Shakespeares in Machnos Bande – Boris Usows Konkowo-Formation 

Im Moskau der 1990er Jahre probte ein halbkonspirativer Kreis eine Rebellion, die immun gegen jede Anpassung sein sollte.

Als Boris Belokurow-Usow am 11. April 2019 im Alter von 48 Jahren in Moskau verstarb, existierte nicht einmal ein Eintrag in der russischen Wikipedia über ihn. Der Autor dankt Martin Fries (FU Berlin) für die Diskussion der Thesen und wichtige Anregungen. Dennoch meldeten die führenden Nachrichtenportale seinen Tod. Drei Jahre zuvor wurde ein Buch über ihn und sein Umfeld zu einem Bestseller Feliks Sandalov, Formejšn. Istorija odnoj sceny, Moskau 2016; siehe auch Aleksandr Gorbacev/Il’ja Zinin, Pesni v pustotu. Poterjannoe pokolenie russkogo roka 90-h, Moskau 2014.. Musikschaffende verschiedener Richtungen bezeichneten sich als von ihm beeinflusst. Heute reklamieren alle, die es nur irgendwie können, die Nähe zu Usows Underground-Zirkel für sich. Autoren der Hipster-Zeitschrift Afischa, der für den Kandinsky-Preis nominierte Künstler Grigori Juschtschenko, Berliner Electronic-Diva Galya Chikiss, der Star-Rapper mit dem Oxford-Abschluss Oxxxymiron – die Verehrer Usows sind bei weitem bekannter und erfolgreicher als er selber zu Lebzeiten je war. Unwahrscheinlich, dass dies ein Erfolg in seinem Sinne war. 

Denn Usows Name steht für kristallisierte Rebellion, die sich schwer fassen und nie zu einem Spektakel bändigen ließ. In der postsowjetischen Gegenkultur der 1990er Jahre, in der sich Linke und Rechte auf dieselben Leitfiguren beriefen und die Grenzen zwischen den politischen Lagern oft sehr fluide waren, hat Usow eine ganze Generation politischer Künstler geprägt. Die Kulturszene Russlands scheint seither dem gewaltigen Einfluss eines verspäteten Situationisten ausgesetzt zu sein, was erst nach seinem Ableben den Teilnehmer*innen und Beobachter*innen klar geworden zu sein scheint. 

Um ihn wirkte ein fast schon konspirativer Kreis, der aus dem Südwesten Moskaus zum Katalysator von künstlerischen Prozessen wurde, die das Erbe der sowjetischen Kultur mit linkem Rebellionsgestus der 1960er verbanden. Usows Praxis, mit immer neuen Provokationen das Publikum zu spalten und sich von seiner Anhängerschaft durch weitere Experimente zu isolieren, ist nachträglich zum Mythos geworden. Heute ist Usow ein Markenzeichen – wer rebellische Kunst machen möchte, kommt um ihn und seine plötzlich gewachsene Fan-Community nicht herum. Seine Texte werden zitiert, gecovert und es wird nicht lange dauern, bis er auch als Forschungsgegenstand der Kulturwissenschaft entdeckt wird. Die politischen Ambivalenzen werden in solchen Auseinandersetzungen zwar nicht verschwiegen, aber auch nicht ernsthaft diskutiert – sie bilden einen Teil des Mythos. 

Die Kritiker*innen dieses Mythos, wie der bekannte Musikjournalist Artjom Rondarew, sprechen Usow jegliche ernsthafte Intention ab. Laut Rondarjew wird im Rahmen dieses Hypes romantischer Geniekult, Verherrlichung des Eskapismus und Rebellion ohne sozialen Kontext propagiert. https://bit.ly/2VSrlet. Diese Kritik erklärt die Ideen Usows per se für keine Auseinandersetzung wert – als wirklich politische Kunst gelten für Rondarjew Punks mit frontalen und unzweideutigen Aussagen. Dagegen wäre festzuhalten, dass die fragwürdigen Inhalte des Usow-Kreises es verdienen, als eben solche ernst genommen zu werden, zumal Usows Haltung symptomatisch für desorientierte Linke im postsowjetischen Russland war. In einer Zeit, wo jede Rebellion schnell vereinnahmt wird, geht die totale Nonkonformität auf Kosten der Inhalte. 

