Pläne mit Zukunft

Sowjetische Erfahrung, Unmögliches und Mögliches

Mit dem offenkundigen Scheitern des sowjetischen Experiments gilt für die überwiegende Mehrzahl der öffentlichen Diskurse auch jegliche sozialistisch-kommunistische Perspektive, ja geradezu jegliche grundlegende Alternative zum bestehenden Gesellschaftssystem als desavouiert. Selbst das Nachdenken darüber ist in Verruf geraten. So erscheint das Bestehende als alternativlos – eine durchaus bequeme Situation für diejenigen, die daran glauben wollen. Zugleich drängt sich die Suche nach Alternativen aber auf angesichts einer mit den vorhandenen Mitteln nicht handhabbaren Krise der gesellschaftlichen Naturverhältnisse, wachsender sozialer Ungleichheit sowohl auf globaler als auch auf nationaler Ebene und dem allein schon den Tageszeitungen zu entnehmenden Nachweis der nachhaltigen Krisenhaftigkeit des Kapitalismus. Die Folgen der aktuellen Krise haben einmal mehr diejenigen zu tragen, die sie am wenigsten verschuldet und die vom vorangegangenen Boom meist am wenigsten profitiert haben.

Doch ist die Krisenhaftigkeit des Kapitalismus allenfalls ein nachdrücklicher Hinweis auf die Notwendigkeit, über Alternativen nachzudenken, keineswegs jedoch ist sie der Nachweis ihrer objektiven Möglichkeit oder gar ihrer Praktikabilität. Bertolt Brechts Verdikt, er habe denjenigen, die da fragten, was denn mit ihren Sparkassenbüchern und Unterhosen werden solle nach einer Umwälzung, nicht viel zu sagen, ist wenigstens heute nicht mehr gültig und erst recht nicht politisch weitsichtig. Umwälzung bedeutet noch nicht Befreiung oder auch nur, dass diese näher rückt.

Damit ist die Glaubwürdigkeit gesellschaftlicher Alternativen sehr viel entschiedener als vor sechzig oder hundert Jahren an konkretere Überlegungen zu ihrer Ausgestaltung geknüpft, in gewisser Weise an Utopie. Wie freilich vor allem Ernst Bloch immer wieder unterstrichen hat, ist eine solche Utopie kein Wolkenkuckucksheim, sondern Bestandteil belehrter Hoffnung (docta spes). Eine solche Zukunftsperspektive wirft Fragen nach den konkreten Möglichkeiten auf, eine befreite Gesellschaft zu organisieren und am Leben zu erhalten. Dabei ist das Problem des gesellschaftlichen Zusammenhangs und der wirtschaftlichen Koordination von besonderer Bedeutung.

Im Zuge einer Klärung dieser Fragen lässt sich eine gründliche Auseinandersetzung mit der nun in einer gewissen Abgeschlossenheit vorliegenden geschichtlichen Erfahrung des sowjetischen Modells kaum umgehen. Die folgenden kurzen Überlegungen zu denkbaren Formen gesellschaftlicher Planung und sonstiger Koordination beziehen sich daher auf diese historische Erfahrung. Eine gründliche Auseinandersetzung mit dem sowjetischen Modell erweist sich gerade da als unumgänglich, wo als Gegenentwurf zum Markt und seinen wirklichen oder vermeintlichen Schwächen und Gefahren an die Perspektive der gesellschaftlichen Planung appelliert wird. Hierdurch erfahren wir wesentliches darüber, was, wie es der große französische Sozialhistoriker Fernand Braudel ausgedrückt hat, »möglich« ist, zugleich aber auch darüber, was »unmöglich« ist. Dem soll hier nachgegangen werden, ausgehend von dem Hintergrund, wie in der sozialistisch/kommunistischen Debatte mit Zukunftsentwürfen in folgenreicher Weise umgegangen wurde.

Vermeintlich sicheres Wissen von der Zukunftsgesellschaft...

