfordert, Geflüchtete wie Menschen (also wie StaatsbürgerInnen) zu behandeln und sie nicht dem Tod auszuliefern.

In den genannten Beispielen scheint sich die radikale Linke, deren emanzipatorische Forderungen wesentlich über die bestehenden Verhältnisse hinausweisen, auf das juristisch Formulier- und legalistisch Umsetzbare zu beschränken, was mit Rückgriff auf Marx als eine Verkürzung der menschlichen auf die lediglich politische Emanzipation erscheint. Von den beteiligten AkteurInnen wird diese Beschränkung oder Verkürzung in der Regel hegemonietheoretisch begründet oder gerechtfertigt. Man müsse Mehrheiten aggregieren, Diskurse verschieben, Erfolge institutionalisieren und Politik machen, anstatt im Versuch, die Politik samt ihren Grundlagen abzuschaffen, zur bloß selbstreferenziellen Sekte zu verkommen, die zu jedem Versuch gesellschaftlicher Wirkmächtigkeit auf Distanz geht. Die Plausibilität solcher Argumentationen soll hier nicht endgültig bewertet werden, vielmehr soll das instrumentelle Staatsverständnis, mit dem die Möglichkeiten der politischen Emanzipation überschätzt werden müssen, Gegenstand der Kritik sein. Das instrumentelle Staatsverständnis begleitet die bürgerliche Gesellschaft seit ihrem Entstehen; es prägte genauso die Machtergreifung des Bürgertums in der Französischen Revolution wie seinen Sturz in der Russischen, erhielt in der Sozialdemokratie seine konformistische Ausdrucksform und liegt vielen Projekten der politischen Emanzipation zu Grunde. Dass der Staat Subjekt gesellschaftlicher Veränderungen und zugleich gegenüber jeglichen Gruppeninteressen neutrales Werkzeug sei, muss durch eine materialistische Theorie des Staates in Frage gestellt werden. Erst vor dem Hintergrund dieser Neubestimmung des Staates kann das Spannungsfeld von politischer und menschlicher Emanzipation für konkrete Initiativen diskutiert werden. Für diese Auseinandersetzung ist es zudem erforderlich, aufzuzeigen, wie die staatlichen Institutionen und Verfahrensweisen auf emanzipatorische Initiativen zurückwirken, wenn diese sich in das staatliche Feld begeben.

Der Staat als Verhältnis und Form

In den zwanziger Jahren entwickelten Antonio Gramsci und Eugen Paschukanis ihre kritischen Reaktionen auf Lenins Staatstheorie und legten damit den Grundstein für alle folgenden Versuche, den Staat jenseits des instrumentellen Staatsverständnisses materialistisch zu denken. Gramscis Erweiterung des Staates um die politischen Arenen der Zivilgesellschaft war dabei ein zentraler Bezugspunkt für die Staatstheorie des strukturalen Marxismus, die in den Schriften von Nicos Poulantzas aus den Siebzigern ihren systematischsten Ausdruck fand. Poulantzas argumentiert (ganz im Sinne des Strukturalismus) für eine selbstständige Teilbereichstheorie der politischen Sphäre, die den Staat nicht zum bloßen Überbau, zum ideologischen Schleier oder zum reinen Reflex des Ökonomischen verkürzt. Er bestimmt den Staat deswegen—parallel zu Marx’ Kapitalbegriff—als »die materielle Verdichtung eines Kräfteverhältnisses zwischen Klassen und Klassenfraktionen«.Nicos Poulantzas, Staatstheorie. Politischer Überbau, Ideologie, Autoritärer Etatismus, Hamburg 2002 [1987], 159. Der bürgerliche Staat erhebt sich aus den Widersprüchen und Kämpfen zwischen gesellschaftlichen Klassen,»[...] und eben aus diesem Widerspruch des besonderen und gemeinschaftlichen Interesses nimmt das gemeinschaftliche Interesse als Staat eine selbstständige Gestaltung, getrennt von der wirklichen Einzel- und Gesamtinteressen, an, und zugleich als illusorische Gemeinschaftlichkeit, aber stets auf der Basis [...] der durch Teilung der Arbeit bereits bedingten Klassen, die in jedem derartigen Menschenhaufen sich absondern und von denen eine alle anderen beherrscht.« Karl Marx/Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie, MEW 3, 33. er entfaltet seine relative Autonomie gegenüber der Ökonomie, wobei sich diese Widersprüche in die staatlichen Apparate fortsetzen. Als materielle Verdichtung spiegelt der Staat die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse nicht unmittelbar, sondern bricht die Verhältnisse bei ihrem Übergang aus der gesellschaftlichen in die politische Sphäre. Wie ein Lichtstrahl, so ein gängiges Bild in der materialistischen Staatstheorie, der beim Auftreffen auf die Wasseroberfläche abgelenkt wird, erfährt die emanzipatorische Initiative eine Verfälschung der ursprünglichen Stoßrichtung beim Eintritt in die herrschaftlichen Hallen des Staates.