Nimmt man diese Symptomatik hingegen ernst, lässt sich die verbreitete Vorstellung, dass »rebellisch« und »kritisch« gerade im Bezug auf die Kunst Synonyme seien, an der Geschichte der politisierten Kunstszene Russlands und der Figur Boris Usows einer längst überfälligen Prüfung unterziehen.

 

»Väterchen Wombat« 

Als Schüler interessierte sich der 1970 geborene Sohn eines namhaften sowjetischen Chemikers überhaupt nicht für Musik. Mit seinem Freund Boris »Rudkin« Grischin sprach Usow nur über zwei Themen: Kino und Bücher. Sowjetische und westliche Science-Fiction-Romane, in denen kommende Hightech-Gesellschaften geschildert wurden, waren seine Leidenschaft. Nach der Schule jobbte der junge Usow in einer Kinder- und Jugendbibliothek. In einem Jahr las er alles aus dem Bestand, was er noch nicht kannte, und wurde zum Abteilungsleiter befördert. Danach bestanden seine Eltern darauf, dass er eine Hochschulausbildung beginnen solle, was ihm ein Studium der birmanischen Sprache am Institut der Länder Asiens und Afrikas bescherte. Da die Lehranstalt viel Wert auf die praktische Verwendung der Absolventen im Rahmen des Kalten Krieges legte, gehörte zu Usows Curriculum auch ein Seminar über die Grundlagen von Desinformation und Spezialpropaganda, woran er sich später mit großem Vergnügen erinnerte.  https://bit.ly/2VVZHxk

Doch dann passierte etwas Unerwartetes: Die Sowjetunion begann zu zerfallen. Die Zukunftsvisionen vom intergalaktischen Kommunismus verloren genauso an Bedeutung, wie die kalten Kriegspläne für den birmanischen Sprachraum. Kein Kommunismus mehr auf der Erde und im Himmel. Ohne dass Boris Usow gefragt wurde, war alles, womit er aufwuchs, auf einen Schlag entwertet. Damit war Usow aber nicht einverstanden und wollte handeln. Er suchte nach Antworten, nach Strategien und Gleichgesinnten. All das fand er in der Sibirischen Szene, eine Unterströmung des sowjetischen Punks um Jegor Letows Band Graschdanskaja oborona (GrOb, Zivilverteidiung) und Roman Neumojews Instruktzija po wyschiwaniju (IPW, Anleitung zum Überleben). Anfänglich antisowjetisch und anarchistisch eingestellt, wandelten sich die sibirischen Punks in den 1990er Jahren zu Gegnern der neuen Ordnung, je nach Band unter sowjetnostalgischen, nationalbolschewistischen oder christlich-monarchistischen Vorzeichen. Ewgeniy Kasakow, »Immer dagegen«. Zur Geschichte des sibirischen Undergrounds, in: Testcard, Jahrgang 2011 (Heft 20), 136–143; ders., »Under Any Form of Government, I Am Partisan«: The Siberian Underground from Anti-Soviet to National-Bolshevist Provocation, in: Juliane Fürst/Josie McLellan (Hrsg.), Dropping out of Socialism. The Creation of Alternative Spheres in the Soviet Bloc, Lanham 2017, 233–252. Allen voran ging Roman Neumojew, der einen alten Liedertext der IPW »Töte einen Bullen, um ihm die Knarre wegzunehmen« in »Töte einen Jud [russ. Schid/Žid], um dir eine Knarre zu kaufen« umschrieb und damit im April 1991 einen Eklat auslöste. Zu den Hintergründen siehe Ewgeniy Kasakow, Modelle des Tabubruchs in der russischen Rockmusik: rechte Ästhetik und rechte Inhalte, in: Kultura. Russland-Kulturanalysen der FSO, Jahrgang 2009 (Heft 4), 22–26. Noch kurz davor san gen die sibirischen Punks andere Texte: »Ich werde zum Juden, zur Schwuchtel, zum Mönch, zum Dichter – alles, bloß nicht euch gefallen!« Damit wurde bereits postuliert, dass eine konsequente Rebellion genau einen solchen Positionswechsel erforderlich macht. Wer jetzt noch rebellisch sein wollte, der dürfe nichts machen, was mit der neuen herrschenden Ideologie der liberalen Demokratie und des Marktes kompatibel wäre. 