Bekanntlich sah Friedrich Engels den Fortschritt in einem theoretischen Verständnis des Sozialismus, das er zusammen mit Marx wesentlich geprägt hatte, vor allem anderen in der Überwindung der »Utopie« zugunsten »wissenschaftlich« begründeter Aussagen. Aus seiner Sicht war damit ganz wesentlich der Verzicht darauf verbunden, sich allzu viele Gedanken über »die Garküchen der Zukunft« zu machen. Bis auf wenige Ausnahmen waren Zukunftsprojektionen für die Nachfolger von Marx und Engels verpönt, auch wenn einzelne wie etwa Karl Ballod, sich durchaus darüber Gedanken machten, wie einmal die Klavierproduktion unter dem Sozialismus aussehen könnte. Auch wenn damit Fouriersche Phalansterien und ähnliche Zukunftsprojektionen nachdrücklich verabschiedet waren, so glaubten die Marxisten der Zweiten Internationalen, von denen sich dann als ihr linker Flügel die Bolschewiki abspalteten, recht genau über die wesentlichen Grundzüge der erwarteten Zukunftsgesellschaft Bescheid zu wissen. Diese Vorstellungen betrafen sicherlich eher allgemeine Prinzipien als irgendwelche operativen Details, doch sie erwiesen sich als höchst folgenreich, als sie nach 1917 zu Leitlinien praktischer Politik wurden.

Die wohl wichtigste dieser Grundannahmen bestand in der Erwartung, die Anarchie des Marktes werde durch rationale gesellschaftliche Planung ersetzt werden. Diese Gegenüberstellung von Markt und Plan war verbunden mit der Annahme, der Plan repräsentiere gegenüber dem Markt den in der gegenwärtigen Epoche, jener des industriellen Kapitalismus, entscheidenden evolutionären Fortschritt, um die »Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft« (Marx) endlich zum Abschluss zu bringen.

Die wohl zentrale Grundvorstellung über die Zukunftsgesellschaft, nämlich dass sie und vor allem ihre ökonomische Basis »geplant« sein soll, beruhte dabei auf einer Reihe gedanklicher Voraussetzungen und Operationen, die es nicht zuletzt dann zu verstehen gilt, wenn wir Lehren aus der sowjetischen Erfahrung ziehen und eigene Vorstellungen für realistische Alternativen zum Bestehenden erarbeiten wollen. In aller gebotenen Kürze: Der konzeptionelle Gegensatz zwischen Markt und Plan ist gewiss auch in der Annahme eines dialektischen Fortschritts begründet. Danach führt die Negation des Bestehenden, eben des Marktes, der seinerseits als Negation eines historisch vorgestellten Ausgangspunktes, Feudalismus, Subsistenzwirtschaft oder auch »ganzes Haus«, gedacht werden kann, zur Synthese der Planwirtschaft. Etwas handfester lässt sich dies an der Analyse kapitalistischer Krisen festmachen. Für die meisten Marxisten der Zweiten Internationalen – Rosa Luxemburg bildet eine signifikante Ausnahme – handelte es sich hier vor allem um Disproportionalitätskrisen und allenfalls nebenbei um Überproduktionskrisen. Die Disproportionalität ergab sich aus der Anarchie des Marktes. Abhilfe war durch den zentralen Plan zu schaffen, der rationale Proportionen für die Produktion der unterschiedlichen Branchen und Betriebe sowie für die Distribution ihrer Erzeugnisse festlegen würde. Die Produktionsstruktur selbst stand ausdrücklich nicht zur Debatte.

...und die sowjetische Praxis: Betriebsdespotie auf gesellschaftlicher Stufenleiter