Aus seiner Materialität selbst (im Gegensatz zu seinem Personal) entfaltet der Staat seinen Klassencharakter, indem er die zersplitterte herrschende Klasse zum Block an der Macht organisiert und die beherrschten Klassen desorganisiert. Trotz seines Klassencharakters ist der Staat jedoch nicht bloß Instrument der herrschenden Klasse, sondern die beherrschten Klassen haben eine konstitutive Präsenz in seinen Apparaten—dies aber eben als beherrschte Klassen. Selbst wenn sie das gesellschaftliche Kräfteverhältnis zu ihren Gunsten verschieben können, tendiert der Staat aus seiner spezifischen Materialität heraus »dahin, das Kräfteverhältnis […] zu Gunsten der Bourgeoisie wiederherzustellen«.Poulantzas, Staatstheorie, 174. Erst die Einbeziehung der beherrschten Klassen und die Tatsache, dass der Staat kein Instrument der herrschenden Klasse oder Klassenfraktion ist, konstituieren die relative Autonomie des Staates von der Ökonomie und eröffnen die Spielräume für die gesellschaftlich unabdingbare Hegemoniebildung: »Die Staatsapparate begründen und reproduzieren die Hegemonie, indem sie ein (variables) Spiel von vorläufigen Kompromissen zwischen dem Block an der Macht und bestimmten beherrschten Klassen inszenieren. [...] Die relative Autonomie des Staates gegenüber einzelnen Fraktionen des Blocks an der Macht ist auch zur Organisierung der langfristigen und einheitlichen Hegemonie des Blocks an der Macht gegenüber den beherrschten Klassen notwendig. Deshalb legt er dem Block an der Macht, bzw. einzelnen seiner Fraktionen oft materielle Kompromisse auf, die für diese Hegemonie unerlässlich sind.«Ebd., 171f.