Als erstes gründeten Usow und Grischin-Rudkin ein Fanzine, um in Moskau das existenzielle Außenseitertum des sibirischen Punks zu propagieren. In der ersten Ausgabe schrieb Rudkin: »Jegors [Letows, der sich damals betont antifaschistisch gab – Anm. E.$K.] Lieder singend, wird die Jugend Judenpogrome beginnen. Einziger Weg sich dieser abgefuckten Herde zu entziehen ist – selber ein Jud zu werden, für immer und mit allen Konsequenzen, die diese Metapher nach sich zieht. Alles, um euch nicht zu gefallen. Deswegen bin ich ein Jud, und unsere ganze Zeitschrift besteht aus solchen ewigen Juden.« Šumela‘‘ myš‘. 1 (1990). Anpassung wäre Faschismus und sei es die Anpassung an den Antifaschismus, lautete die Logik der rebellischen Achse zwischen dem Moskauer Stadtteil Konkowo, wo Usow und Rudkin wohnten, und Sibirien. 

Keineswegs schlossen sich die Fans aus Konkowo dem Rechtsschwenk Neumojews an, aber sie ließen sich davon auch nicht in ihrem Fan-Sein abbringen. Die inhaltliche Wende war ja der Form nach immer noch Punk. Was auf gar keinen Fall Punk sei, das postulierte Usow von Anfang an: Irokesen- und Stecknadelträger; diejenigen, die expressive Musik mit simplen Texten haben wollten oder den aktuellen Trends der westlichen Szene nacheiferten. Gegen Fun-Punk, Stumpfheit oder Epigonentum führte der wachsende Konkowo-Zirkel einen regelrechten Krieg in seinen Veröffentlichungen. 

Die Idee, selber Musik zu machen, kam erst später. Als es 1992 soweit war, wurde bei der Umsetzung keine Rücksicht darauf genommen, dass noch kaum jemand Instrumente beherrschte und Usow seine formvollendeten Texte eher rezitierte als sang. Bei den détournement-Texten dürfte das Publikum ebenfalls herausgefordert gewesen sein. Zum détournement-Begriff siehe Max J. Orlich, Situationistische Internationale – Eintritt, Austritt, Ausschluss. Zur Dialektik interpersoneller Beziehungen und Theorieproduktion einer ästhetisch-politischen Avantgarde (1957-1972), Bielefeld 2011, 19–24. Aus dem Lied Väterchen Kombat der patriotischen Band Ljube machte Usows Band Väterchen Wombat – ein Lied mit anderer Melodie, dafür aber mit Zeilen wie »Wann, oh wann mein Totemtier, werde wir den brennenden Sydney sehen«. Aus dem sowjetischen Schlager über »drei weiße Pferde: Dezember, Januar und Februar« wurde ein Lied über »drei weiße Kater, drei arische Kater: Ordnung, Gesetz und Moral«. 

Der mit überdimensionalen Brillen und in Strickpullover auftretende Usow wurde vom Punkpublikum angespuckt und ausgepfiffen. Als Antwort darauf demolierten die Solomennyje Enoty (Waschbären aus Stroh), seine 1992 gegründete und in Anlehnung an Sam Peckinpahs Film Straw Dogs (1971) benannte Band Die Band wurde 2007 aufgelöst, was dem Ende der Formation gleichkam. Alben und weitere Materialien sind dokumentiert unter: https://bit.ly/3nL6Qfb., die Bühneneinrichtung. Auf gar keinen Fall sollte das, was in Konkowo gemacht wurde, mit dem Begriff Aktionskunst bezeichnet werden! Zur russischen Rezeption der Aktionskunst siehe Matthias Meindl, Reiner Aktivismus? Politisierung von Literatur und Kunst im postsowjetischen Russland, Köln/Weimar 2018. Mit der nach 1968 inflationär gewordenen »Kunstpädagogik«, bei der angeblich manipuliertes Publikum von einer schamanenhaften Künstlerfigur »gegenmanipuliert« werden soll und Schockeffekte oft banale Messages rüberbringen (»Schaut mal, ein Sarg, durch eure Politik sterben Menschen/Bildung/Natur«). 