Am Ende hat Gosplan in der Sowjetunion wesentlich auf die von Marx im zweiten Band des Kapitals skizzierten Reproduktionsschemata zurückgegriffen. Darin drückt sich die Annahme aus, es gehe technologisch darum, das, was im Kapitalismus bereits vorbereitet sei, nun rationaler und effektiver zum Laufen zu bringen, also die Gleichgewichtsbedingungen, die man in den Reproduktionsschemata vorgefertigt sah, nun zu exekutieren. Damit wurde ignoriert, dass Marx die Kritik der politischen Ökonomie im Auge hatte, gerade nicht die Konzeption einer funktionierenden sozialistischen Gesellschaft. Noch deutlicher wird der Glaube an die dem Kapitalismus letztlich innewohnende Rationalität, die es nur freizusetzen gelte, an entscheidenden Etappen im Denken und Handeln von Wladimir I. Lenin. Lenin hatte in den für die spätere sowjetische Plankonzeption grundlegenden Schriften, zumal in Staat und Revolution, ganz konsequent gefordert, die gesamte Gesellschaft als ein einziges großes Syndikat zu organisieren, also als eine Organisation industrieller Unternehmen, denen gleichsam nur ihre kapitalistische Hülle abzustreifen wäre. Lenin projizierte damit die Form rationaler Planung, die er unter dem Kapitalismus entwickelt sah, nämlich die Organisation des Betriebs und des Unternehmens, auf die gesamtgesellschaftliche Ebene. Es ist nicht unwesentlich, daran zu erinnern, dass diese grundlegende und folgenreiche gedankliche Operation keineswegs den Bezugsrahmen sprengte, der den Marxisten der Zweiten Internationale gemeinsam war. Lenin dachte hier nur konsequent weiter, was allen voran Karl Kautsky als der anerkannte Bewahrer der Marx-Orthodoxie konzipiert hatte.

Die dieser Plankonzeption zugrundeliegende Forderung der rationalen Kontrolle aller gesellschaftlichen Ressourcen musste konsequent die zentralen, ja nach Marx einzigen Springquellen gesellschaftlichen Reichtums mit einschließen, Natur und Arbeitskraft. Die besonders von Leo Trotzki explizit auch gegen die in dieser Hinsicht abstrakt moralische Kritik von Kautsky vertretene Militarisierung der Arbeit war in dieser Hinsicht nur konsequent. Wenn Kautsky sich dagegen wandte, werden ihm viele Kritikerinnen und Kritiker des sowjetischen Experiments aus der Rückschau wohl recht geben wollen. Er tat dies aber aus den falschen Gründen, solange seine Kritik nicht die Kritik an der eigenen lebenslang vertretenen Position einschloss. Die kautskysche Projektion betrieblicher Rationalität auf die gesamtgesellschaftliche Ebene schloss die in diese Rationalität eingeschriebenen Herrschaftsverhältnisse stillschweigend ein. Herrschaft wurde in diesem Kontext überhaupt nicht thematisiert. Wer es aber unternimmt, die Gesellschaft nach den Vorbild des industriellen, kapitalistischen Betriebs und seiner unbestrittenen, aber durch die Verhältnisse der kapitalistischen Gesellschaft bestimmten Rationalität zu reorganisieren, verlagert ganz unweigerlich auch das diesem Betrieb inhärente despotische Herrschaftsverhältnis auf die Ebene der Gesamtgesellschaft.