Die Formanalyse kann als methodischer Gegenentwurf zu der auf Gramsci zurückgehenden materialistischen Staatstheorie als relationale Gesellschaftsanalyse gelten. Sie fand in Paschukanis ihren Vordenker und wurde in der westdeutschen StaatsableitungsdebatteZum Begriff der Ableitung: »Wir können diesen schillernden Begriff [...] als begriffliche Entwicklung politischer Grundstrukturen aus der ökonomischen Formation der bürgerlichen Gesellschaft ›übersetz[en]‹.« Norbert Kostede, Die neuere marxistische Diskussion über den bürgerlichen Staat. Einführung–Kritik–Resultate. Gesellschaft, in: Beiträge zur Marxschen Theorie 8/9, Frankfurt a. M. 1976, 156. der Siebziger umfangreich aktualisiert und zu einer selbstständigen Strömung der Staatstheorie ausgebaut. Anstatt in einer eigenständigen materialistischen Theorie des Politischen staatliche Verhältnisse, Prozesse und Apparate zu untersuchen, geht es der Formanalyse darum, die Möglichkeit und Notwendigkeit der »besonderen Existenz« des Staates »neben und außer der bürgerlichen Gesellschaft«Karl Marx, Die deutsche Ideologie, 62. aus den Begriffen der Kritik der politischen Ökonomie zu entwickeln. Ausgangspunkt war dabei die von Paschukanis selbst aufgeworfene Frage, warum die Klassenherrschaft eine allgemein-öffentliche Form annehme und die politische Gewalt nicht als privater Apparat der herrschenden Klasse geschaffen würde.Eugen Paschukanis, Allgemeine Rechtslehre und Marxismus, Freiburg/Wien 2003 [1929], 193. Umstritten in der Debatte waren die Fragen nach dem richtigen Ableitungspunkt, also von welcher Kategorie der Kritik der politischen Ökonomie ausgehend der Staat bestimmt werden muss, und die Reichweite der Methode der Ableitung. Während vor allem in den früheren Schriften der Debatte funktionalistisch argumentiert wurde—

der Staat trat als Deus ex Machina auf den Plan, um die kapitalistische Produktionsweise vor den fatalen Konsequenzen ihrer immanenten Widersprüche zu bewahren—, schränkten spätere Beiträge ihren Geltungsbereich auf die Ableitung von Möglichkeit und Notwendigkeit eines abstrakten Staatsbegriffes ein. Die Vermittlung dieses abstrakten Staatsbegriffes mit dem konkreten Staat, seiner historischen Genese, seiner Apparate und Verfahrensformen sei dagegen Gegenstand historisch-empirischer Untersuchungen.Besonders bedeutsam für die methodische Selbstbeschränkung: Berhard Blanke/Ulrich Jürgens/Heinz Kastendiek, Zur neueren marxistischen Diskussion über die Analyse von Form und Funktion des bürgerlichen Staates. Überlegungen zum Verhältnis von Politik und Ökonomie, in: PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft 14/15 (1974), 51-102.

Grundlegend leistete die Debatte in ihrer Kritik den begrifflichen Nachweis, dass der Staat keine der Ökonomie und ihren Widersprüchen enthobene, allgemeine oder neutrale Instanz ist. Der bürgerliche Staat bleibt auf die kapitalistische Produktionsweise verwiesen und erfüllt seine ökonomische Grundfunktion unabhängig der Gesinnung des zu seiner Leitung abgeordneten Personals.

Die gesamte Diskussion blieb abstrakt und auf ein akademisches Milieu begrenzt. Es ist wenig überraschend, aber umso bezeichnender, dass erst nach Ende der eigentlichen Debatte ernsthafte Versuche unternommen wurden, die Bestimmung des Staates als eine Form für Außenstehende verständlich zu machen: »Mit sozialen Formen werden in der materialistischen Gesellschaftstheorie den Menschen äußerlich und fremd gegenüberstehende Objekte bezeichnet, in denen ihr gesellschaftlicher Zusammenhang in einer verstellten, nicht unmittelbar durchschaubaren Weise zum Ausdruck kommt und mittels derer Gesellschaftlichkeit unter den bestehenden ökonomischen Bedingungen überhaupt erst möglich wird. Die gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen müssen die Form von Objektbeziehungen annehmen, d.h. ihre eigene gesellschaftliche Existenz tritt den Menschen als Sache, als nur schwer zu durchschauender ›Fetisch‹ gegenüber, der verbirgt, was ihn hervorbringt und bewegt«Joachim Hirsch, Der nationale Wettbewerbsstaat. Staat, Demokratie und Politik im globalen Kapitalismus, Berlin/Amsterdam 1995, 17.