Die Autoren des Konkowo-Fanzines nahmen regelmäßig einen Stadtplan von Moskau und zeichneten gerade Linien. Danach sollte die Strecke ohne Abweichungen durchlaufen und alle Hindernisse überwunden werden – eine radikalisierte Form des dérive-Vorgehens der Pariser Situationisten. Berichte darüber bildeten den Stoff für die nächsten Fanzine-Ausgaben. »Hier und jetzt« sollte Kampferkundung stattfinden, vorgelebte Utopien und propagandistische Einschwörungen sind in Konkowo dagegen nicht heimisch geworden.

 

Pfötchen des roten Katers 

Die Wohnung 104 in der Ostrowitjanow Straße 16 wurde spätestens 1994 zum Anlaufpunkt für Interessierte aus verschiedensten Subkulturen und Richtungen. Konkowo-Formation lautete die Selbstbezeichnung jenes Konglomerats aus Musiker* innen, Autor*innen und Veranstalter*innen, die immer neue Musikprojekte bildeten. Einigendes Element war die Ablehnung der Gegenwart, ob vom alternativ-anarchistischen, sowjetnostalgischen oder konservativ-traditionalistischen Standpunkt. Usows Band sang mit Vorliebe Texte über Fabelwesen, Tiere und Politik: »Roter Kater Dschulbars wird die Erde von reichen Wichsern befreien, roter Kater Dschulbars wird mit seinen Pfötchen die Staatsordnung zerstören.« Track 2, https://bit.ly/3Arw2ej.

Voraussetzung für die Teilnahme war es, ein interessanter Gesprächspartner für den Gastgeber zu sein und, umgekehrt, es mit ihm auszuhalten. Denn Usow, der Salonherr des Moskauer Undergrounds, konnte schon einmal ohne Rücksicht auf Alter und Geschlecht handgreiflich werden, wenn jemand gestand, den Filmemacher Jean-Luc Godard nicht zu mögen. Gorbacev/Zinin, Pesni v pustotu, 293–305. Erklärt wurde nichts: Texte von Usow wimmeln nur von Zitaten oder Querverweisen und wer mithalten wollte, musste selber Initiative zeigen, erst dann wurden Bücher, Tonträger und Filme ausgehändigt. Lohnarbeit galt als verpönt, Klauen von Alkohol gehörte zum Alltag.

 

»Was kostet die Nazi-Parole da?« 

Egalitäre Ziele der sowjetischen Gesellschaft, der 1968-Revolte und der progressiven Science-Fiction vermissend, baute Usow eine strikt hierarchische Gegenwelt auf. Die Geschichte der Konkowo-Formation ist, ähnlich wie die Geschichte der Situationistischen Internationale, eine Geschichte der Exkommunikationen der unwürdigen Mitstreiter*innen durch den »Meister«. Politische Differenzen waren solange erträglich, wie sie nicht bestimmte ästhetische Formen annahmen. Jede Trennung wurde umgehend in den Liedern der Waschbären verarbeitet, die immer den Charakter von Szenechroniken hatten. Ilja »Santim«-Mailaschenko, der sich der Nationalbolschewiken anschloss, landete mit dem Antimigrantenlied Russland für Russen, Moskau für Moskauer einen Hit in rechten Kreisen. »Wie viele Centime kostet die Naziparole da?« sang Usow ihm zum Abschied hinterher. https://bit.ly/3hJz3PM. Die DIY-Ideen vieler Künstler*innen aus dem Konkowo-Umfeld waren für Usow inakzeptabel, da er gerade darauf beharrte, dass nicht jede:r Kunst machen kann und soll. Darin liegt vermutlich die deutlichste Differenz Usows zur üblichen Situationismus-Rezeption. Siehe Hannah Chodura/Paul Helfritzsch, Ein verstellter Blick auf das Bild der Gesellschaft im Aufschub der solidarischen Praxis. Überlegung zu Guy Debord und Francisco de Goya, in: Jens Bonnemann/Paul Helfritzsch/ Thomas Zingelmann (Hrsg.), 1968: Soziale Bewegungen, geistige WegbereiterInnen, Springe 2019. Aus demselben Grund hielt er das Internet für eine Gefahr und lehnte jegliche Präsenz darin ab. Anderen warf Usow ihre vermeintliche Erfolgsorientierung vor und sobald sie Bekanntheit jenseits der Subkulturkreise erlangten, fühlte sich der geniale Dilettant aus Konkowo ausgenutzt und unterbrach alle Kontakte. 