Dies ist im klassischen Marxismus kaum reflektiert worden, und selbst die Anarchisten fürchteten sich weit mehr vor dem Staat als vor der Betriebsdespotie. Der Industriebetrieb repräsentierte doch jene Produktivkräfte, deren nie dagewesene sprunghafte Entwicklung aus dieser Sicht nicht allein die fortschrittliche Mission des Kapitalismus und der Bourgeoisie bezeichnete, sondern damit auch die Möglichkeit der Schaffung der Zukunftsgesellschaft. Der Betrieb und auch das eventuell zahlreiche Betriebe umfassende Syndikat oder der Trust funktionieren ohne die Vermittlung eines anonymen Marktes. Informationen werden auf verschiedenen Stufen einer hierarchischen Struktur zusammengeführt und Entscheidungen in unmittelbarem Bezug auf die Werkstätten oder Büros und selbst auf Einzelpersonen getroffen, die sie ausführen sollen, oder solche Entscheidungen werden jedenfalls entlang einer klaren Kommunikationsstruktur aus der Zentrale an die unteren Ebenen geleitet. Gewiss entspricht dies einem Idealbild, aber hier ist entscheidend, dass dieses Idealbild sich fundamental von der Vorstellung eines irrationalen, anarchischen Marktes unterschied, auf dem es unweigerlich zu Disproportionen und Vergeudung von Ressourcen kommen musste. Gegenüber diesem Vorzug überlegener Rationalität erschien der Herrschaftsaspekt des Betriebs historisch allenfalls nebensächlich. Marx hatte zwar wiederholt auf dessen despotischen Charakter ebenso hingewiesen wie auf den entscheidenden Umstand, dass die Kooperation der Arbeitenden, die dem Kapitalisten einen wesentlichen Gratisgewinn sichert, zugleich nur auf dessen Kommando zustande kommt. Auch bei ihm findet sich jedoch eine charakteristische Unbestimmtheit in der Bewertung des Industriebetriebs, weil dieser zugleich auch den so wesentlichen Fortschritt der Produktivkräfte repräsentiert. Die Möglichkeit, dass Herrschaftsverhältnisse diesen Produktivkräften selbst eingeschrieben sein könnten, wird auch von Marx nicht erörtert. Lenin hat diese Tendenz dann forciert, wenn er das Taylor-System wissenschaftlicher Betriebsführung zwar einerseits kurz vor dem Ersten Weltkrieg als das fortgeschrittenste, gegen die Arbeitenden gerichtete Ausbeutungsinstrument geißelte, wenige Jahre später aber aus der Perspektive einer siegreichen proletarischen Revolution eben dieses System als Element des höchsten Standes industrieller Produktivkräfte zum wesentlichen Bestandteil der wissenschaftlichen Arbeitsorganisation (nau?naja organizacija truda, NOT) erklärte. Da Sozialisierung zumindest nach der Ausschaltung der in der Februarrevolution 1917 entstandenen Betriebskomitees (fabzavkomy) und der mit ihnen assoziierten Arbeiterkontrolle faktisch und bald auch ganz offiziell mit Verstaatlichung in eins gesetzt wurde, lief die betriebliche, hierarchische Organisation der Wirtschaft auf die befehlsmäßige Verfügungsgewalt über die unmittelbaren Produzenten und ihren Arbeitsprozess hinaus.

Die Kontrolle über die vom Staat im Namen des Proletariats appropriierten sachlichen Ressourcen, jedoch auch über die Arbeitenden selbst, sollte die Grundlage einer rationalen gesamtgesellschaftlichen Planung bilden. Gemäß der Ausschaltung des Marktes erfolgte diese in Naturalgrößen. Daran änderte sich auch nichts Grundlegendes, als vor allem während der kurz nach Stalins Tod 1953 eingeleiteten Reformphase Marktmechanismen gleichsam ex post eingeführt wurden, um vor allem die Probleme bei der Distribution besser handhabbar zu machen.

Entgegen den Erwartungen und auch dem offiziell propagierten Bild wies das sowjetische Planungssystem eine Vielzahl von Irrationalitäten auf, unter denen zwei zentrale Merkmale hervorstechen: die schiere Unmöglichkeit, Koordination und Proportionalität einer unüberschaubaren Menge an Naturalgrößen zu realisieren und der eingebaute Widerspruch, der aufgrund der forcierten Wachstumsstrategie zwischen den vorgegebenen, möglichst exakt aufeinander bezogenen Kennziffern und Normen einerseits und andererseits dem Postulat der beständigen Übererfüllung eben dieser Normen bestand. Dies erzeugte quasi systembedingt fortwährend Disproportionalitäten. Sebastian Conert hat die zentralen Gründe für das Scheitern des sowjetischen Experiments mit der Rede vom »unmöglichen Sozialismus« bündig zusammengefasst. Damit ist keineswegs gesagt, dass jeder Sozialismus »unmöglich« sei. Doch die Analyse verweist auf das Ausmaß, in dem die sowjetische Erfahrung einstmals für selbstverständlich geltende Gewissheiten widerlegt hat.

Planung implizierte im sowjetischen System ferner auch Verfügung über die Bedürfnisse der Menschen. Wiederum ungeachtet ex post eingeführter Marktmechanismen unterlagen sie auch als Konsumenten dem Diktat der Planungsbehörde. Eine Strömung linker Kritik sprach von der »Diktatur über die Bedürfnisse«. Dies war so ziemlich das Gegenteil von dem, was Marx einmal mit dem Bild des »reichen Menschen« vorgeschwebt hatte, der sich gerade durch die universelle Entwicklung seiner Bedürfnisse auszeichnen würde.