. Im Kapital zeigt Marx, dass das Geld nicht nur ein Werkzeug für die Erleichterung des Tauschs ist, sondern zugleich den Wert ausdrückt. Der Wert stellt die Gesellschaftlichkeit der verschiedenen unkoordinierten Privat-

arbeiten überhaupt erst her, indem er den Tausch der Arbeitsprodukte ermöglicht. Das Geld ist also die soziale Form, in der sich die kapitalistische Vergesellschaftung von PrivatproduzentInnen durch abstrakte Arbeit objektiviert ausdrückt. Genauso liegt im Begriff des Staates als Form, dass dieser nicht nur Instrument ist, sondern die verselbstständigte Objektivierung von gesellschaftlichen Beziehungen, Verhältnissen und Konflikten, der die Einzelnen wie einer Naturgewalt ohnmächtig gegenüberstehen.

Mit sowohl Gramscis als auch Paschukanis’ Ansatz können instrumentelle Staatsverständnisse kritisiert werden; der Staat ist nicht autonom gegenüber der Gesellschaft, sondern selbst eine Form bzw. ein Verhältnis innerhalb des kapitalistischen Reproduktionsprozesses. Er ist kein neutrales Werkzeug, das lediglich in die Hände der Subalternen gegeben werden muss, sondern hat eine innere Struktur bzw. Materialität, die seinen Klassencharakter bis zu einem gewissen Grade unabhängig gegenüber den in ihm wirkenden Interessen durchsetzt.

Initiativen der Emanzipation stellt sich der Staat als Form und Verhältnis dar—jedoch wird der Staat nie ihr Instrument werden können. Auf das Verhältnis kann die politische Emanzipationsbewegung einwirken, aber an der Form muss sie scheitern; deren Infragestellung und Abschaffung wird dann zur Aufgabe der menschlichen Emanzipation. Die Relation von Form und Verhältnis kann sich Emanzipationsbewegungen sehr unterschiedlich darstellen. Während der liberale Nachtwächterstaat wenig Möglichkeiten für politische Emanzipation bot, gelingt es den westlichen Verfassungsstaaten seit ein paar Jahren—das wird am Erfolg der identity politics deutlich—,immer mehr gesellschaftliche Emanzipationsbestrebungen in politische Bahnen zu drängen. Für Schwule und Lesben gibt es staatliche Antidiskriminierungsstellen anstatt verdeckter Ermittlungen, Haftstrafen, Psychiatrieaufenthalte und Hormontherapien. Die Gewerkschaften müssen keine bewaffnete Polizeikräfte mehr fürchten, sondern ihre BürokratInnen dürfen an Verhandlungstischen sitzen und sind auf Staatsempfänge geladen. Statt Rassengesetze zu verabschieden, widmet der Staat seine Fördergelder der antirassistischen Bildungsarbeit. Ausgehend von diesen historischen Bedingungen muss die radikale Linke ein (Spannungs-) Verhältnis von politischer und menschlicher Emanzipation entwickeln. Aufgrund der sich eröffnenden Möglichkeiten der politischen Emanzipation die menschliche zu vergessen, wäre dabei genauso ein Fehler wie als Reaktion auf die politische Integration verschiedenster Emanzipationsforderungen mit einem Ausstieg aus der politischen Emanzipation zu reagieren.

Demokratie als Massenloyalisierung

Hatte die Staatsableitung begrifflich herausgearbeitet, dass der bürgerliche Staat einen strukturellen (im Gegensatz zu einem personellen) Klassencharakter besitzt, und hatte Poulantzas die Wiederherstellung der Kräfteverhältnisse zu Gunsten der Bourgeoisie beschrieben, so stellt sich immer noch die Frage, wie genau diese Erkenntnisse miteinander zu vermitteln sind—oder anders gefragt, wie sich der Klassencharakter des Staates konkret in den demokratischen, egalitären Verfahren durchsetzt. Wie entsteht die Verfälschung der emanzipatorischen Initiative beim Eintritt in die staatliche Sphäre, also das von Poulantzas mit der Analogie der Lichtbrechung beschriebene Phänomen? Der marxistisch-antiautoritäre Theoretiker Johannes Agnoli untersuchte die politische Vermittlung gesellschaftlicher Konflikte und entlarvte die demokratischen Institutionen und Verfahrensweisen, die die Prozessierbarkeit der allgegenwärtigen