Usow versuchte gleichzeitig, jede Öffnung des Kreises zu unterbinden. Der Mythos wuchs dadurch umso schneller. Für ihn kam Parteipolitik zwar nicht in Frage, da er die Formation selbst wie eine Art Partei führte. Die Parteimitgliedschaften anderer wurden von ihm jedoch toleriert. Er selbst vermied es, sich weder für noch gegen die Nationalbolschewistische Partei (NBP) zu äußern, die zunehmend zum Anlaufpunkt, Sammelbecken und Labor aller Subkulturen wurde und etliche »Formanten« anzog. Die NBP war allen Rebell*innen, allen »Extremen« offen, die Konkowo-Formation hingegen war eine geschlossene Institution, in die nur die Kooptation durch Usow Einlass gewährte. In ihren Texten beschreiben Solomennyje Enoty – ganz in der Tradition der Weltwahrnehmung ihrer 68er-Vorbilder – den bürgerlichen Alltag, die umgebende Gesellschaft, die geltende Normen durchweg als »faschistisch«. Die Protagonist* innen ihrer Lieder klingen wie RAFler in Tierkostümen aus West-Berlin, die ins Moskau der 1990er Jahre versetzt wurden. Sich selbst zu den Linken zählend, war der soziophobe Netzwerker Usow sich durchaus bewusst, dass zwischen ihm und den politischen Aktivist*innen oft Welten lagen. In einer seiner späteren Lieder erzählt der berühmte Anarchist Nestor Machno einem jungen Partisanen die Geschichte eines englischen Dichters, der sich einer Bauernarmee anschloss und von nun an den Kampfnamen »Shakespeare« trägt. In dem Refrain bilanziert die Stimme des Autors: »Uns mögen keine Tolstojaner und die Anhänger Gandhis – doch, Darling, wir sind alle Shakespeares in Machnos Bande«. Track 7, https://bit.ly/3EvNu3D.

Neben dem omnipräsenten Faschismus bildet die Jelzin-loyale Intelligenzija mit ihrer »antitotalitären« Legitimationsideologie konstantes Feindbild der Waschbären. »Menschen laufen über mit Salz bestreuten Wegen und sind stolz auf ihre soziale Rolle, aber ich habe andere Interessen im Leben, weil ich ein russischer Intelligenzler bin […]. Ich kommuniziere mit Frauen mit Hilfe von Gesten, ohne deren dummen Worten zuzuhören – das haben mir Lew Schestow, Berdjaew [russische antikommunistische Philosophen – E.$K.] und Smirnoff-Wodka beigebracht« heißt es im Lied Ich, russischer Intelligenzler, in dem Usow die ihm verhassten Zeitgenoss*innen karikiert. Track 3, https://bit.ly/3hMQkaL. Die Träger der westlich-liberalen Werte kommen in Usows Texten mit Zeilen wie diesen zu Wort: »Bin ich doch Europäer, reich, patriotisch, Anführer der zufriedenen Kohorten, wie ein Panzerkreuzer presche ich voran, wie ein Kreuzritter stolz«. Track 9, https://bit.ly/2XvRTDl.