Konsequenzen aus einer niederschmetternden Bilanz

Sozialismus/Kommunismus bedeutete einmal das Versprechen der Befreiung von materieller Not, Ausbeutung und Unterdrückung, die reale Möglichkeit für alle Menschen zur Entfaltung ihrer schöpferischen Fähigkeiten. Gegenüber der formalen Freiheit und Gleichheit, die in den großen bürgerlichen Revolutionen eingefordert und vor allem in Form des Wahlrechtes danach allmählich und in großen Kämpfen verwirklicht wurden, verweist dieses Programm auf die materiellen Grundbedingungen, unter denen Freiheit und Gleichheit über die formale Zusicherung hinaus erst wirklich werden können. Die bittere Konsequenz aus dem Scheitern des bewussten Versuchs, dieses Programm nach der Oktoberrevolution 1917 zu verwirklichen, liegt nicht zuletzt darin, dass dieses Programm selbst heute weithin unglaubwürdig geworden ist. Es wäre zu einfach und zu bequem, diese Lage schlicht als Ideologie, als Legitimationsstrategie der Herrschenden abzutun. Allermindestens hat die historische Erfahrung solchen Strategien überreichlich Material geliefert. Es unterliegt zugleich kaum einem Zweifel, dass das kapitalistische Wirtschafts- und Gesellschaftssystem das gigantischste, riskanteste und immer weniger zu verantwortende Experiment der Menschheitsgeschichte darstellt. Anders als die Sozialisten und Marxisten vor hundert Jahren meinten, genügt es für uns Heutige aber nicht, darauf zu vertrauen, die Negation des Bestehenden werde schon zum Besseren führen.

Die Situation nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts macht es unabweisbar, gerade solche Begriffe und theoretischen Annahmen gründlich zu überdenken, die einmal als geradezu selbstverständlich gegolten hatten. Meine kurze historische Rückschau auf die sowjetische Erfahrung hat gezeigt, dass dazu in erster Linie die Vorstellung von der Rationalität des Plans gehört.

Die auf den ersten Blick und aus der historischen Perspektive vor der mit der Oktoberrevolution eingeleiteten Entwicklung so überzeugend scheinende Idee von der Ausschaltung des anonymen und chaotischen Marktes durch quasi-betriebsmäßige Planung steckt in Wirklichkeit voller Tücken steckt und hält Fallstricke gleich in mehrerer Hinsicht bereit. Die zentralen Probleme lassen sich einerseits einer funktionalen Dimension und zum andern der Zielprojektion menschlicher Emanzipation zuordnen. Beide sind miteinander verknüpft. Die Planung in Naturalform in einer komplexen, hoch arbeitsteiligen Gesellschaft eliminiert vielleicht formal die Warenform, nicht aber Disproportionalitäten. Sie produziert diese sogar, zumal dann, wenn es sich um ein sehr dynamisches wirtschaftliches und gesellschaftliches System handelt. Neben dieser funktionalen Problematik steht die mindestens ebenso ernste der Reproduktion von Herrschaftsverhältnissen durch die Ausweitung der betrieblichen Despotie auf die Ebene der Gesamtgesellschaft. Man mag darauf verweisen, dass es äußerst widrige historische Rahmenbedingungen waren, die aus der einmal als Einlösung der Mehrheitsherrschaft und in der Räteform als radikale Demokratie konzipierten »Diktatur des Proletariats« erst eine Diktatur dem Anspruch nach für ein gesellschaftlich minoritäres Proletariat und schließlich über das Proletariat ebenso wie über die Gesamtgesellschaft werden ließen. Zugleich aber zeigte sich, dass die Konzepte und wenn auch zurückhaltenden Zukunftsprojektionen, die Gemeingut der Marxisten der Zweiten Internationale einschließlich der Bolschewiki waren, ihrerseits keine kritischen Perspektiven gegenüber Tendenzen zur Reproduktion von Herrschaft von Menschen über Menschen enthielten. Im Gegenteil, sie boten Ansatzpunkte, die Diktatur über die Arbeiterklasse ebenso wie über den Rest der Gesellschaft systematisch zu begründen und zu legitimieren.