Konflikte in kapitalistischen Gesellschaften überhaupt erst ermöglichen und so die Gesellschaft als Einheit konstituieren, als Erzeuger und Sicherer des sozialen Friedens. Die Institutionen, die auf den ersten Blick die Artikulationsfähigkeit der Bevölkerung sicherstellen sollen, verkehren sich zu Mechanismen der Massenloyalisierung. Emanzipatorische Forderungen und Initiativen werden keineswegs vollständig unterbunden, jedoch ihrer ungebundenen gesellschaftlichen Basis entrissen und in rechtlich normierte Bahnen gelenkt, in denen der Konfliktverlauf und das Ergebnis kalkulierbar werden. Die Demokratie im Verfassungsstaat besorgt somit durch ihren autoritären Mechanismus der Entpolitisierung gesellschaftlicher Konflikte die Verkürzung menschlicher Emanzipation auf die bloß politische.

Waren Parteienpluralismus und Parlament geschichtlich Emanzipationswerkzeuge der bürgerlichen Klasse (und plebejischer und proletarischer Verbündeter) im Kampf gegen die Adelsherrschaft in Europa, so wurden sie nach ihrem Erfolg durch das Zensuswahlrecht sogleich zu Mechanismen der bürgerlichen Klassenherrschaft. Mit der Einführung des allgemeinen, gleichen WahlrechtsDie Einführung des allgemeinen, gleichen Wahlrechts lag zuerst einmal im Interesse der besitzlosen Klassen, war jedoch nur zu erkämpfen, weil die beiden besitzenden Klassen sich in ihrem Konkurrenzkampf gegeneinander Vorteile von dieser Maßnahme versprachen; kalkulierte das Bürgertum auf die liberalen Einstellungen des städtischen Proletariats, wollte der Adel die ländliche Bevölkerung gegen Staat und Bürgertum ins Feld führen. Siehe auch: Rosa Luxemburg, Sozialdemokratie und Parlamentarismus, in: Dies., Gesammelte Werke 1, 2, Berlin 1979 [1904], 447-455.

verloren die demokratischen Institutionen diesen Herrschaftscharakter nicht, wurden jedoch zusätzlich zu einem Vehikel von Emanzipations- und Subversionsbestrebungen der Subalternen—

die Institutionen wurden ambivalent. Nach der nahezu europaweiten Zerschlagung der Demokratien durch den Faschismus wurde in der Restaurations- und Rekonstruktionsperiode diese Ambivalenz der Institutionen jedoch nicht vollständig wiederhergestellt.Am deutlichsten ist diese Entwicklung in der BRD zu beobachten, in der die grundgesetzliche Beschränkung oppositioneller Arbeit auf die integrierte und integrierende Opposition und die Abschaffung des politischen Streikrechts als Lehre aus Weimar und Faschismus verkauft wurde.