Dagegen ist die Arbeiterklasse immer wieder eine positive Gegenkraft, was von Usow in allen Verlautbarungen unterstrichen wurde. »Denn die Bourgeois mögen krosse Ente und mögen nicht – Unruhen und Schüsse, ich bringe dir ein Vergissmeinnicht als Geschenk, ein Vergissmeinnicht dwKlassenkampfs«, heißt es in einem der früheren Texte. https://bit.ly/3zkYtt1. Dabei wird die Lohnarbeit in den Liedern der Waschbären durchgehend als stupide, erniedrigende und menschenfeindliche Veranstaltung verdammt. Auch antikoloniale Kämpfe und Feminismus genossen, den Texten zufolge, viel Sympathie von Usows Band. Sowohl gegenüber der »Sibirischen Schule« als auch gegenüber der konventionellen Punkszene Russlands zeichnete sich die Konkowo-Formation durch eine wesentlich aktivere Rolle der beteiligten Frauen aus. Während die russische Hardcore-Subkultur der 2000er Jahre Geschlechterverhältnisse in den eigenen Reihen beständig problematisierte, war Konkowo denen praktisch voraus, zumindest was die Präsenz auf den Aufnahmen und auf der Bühne betrifft. Als Sowjetnostalgiker *innen waren Usow und die Waschbären keine Stalinist* innen – ihre Referenzpunkte sind vielmehr in der »Tauwetterzeit« und dem für die späte UdSSR typischen Interesse an der übersetzten Science-Fiction-Literatur zu finden.

 

Rebellion und Kritik 

In diesem Universum voller Tiere, Terroristen, proletarischen Sci-Fi-Helden und faschistischer Spießer bekommt die Autorenstimme Usows sowie die Stimmen der Ich-Protogonisten seiner Lieder immer wieder fragwürdigen Beiklang. »Ich hasse mein Land, dafür, dass es ein Land ist […]. Ich bin kein Bulle, kein Jud, nicht mal Faschist, und, Gott mein Zeuge, kein Demokrat. Ich bin ein einfacher Telegraphist, meine Telegramme sind wie ein Hagel« Track 2, https://bit.ly/3zqUHyi.. Das ist keine Entgleisung – der Ethnophaulismus »Schid« (Jud, Itze) kommt in Usows Texten immer wieder vor. Von »ich schlage meinem Nachbar in die Fresse, die Welt wird von Itzen regiert, die wissen es, wie man die Spur wittert, ich verwische die Spuren« Track 10, https://bit.ly/3ExRZLl. bis hin zu »der Löwenteil soll kleiner werden, verrecke Itze, leb weiter, Jude« Track 4, https://bit.ly/2XBQz1D. – die Sentenzen sollen sich zwar der eindeutigen Deutung entziehen, aber als Kritik an Antisemitismus kann man sie schwerlich lesen. 

Es wiederum als Provokation um Provokationswillen zu deuten, greift zu kurz. Schon in den 1990ern schrieb Usow Musik- und Filmkritiken für das wichtigste Organ der Querfrontopposition die Zeitung Sawtra. Als er in einem seiner unter Pseudonym verfassten Texte unbedingt die Leistungen der damaligen Gitarristin der Waschbären, Anya Bernstein – heute ihres Zeichens Assistenzprofessorin für Anthropologie in Harvard – würdigen wollte, hat Usow für sie extra einen »unverfänglichen«, sprich unjüdischen, Bühnennachnamen »Anglina« erfunden. Sandalov, Formejšn, 135f.

Spätestens nach dieser belegten Anekdote muss der Verdacht aufkommen, Usow sei eigentlich kein Linker oder Rechter, sondern ein Trickster, der sich das Vertrauen ideologischer Lager erschleicht, um ihre Ordnungen und Erwartungen subversiv zu unterlaufen. Wer »patriotischen Underground« erwartet, bekommt Lob auf eine jüdische Musikerin, wer politische Protestkunst erwartet, Lieder über Kater und Wombats. Diejenigen, für die Punk Saufen und Pöbeln sei, servierte die Konkowo-Formation Reminiszenzen an Feminismus in ihren Liedtexten, während die Erwartungen derjenigen, für die Punk korrekte politische Aussagen beinhalten musste, mit den diskriminierenden Schimpfwörtern konfrontiert waren. 