Was sind mögliche Alternativen?

Eine noch immer zuweilen vorgeschlagene Alternative fordert den Abschied von Dynamik und Produktivität, eine Rückkehr zu überschaubaren, kleinräumigen Verhältnissen einer Subsistenzwirtschaft. Man kann sich allerdings fragen, ob diese Wirtschaftsform außerhalb der Projektionen und Modellvorstellungen von Wirtschaftshistorikern jemals wirklich so für sich allein bestanden hat, wie es solchen Vorstellungen zugrunde gelegt wird. Hinzu kommen die internen Herrschaftsverhältnisse häuslicher Produktionsformen, häufig nicht zuletzt aufgrund rigider und hierarchischer geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung. Auch muss jegliche Zukunftsprojektion die Frage stellen, wie die heute auf der Erde lebenden Menschen nicht nur überleben, sondern ein würdiges und reiches Leben unter globalem Ausgleich der heute immer ungleicher verteilten Lebenschancen finden können. Der Weg zurück zu als idyllisch imaginierten Verhältnissen ist bestenfalls eine gefährliche Illusion, und Marx und Engels behalten insgesamt recht, wenn sie die Überwindung der brutalen und eingeschränkten vorkapitalistischen Verhältnisse als einen wesentlichen, wenn auch höchst problematischen Fortschritt betrachteten. Freilich haben ihre Erwartungen einer relativ reibungslose Universalisierung der westeuropäischen industriekapitalistischen Entwicklung und des folgenden revolutionären Übergangs zum Sozialismus auf Weltebene sich ihrerseits als illusionär erwiesen. Ferner dürfte heute das Bild vom guten Leben der großen Mehrheit der Menschen wenig mit agrarischer Plackerei zu tun haben, die zuweilen als unmittelbare Naturbeziehung angepriesen wird. Die massenhafte Rückkehr aufs Land ist allenfalls als gigantischer Gewaltakt vorstellbar, und die Katastrophe des Demokratischen Kampuchea in den siebziger Jahren sollte Warnung genug sein.

Wenn wirtschaftliche und gesellschaftliche Komplexität realistisch weder drastisch reduziert noch durch Planung in Naturalreform gehandhabt werden können, muss die Frage nach dann möglichen Formen der Koordination gestellt werden. Es ist schwer zu sehen, wie marktförmige Mechanismen hier zu vermeiden wären. Das bedeutet zugleich, dass Vorstellungen einer unmittelbaren Vergesellschaftung der Produzenten, d.h. ohne Vermittlung des Marktes, vermutlich allenfalls um den Preis äußerst schmerzhafter, zielgerichteter Verringerung dieser Komplexität zu erreichen wären. Sozialisierung müsste im strengen Sinn Vergesellschaftung sein, d.h. die Zusammenhänge zwischen den unmittelbaren Produzenten ebenso wie zwischen ihnen und den Konsumenten müssten über geeignete Medien vermittelt sein. Auf dieser Ebene stünden »Markt« und »Geld« weiterhin zur Debatte. Damit ist keineswegs die Perspektive der Variante einer »sozialen Marktwirtschaft« bezeichnet, die sich ihrerseits in ihrer »skandinavischen« oder »rheinischen« Version unter die »Spielarten des Kapitalismus« (varieties of capitalism) einreiht. Hier sind begriffliche Unterscheidungen zwischen Marktmechanismen und Marktwirtschaft sowie insbesondere auch zwischen Markt und Kapitalismus entscheidend.