Die Parteienlandschaft veränderte ihre Struktur radikal; Massenintegrationsparteien, die ein weltanschaulich gefestigtes Programm hatten und in angegliederten Gewerkschaften, Sport-vereinen, Publikationsorganen und in ihren Ortsgruppen eine gesellschaftliche Organisierung von Klassen, Konfessionen oder anderweitig konstituierten Bevölkerungsgruppen anstrebten, wichen den Volksparteien, die alle Klassenwidersprüche bereits vorparlamentarischen Kompromissen unterwarfen und wahlzentriert an die gesamte Bevölkerung appellierten.Otto Kirchheimer, Der Wandel des Westeuropäischen Parteiensystems, in: Politische Vierteljahresschrift 6(1) (1965), 20-41. Mit dem Erstarken der Versorgungsfunktion des Wohlfahrtsstaates nach dem Zweiten Weltkrieg erscheinen Regierung und Opposition nicht mehr als Vertreterinnen alternativer Gesellschaftsentwürfe im beständigen Machtkampf, sondern die konkurrierenden Volksparteien entwickeln sich zu Maklerinnen pluralistischer Gruppeninteressen, die nach vorgeordneter innerparteilicher Kompromissbildung in der Regierung ihre Schiedsrichterin finden. Eine ähnliche Maklerfunktion übernehmen die Gewerkschaften, deren Bürokratien sich vollkommen in dem vom italienischen Faschismus erdachten, ihn aber überdauernden, korporativen Dreieck aus Staat, Unternehmen und Arbeiterschaft eingelebt haben. War die politische Repräsentation schon immer darauf ausgerichtet, die gesellschaftlichen Konflikte nicht zu potenzieren, sondern ihre Widersprüchlichkeit zu entschärfen, hat die Volksparteienlandschaft einen zusätzlichen Befriedungseffekt, indem nur noch pluralistische Verteilungskonflikte verhandelt werden, der antagonistische Konflikt der Produktionssphäre als deren Voraussetzung jedoch kein politisches Abbild im Parteienpluralismus mehr findet. Die Frage, wie der gesellschaftliche Reichtum verteilt werden soll, verdrängt die Frage, wie er denn eigentlich produziert werden soll; die Produktionsverhältnisse scheinen naturgegeben und unveränderlich. Mit der Verkürzung des ökonomischen Produktionskonflikts auf bloße Verteilungskonflikte geht die Verkürzung des politischen Herrschaftskonflikts auf den Führungs-konflikt einher: »So kämpfen die Parteien untereinander um die Regierungsmacht und bilden dennoch die symbiotische Einheit, in deren geschlossenem Kreis der abstrakte Führungskonflikt ausgefochten werden kann.«Johannes Agnoli, Transformation der Demokratie, in: Ders., Transformation der Demokratie und andere Schriften zur Kritik der Politik, GS 1, Freiburg 1990 [1965], 59.

