Post-Wachstumsutopien in der DDR

Die Pointe der Marx’schen Ökonomiekritik liegt in der Möglichkeit ihrer selbstkritischen Wendung. Reflektiert die an Marx interessierte Diskussion im Sinne einer solchen Selbstanwendung auf die Bedingungen ihrer eigenen Wissensproduktion, so lassen sich für die Nachkriegsjahrzehnte erhebliche Unterschiede zwischen BRD und DDR feststellen. In der realsozialistischen Planwirtschaft waren Forschung und Produktion zu Marx zwar Staatsauftrag, und Tonnen von marxistisch-leninistischer Literatur wurden geradezu zum Plansoll erhoben. Doch die Qualität stand in einem erstaunlich schlechten Verhältnis zur Quantität – nicht untypisch für die sozialistische Warenproduktion; Ausnahmen waren lediglich die Bereiche der Historiographie und der Edition und Kommentierung der Werke und des Nachlasses von Marx und Engels. Mangelwirtschaft  herrschte dagegen bezüglich fruchtbarer Kontroversen, Öffnungen und Weiterentwicklungen.

Eine »Marxistische Systemkritik« in Opposition zur offiziellen Parteilinie konnte sich fast nur im Umfeld des Parteiapparats selbst entwickeln, und zwar durch Personen, die vom Marxismus ebenso ehrlich überzeugt waren wie von der Notwendigkeit seiner Anpassung an die gesellschaftlichen

Entwicklungen oder vielmehr: von der Notwendigkeit eines Umbruchs.

Alexander Amberger behandelt in seinem Buch Bahro?–?Harich?–?Havemann. Marxistische Systemkritik und politische Utopie in der DDR drei Vertreter einer solchen »linken SED-Opposition«. Der Untertitel verrät, wie Systemkritik im Realsozialismus funktionierte, nämlich indem sie einen geduldeten und vermeintlich harmlosen Begriff nutzte – den des Utopischen. Der Rückgriff auf das Utopische war nach Amberger allerdings keineswegs bloß taktischer Natur, sondern eindeutig gegen die ideologische Erstarrung des Denkens im Realsozialismus gerichtet.

Den eigentlichen thematischen Durchbruch sieht Amberger bei Wolfgang Harich, Robert Havemann und Rudolf Bahro in der Beschäftigung mit der Ökologie, die bei allen drei schon in den 1970er Jahren begann, also parallel zu den ersten Debatten im Westen und ein Jahrzehnt vor dem Entstehen der Umwelt- und Bürgerrechtsbewegung in der DDR der 1980er Jahre. Die ökologische Frage galt ihnen als nichts weniger als der Scheidepunkt der modernen Zivilisation. Dabei beriefen auch sie sich auf die ersten bahnbrechenden Schriften und Untersuchungen zu Umwelt- und Ökologiefragen der 1970er Jahre, etwa den Bericht des Club of Rome zu den Grenzen des Wachstums. Anders als die damaligen ersten Ökologen im Westen waren sie allerdings der Überzeugung, dass nur der Kommunismus in der Lage sei, mit dieser Herausforderung – um es mit einem aktuellen Begriff zu sagen – nachhaltig umzugehen. Dafür forderten sie allerdings, bei allem Bekenntnis zu Marx, eine Abkehr von der Industriepolitik des Realsozialismus und der umweltzerstörenden Wachstumsideologie. Gerade hier, so ihre Argumentation, sei der Realsozialismus getrieben von einer Systemkonkurrenz, die eine nachholende und aufholende Modernisierung und die Steigerung einer quantitativ gefassten Produktivkraft verfolge und sogar zum Überholen ansetzen wolle – aber genau darum keine Alternative biete. Die Ökologie galt ihnen als ein Grundwiderspruch, der auch dann nicht gelöst sei, wenn der Sozialismus den Klassenwiderspruch überwinde.

Alle drei entwarfen in ihren jeweiligen Hauptwerken (die damals alle nur im Westen erschienen) eine Art »Post-Wachstumsutopie« (Amberger). Während Wolfgang Harich in Kommunismus ohne Wachstum eine globale Ökodiktatur verfolgt, in der die Diktatur des Proletariats in einem ökologischen Realsozialismus ohne Massen- und Luxusgüterproduktion auf Dauer gestellt ist, entwirft Robert Havemann in Morgen. Die Industriegesellschaft am Scheideweg einen gediegenen ökologisch-demokratischen Sozialismus, der die Überwindung des Patriarchats, Abrüstung und Frieden und globale soziale Gleichheit einschließt. Für Rudolf Bahro schließlich kann ein Ausgleich zwischen Gesellschaft und Natur nur in der Abkehr vom Technik- und Fortschrittsglauben gelingen sowie durch eine kulturelle Revolution, die statt auf technischen Fortschritt auf die Veränderung der Bedürfnisstruktur und auf eine post-materialistische, dafür an Bildung reiche Utopie zielt, eine Art asketische Einkehr – Bahro driftete bekanntlich später in die Esoterik ab.

Ihre Entwürfe dürften für die heutige Gesellschaftskritik vor allem deshalb interessant sein, weil sie nicht nur von den Anfängen eines Post-Wachstumsdiskurses unter den besonderen Bedingungen der DDR erzählen, sondern auch drei Varianten einer post-industriellen Gesellschaft präsentieren. Die drei Varianten waren zwar schon damals utopisch, wirken heute aber eher anachronistisch.

Frank Engster

Alexander Amberger: Bahro – Harich – Havemann. Marxistische Systemkritik und politische Utopie in der DDR, Schöningh, Paderborn 2014, 332 S., € 39,90.