Ein wesentlicher Einwand gegen solche Überlegungen dürfte nämlich nach wie vor auf der Annahme beruhen, vom Markt und auf ihm auftretenden kleinen Warenbesitzern bis zum kapitalistischen Großkonzern sei es ein kurzer und unvermeidlicher Weg, der jegliche Fortschritte zur Beschränkung oder gar Beseitigung der Macht des Kapitals allzu leicht zunichte mache. Diese Annahme, Markt, kleine Warenproduktion und Kapitalismus seien geradezu miteinander identisch, ist jedoch nicht zwingend. Dass sie gewissermaßen Lenin und die Neoliberalen miteinander verbindet, spricht schwerlich für sie.

Der oben erwähnte Fernand Braudel hat die entscheidenden Phasen der Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Neuzeit gerade unter der Perspektive analysiert, »Markt« und »Kapitalismus« begrifflich klar voneinander zu unterscheiden. Der alltägliche, marktförmige Austausch muss keineswegs zwangsläufig zur Machtzusammenballung großer Kapitalgruppen führen. Markt kann etwa auch zwischen Kooperativen stattfinden, in denen gemäß demokratisch getroffener Entscheidungen produziert wird und sicher auch im Rahmen horizontaler Absprachen ebenso wie einer Globalplanung, die nicht zuletzt auch dafür zu sorgen hätte, dass Machtkonzentrationen auf dem Markt vorgebeugt wird.

Wie vor einiger Zeit Diane Elson argumentiert hat, ist die Vorstellung, auf den heute real bestehenden Märkten agierten alle Teilnehmenden unter gleichen Bedingungen, schließlich reine Ideologie. In Wirklichkeit sind die Märkte vermachtet, es herrschen krasse Informationsgefälle und potentielle Akteure bleiben von wichtigen Segmenten ausgeschlossen. Nach Elson käme es demnach eher darauf an, den Markt zu sozialisieren, d.h. als Feld des Austauschs unter real Gleichen überhaupt erst herzustellen. Dies freilich erfordert nachdrückliche politische Intervention und ist dem Vertrauen in die Rationalität anonymer »Märkte«, die geradezu unausweichlich über unser Schicksal bestimmen, diametral entgegengesetzt.

Elson hat als weitere wesentliche Dimension ihrer Überlegungen ferner für ein bedingungsloses Grundeinkommen plädiert. In der von ihr konzipierten Version würde dies die Menschen vor dem Zwang bewahren, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, allein um überleben zu können. Damit wäre die zentrale Bedingung der proletarischen Klassenlage ausgeschaltet, und die Verhandlungsmacht der Arbeitenden wäre entscheidend gestärkt – sicher eine Vorbedingung dafür, dass die gewaltigen Gewinne an Produktivität, die wir gerade in den letzten Jahrzehnten beobachtet haben, nicht zu immer größerer gesellschaftlicher Ungleichheit und zur konstanten Massenarbeitslosigkeit selbst in den reichsten (industrie)kapitalistisch entwickelten Ländern führen, sondern zu einer der entscheidenden Bedingungen »reicher Menschen« beitragen, freier Zeit.

Auch diese Überlegungen erfordern sorgfältige Debatte und Ausarbeitung. Hier kann es nur um Andeutungen dazu gehen, auf welchen Wegen die Herausforderung angegangen werden könnte, die uns die aktuelle geschichtliche Erfahrung und Situation stellt. Das 20. Jahrhundert hat gezeigt, was in der Tat unmöglich ist. Die ersten Jahre des einundzwanzigsten Jahrhunderts, das nach mancher Rechnung bereits 1990 begonnen hat, unterstreichen mit allem Nachdruck die Dringlichkeit, angesichts sich weltweit zuspitzender Konflikte, kapitalistischer Krisen und geradezu absehbarer Katastrophen darüber nachzudenken, was demgegenüber möglich sein könnte. Dafür gilt es, unterschiedliche Wege des Denkens und der Praxis zu erkunden und zu erproben und mit hergebrachten Vorgaben zu brechen, wenn diese der geschichtlichen Erfahrung nicht standgehalten haben. Der Gegensatz von Plan und Markt gehört dazu.

Von Reinhard Kößler. Der Autor ist apl. Professor für Soziologie und arbeitet am Arnold Bergstraesser Institut in Freiburg. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Gesellschafts- und Entwicklungstheorie, Südliches Afrika und früher auch Osteuropa.