Nicht nur die Parteien, sondern auch das Parlament in seiner Struktur unterlief Transformationen, die auf seine Entmachtung hinwirkten und damit seine gesellschaftliche Funktion als Mechanismus der Massenloyalisierung verfestigten.So ist nach Art. 112, 113 GG die gesetzgebende Gewalt des Bundestages in der empfindlichen Frage des Bundeshaushaltes eingeschränkt, hier besitzt die Regierung ein Vetorecht gegenüber dem Bundestag. Anstatt Sprachrohr der Bevölkerung in ihrer konflikthaften Verfassung zu sein, wird es mehr und mehr zum bloßen Transmissionsriemen herrschaftlicher Entscheidungen auf die Bevölkerung. Im Europäischen Parlament, in dem weder einzelne Abgeordnete noch Fraktionen ein Initiativrecht besitzen, ist diese Tendenz zum (vorläufig) krönenden Abschluss gekommen.Der klassischen Politikwissenschaft fällt zu diesem autoritären Verfahren nichts Besseres ein als mit dem Konstrukt der Mehrebenen-Gouvernance zu seiner intellektuellen Legitimierung beizutragen. Dieser Abschluss liegt gerade nicht in der Abschaffung des Parlaments, sondern in seiner Legitimationsaggregation für bereits von der Regierung beschlossene Vorhaben—ohne, dass dem Parlament substantielle Macht in der Gestaltung des Vorhabens zukäme: »Das Parlament ist ein Konstitutionalisierungsorgan, das die (interessengebundenen) Entscheidungen verfassungskonform erscheinen lässt und ihnen daher ideologisch wie institutionell die Weihe des demokratischen Beschlusses verleiht.«Agnoli, Transformation, 73. Das Parlament kann aber nur Teil des autoritären Befriedungsmechanismus werden, wenn die Spontaneität der Abgeordneten unterbunden und durch den autoritären Mechanismus der Fraktionsdisziplin ersetzt wird. Um sie der Führung der Fraktionsspitze friedlich zu unterwerfen, werden die HinterbänklerInnen der Fraktionen als sogenannte FachpolitikerInnen (die Fraktion der CDU im sächsischen Landtag etwa hat einen weinpolitischen Sprecher) in Beschäftigungstherapie gegeben.»Bei Fragen untergeordneter Bedeutung verlassen sich die Fraktionsspitzen gerne auf das volks- und wahlkreisnahe Urteil der Hinterbänkler–und überlassen ihnen die Entscheidung. In einem Interview im Bundeshaus am 18.10.1965 erklärte F.X. Unterl, CSU-Fraktion: Er stimme in außenpolitischen Fragen seinem Freunde zu Guttenberg zu, da dieser darin ein Fachman sei. Er, Unterl, habe sich aber in der Diskussion über die Kronenverschlüsse der Bierflaschen von seinem Fraktionsvorstand hineinreden lassen. Vielmehr sei v. Guttenberg zu ihm gekommen und habe ihn um Rat in dieser Frage gebeten. Der Baron habe sich bei der Abstimmung an diesen Rat gehalten.« Agnoli, Transformation, 102. Die durch Fraktionsdisziplin hergestellte oligarchische Struktur des Parlaments macht vor der Grenze zwischen Regierung und Opposition keinen Halt: Fraktionsvorsitzende der Opposition werden regelmäßig von Regierungsseite mit klandestinen Informationen versorgt. Sollte dieses Vorgehen an die Öffentlichkeit gelangen (z.B. im Fall Edathy), wird es als Fehlverhalten einzelner Personen interpretiert oder zum Fair Play umgedeutet.

Der demokratische Verfassungsstaat besorgt die Befriedung der Gesellschaft zu Gunsten der bestehenden Verhältnisse jedoch nicht nur objektiv, sondern erzeugt auch ihre subjektive Spiegelung durch die Verstaatlichung des Bewusstseins. Indem konkrete emanzipatorische Initiativen in den politischen Apparat gedrängt und domestiziert werden, setzt sich der Staat als Rahmen der Emanzipation als unveränderliche zweite Natur. Der unter den verschiedensten pluralistischen Verteilungskonflikten liegende antagonistische Charakter der Produktion wird aus dem Bewusstsein verdrängt. So sind die ökonomischen Grundlagen der Politik der blinde Fleck des Staatsbürgerbewusstseins, dem die Apparate des Staates als die »eigenen«, der Neutralität und Allgemeinheit verpflichteten Institutionen erscheinen. Wenn das Staatsbürgerbewusstsein das Klassenbewusstsein vollständig ersetzt hat, wird der Appell der StaatsbürgerInnen an den Staat—ob es um sozialstaatliche Zuwendung oder politische Emanzipation bestimmter Bevölkerungsgruppen geht—alternativlos. Damit wird die immanente Grenze des staatlichen Rahmens entweder wie in Theorien der »revolution by consent« geleugnet oder das Jenseits dieser Grenze überhaupt nicht mehr begehrt.