All das wirft mehr Fragen auf, als es Antworten gibt. Vielfach wurde versucht die »politisch inkorrekten« Werke des postsowjetischen Underground mit dem Konzept Stjob zu erklären. Mischa Gabowitsch, Faschismus als stjob, in: Kultura. Russland-Kulturanalysen der FSO, Jahrgang 2009 (Heft 4), 3-9; Lukas Eichner, Alles nur Spaß? Die Bedeutung des Stjob in den Texten und Auftritten von Graždanskaja Oborona, in: Erinnerungskulturen: Erinnerung und Geschichtspolitik im östlichen und südöstlichen Europa, 2017, https://bit.ly/39ink6f; Zur Problematik der Verwendung siehe Meindl, Reiner Aktivismus?, 248–258. Das aus der sowjetischen Umgangssprache entlehnte Wort sollte, so der Anthropologe Alexei Yourchak, eine besondere Haltung zum Inhalt ausdrücken – weder Zustimmung noch Ablehnung: »Stiob was a peculiar form of irony that differed from sarcasm, cynicism, derision or any of the more familiar genres of absurd humour. It required such a degree of overidentification with the object, person or idea at which this stiob was directed that it was often impossible to tell whether it was a form of sincere support, subtle ridicule or a peculiar mixture of the two.«  Alexei Yurchak, Everything Was Forever, Until It Was No More: The Last Soviet Generation, Princeton 2005, 249f.

Üblicherweise wird das Stjob-Phänomen als eine Verarbeitung der Reglementierung der Spra che und der politischen Kontrolle über die Öffentlichkeit im Ostblock gedeutet. Es lassen sich jedoch auch Beispiele davon als ästhetische Strategie im Westen finden – das Fehlfarben-Lied Militürk ist ein Paradebeispiel dafür. Statt Parteinahme stiftet Stjob dem von »gefährlichen Wörtern« desorientierten Publikum Verwirrung. Sich mit dem Werk zu identifizieren wird gefährlich. Weil es eben »nicht klar ist, wie die das meinen«, wird den Konformitätsmechanismen entgegenwirkt. Die Möglichkeit der Zustimmung von der falschen Seite ist im Stjob immer angelegt – im besten Fall wirkt es dann selbstentlarvend. Über wen wollte Usow entlarvend lachen: über das linke Punk-Publikum, über die liberale Öffentlichkeit, die links und rechts gleichsetzte (und in Usows drastischer Wortwahl eine Bestätigung ihrer These sehen müsste) und für die Antisemitismus ein ultimatives Tabu darstellte, oder doch über die dem verschwörungstheoretischen Querfrontdiskurs verfallenen Formations-Mitglieder? Die Fixiertheit der »patriotischen« Kreise dieser Zeit auf die angeblichen »jüdischen Spuren« wurden sowohl von der früheren Sibirischen Schule, als auch von solchen Bands wie NOM auf »politisch inkorrekte« Weise verspottet, daher sollte diese Interpretation nicht außer Acht gelassen werden. In den Texten seiner Fans sucht man nach Kommentaren dazu vergeblich. 

Die Mutmaßung, Usow könnte schlicht alles, was er sagte, schrieb und sang, unernst meinen, wie es der anfangs erwähnte Artjom Rondarew formulierte, wäre eine verlockend einfache Erklärung. Artjom Rondarew, Lekcija »Pank-andergraund 90-h I pank 10-h«, 2018, https://bit.ly/3tOwCAo. Aber es unterschätzt die Intensität, mit der sich Usow seinem eigenen Konzept hingab, sowie die theoretischen Konstanten. Die Pflege der ästhetischen Generallinie in Konkowo war für Usow Lebensaufgabe. Seine Rebellion war durchaus ernst gemeint: Damit wurde erkundet, wo die Provokationen aufgingen, da Usow dort wohl die schwachen Stellen der verhassten Ordnung vermutete. Es schärfte die Beobachtung, sorgte aber für inhaltliche »Flexibilität«. Jedoch im Gegensatz zu den sibirischen Punks wie Letow und Neumojew, musste Usow nie seine Inhalte ändern, um weiterhin Rebell zu bleiben. Enormes Pensum an Gelesenem, Gehörtem und Gesehenem änderten nicht seine Vorstellungen, sondern zementierten sie. Die Provokationen erzielten ihren Effekt, also war die Agenda weiterhin aktuell. Usows virtuose Dichtung und seine wirren, aber mit großer Unbedingtheit vertretenen gesellschaftlichen Ansichten sind ein lehrreiches Beispiel dafür, dass Rebellion eben etwas anderes als Gesellschaftskritik ist.

 

Ewgeniy Kasakow 

Der Autor ist promovierter Historiker und arbeitet am Centre for Comparative History and Politics (CCHPS) der Universität Perm.