Der bürgerliche Verfassungsstaat ist—entgegen dem liberal-pluralistischen Demokratieverständnis—dem autoritären Staat überhaupt nicht trennscharf entgegenzustellen. Beide besorgen den Ausschluss der Mehrheit der Bevölkerung aus den politischen Entscheidungsprozessen bei gleichzeitiger Integration dieser Mehrheit unter ein herrschaftlich formuliertes und auf die Reproduktion des Kapitals zielendes Regierungsprogramm. Der bürgerliche Verfassungsstaat ist jedoch auf die Aggregation und über Klassenauseinandersetzungen im Staat vermittelte Kompromissbildung angewiesen, was die Spielräume der relativen Autonomie der staatlichen Politik von den Kapitalinteressen beträchtlich erhöht und die politische Emanzipation überhaupt erst ermöglicht. Auch die Mittel zur Durchsetzung der staatlichen Politik unterscheiden sich beträchtlich. Die Integration mit friedlichen Mitteln, der sich der Verfassungsstaat verschrieben hat, kann jedoch in Krisenzeiten ein jähes Ende finden. In den Ausnahmezustandsverordnungen und Notstandsgesetzen drückt sich die Tendenz des Verfassungsstaates zum Autoritären aus. Und der Blick nach Frankreich zeigt, dass in manchen historischen Situationen allein eine Warnweste reicht, um sich von der geachteten Bürgerin und dem umsorgten Wähler in die Staatsfeindin und den Terroristen zu verwandeln—die entsprechende sachgemäße Behandlung im Namen von Recht und Ordnung durch die staatlichen Apparate inbegriffen.

Gegen einseitige Auflösungen

Die These, dass eine radikale Linke von der politischen Emanzipation ablassen muss, erscheint nicht zu Unrecht zynisch, will sie doch verzweifelt eine imaginierte Unbeflecktheit der eigenen Gesinnung erhalten. Der Staat als Verhältnis eröffnet Möglichkeiten der Emanzipation, die allein zu Gunsten der konkreten Lebensumstände der Betroffenen genutzt werden müssen. Jedoch kann die menschliche Emanzipation nicht in der politischen aufgehen, so dass die radikale Linke Wege finden muss, den Überschuss über den Staat—die Idee, dass Herrschaft kein überhistorisches Gesetz menschlicher Gesellschaft ist—lebendig zu halten. Dieser Überschuss ist notwendig, denn der Staat als Form hat Mechanismen ausgebildet, jeden Ansatz einer »revolution by consent« oder eines Marsches durch die Institutionen in das bestehende Netz der Befriedung zurückzuholen und jede menschliche Emanzipation, die sich nicht explizit gegen den Staat richtet, auf die bloß politische Emanzipation zu verkürzen. Ohne ein Bewusstsein von dieser Einhegung kann keine radikale Initiative als solche wirken. Sie muss sich früher oder später Seite an Seite mit den vorsichtig reformistischen Kräften innerhalb der Verwaltung der bestehenden Ordnung wiederfinden. Einer nicht verkürzten menschlichen Emanzipation stellt sich damit die Aufgabe, »den Mechanismus des Staates in den Aspekten durchsichtig zu machen, die den Herrschafts- und Repressionscharakter der Gesellschaft verhüllen«Agoli, Transformation, 27.—das heißt die Aufgabe besteht in der Subversion des Staatsbürgerbewusstseins. So muss auch die Kritik des Staates eine praktische Form jenseits radikal anmutender Parolen (»Staat, Nation, Kapital: Scheiße!«) bekommen, die allzu oft nur subjektive Kompensation gegenüber einer Bündnispolitik mit bürgerlichen Kräften sind.

Es gibt keine Weltrevolutionsformel, mit der das widersprüchliche Verhältnis von politischer und menschlicher Emanzipation theoretisch und universell vereindeutigt werden könnte. Jede emanzipatorische Bewegung ist mit diesem Widerspruch konfrontiert, der bloß praktisch aufgehoben werden kann. Das Verhältnis der politischen und menschlichen Emanzipation zueinander—und damit das Verhältnis der Bewegung gegenüber dem Staat—bedarf der konkreten und praktischen Entwicklung in den Initiativen und Kämpfen selbst.

Jonas Fischer

Der Autor lebt in Berlin und beschäftigt sich derzeit schwerpunktmäßig mit

materialistischer Staatskritik.