Seit dem Kriseneinbruch im Spätsommer 2009 ist, so scheint es, die gestalterische Kraft der Politik zurück. Die große Koalition aus SPD und CDU setzt ohne Zögern und in rasantem Tempo reformerische Ideen um, auf die innerhalb der politischen Landschaft in Deutschland bis vor kurzem noch die Linkspartei ein Monopol hatte. Das Tempo und der Stil, in dem diese Reformen vor sich gehen, erinnern bisweilen an eine neue Variante der Notstandsgesetzgebung. Die Linkspartei, Attac und auch die Grünen ficht das jedoch nicht an. Sie wollen, mit einer Formulierung von Elmar Altvater, den Kapitalismus »bis zur Unkenntlichkeit reformieren«.
Die Kritik ist derweil auf den Hund gekommen. Die Linkspartei etwa fordert einen »Schutzschirm für die Menschen« und betont, die aktuelle Krise sei die Krise einer Wirtschaftsordnung, die allein für den Profit und nicht für den Bedarf produziert.« Attac fordert währenddessen auf der Aktionsseite »Das Casino schließen«, Zit. n. http://www.casino-schliessen.de/. die Entmachtung der Banken, die Kontrolle der Finanzmärkte, das Schließen der Steueroasen und dergleichen mehr. Beklagt wird eine »Politik radikaler Marktgläubigkeit«. Auch nach Auffassung der Grünen »ist etwas aus dem Lot geraten, wenn Wohlstand immer ungerechter verteilt wird und Geiz und Gier die Märkte dominieren.« Schuld daran sind »die oberen Zehntausend« (Linkspartei) bzw. die »Rahmenbedingungen für die heutige globale Wirtschaftspolitik« (Attac), die in den »vergangenen Jahrzehnten von der Politik bewusst gestaltet worden« Zit. n. http://www.attac.de/aktuell/krisen/. sind. Damit soll jetzt jedoch Schluss sein. »Es ist Zeit für echte Alternativen«, wie die Linkspartei schreibt. Die Grünen sehen das ganz ähnlich und fordern »einen grünen neuen Gesellschaftsvertrag«.
Was hier mit dem Flair des radikal Neuen daherkommt, ist jedoch nichts mehr als das altbackene Bekenntnis zu Markt, Staat und Kapital. Was hier mit »Systemkritik« verwechselt wird, hat mit einer Kritik des Kapitalismus reichlich wenig zu tun. Stattdessen soll der Hund, auf den die Kritik gekommen ist, nun an die Kette.
Teufel und Beelzebub
Geht es nach dem Willen von Attac, Linkspartei und Grünen, dann soll im Grunde alles so weitergehen wie bislang. Dieses Faktum steht in erstaunlichem Kontrast zur Vehemenz, mit der die tief greifenden Auswirkungen der Krise geschildert werden. Von der heftigsten Wirtschaftskrise seit 1929 ist die Rede, von nie gesehenen Einbrüchen bei Export und Wirtschaftswachstum – doch die Rezepte nehmen sich dagegen vergleichsweise zurückhaltend aus. Geht es nach dem Willen der Linkspartei, so werden eine Millionärssteuer, eine höhere Besteuerung von Unternehmen, Erbschafts- und Vermögenssteuer, ein staatliches Investitionsprogramm in Höhe von 100 Milliarden und andere Forderungen, wie wir sie bereits aus den Wahlprogrammen der letzten Jahrzehnte kennen, die Lage unter Kontrolle bringen. Bei den Grünen sieht es nicht anders aus, und auch Attac macht kaum mehr, als alte Forderungen aufzuwärmen. Das Kapital soll – auch in seiner Form des Finanzkapitals – nicht abgeschafft, sondern eingehegt werden. Im Parteitagsbeschluss zum »Green New Deal« haben die Grünen dies auf die eingängige Formel »Bienen statt Heuschrecken« gebracht.
Den Hintergrund dieser Forderungen bildet eine im medialen Mainstream weitgehend durchgesetzte Sicht auf die Hintergründe der aktuellen Weltmarktkrise. Gemäß dieser Sichtweise hat die Politik seit den siebziger Jahren die institutionellen Rahmenbedingungen derart verändert, dass das Kapital statt in produktive Maschinen und Anlagen lieber in Finanzanlagen investiert habe. Diese veränderte Schwerpunktsetzung habe dann ebenso die gestiegene Sockelarbeitslosigkeit wie auch die Abkopplung der Finanzmärkte von der Entwicklung der realen Produktion zur Folge gehabt.
Diese Sichtweise verkehrt jedoch Ursache und Wirkung. Denn tatsächlich gab es Mitte der siebziger Jahre in den großen Industrienationen eine Halbierung der Unternehmensgewinne und große Mengen brachliegenden Kapitals, die sich nicht mehr lohnend in die von Überkapazitäten gezeichneten Fabriken investieren ließen. Nachdem die Krise zunächst in den Achtzigern durch steigende Staatsausgaben überbrückt werden konnte, kam es seit den Neunzigern verstärkt zu virtueller Kapitalvermehrung. Finanztitel unterschiedlichster Bauart wurden als Eigentumstitel gehandelt und haben so eine von der realen Produktion unabhängige Preisentwicklung durchgemacht, auf die ein Großteil des wirtschaftlichen Wachstums seit dieser Zeit zurückgeführt werden kann. Darüber hinaus konnten die so erwirtschafteten Gewinne dann genutzt werden, um reale Waren zu konsumieren und so die Wirtschaft noch einmal anzutreiben.
Die so entstandenen riesigen Mengen ungedeckten fiktiven Kapitals waren also weniger eine Belastung für die Realökonomie, sondern haben sich zu ihrem letzten Motor entwickelt. Eine selbsttragende ökonomische Perspektive nach dem Fordismus gab es nicht – weshalb diese Epoche zumeist lediglich in Abgrenzung zu diesem als Postfordismus bezeichnet wurde. Die vielen, oft inbrünstig vorgetragenen Anklagen gegen das böse Finanzkapital und die vermeintlich über die fleißig arbeitenden Deutschen herfallenden Heuschrecken waren daher schon immer nicht nur mit antisemitischen Denkmustern eng verwandt, sondern auch schlicht und ergreifend falsch.
Kategoriale Bestimmungen
Doch auch bei dieser Feststellung ist Vorsicht angebracht. Denn selbstverständlich war es so, dass in den letzten Jahren und Jahrzehnten in großem Stil Reichtum umverteilt wurde. Die Kluft zwischen Arm und Reich wurde größer, ebenso wie der Anteil derer, die faktisch nicht mehr am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können. Und sicherlich waren es politische Entscheidungen, die dies ermöglicht haben, die im Zweifelsfall auch anders hätten ausfallen können. Es gibt keine ökonomische Notwendigkeit, dass im Rahmen von Steuerreformen Spitzensteuersätze stärker sinken müssen als die Steuersätze der GeringverdienerInnen. Insofern gehen auch die Reformen der letzten 30 Jahre nicht in Systemzwängen auf.
Trotz allem lässt sich aber auch nicht verleugnen, dass der Kapitalismus partout nicht das machen will, was die Menschen von ihm wollen. Das liegt zunächst einmal daran, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse hier nicht transparent gestaltet werden, sondern »hinter dem Rücken der Produzenten«. Karl Marx, Friedrich Engels, Marx-Engels-Werke 23, 59. In warenproduzierenden Gesellschaften produzieren die Menschen nicht für sich selber und kommunizieren auch nicht miteinander darüber, was sie sich arbeitsteilig gegenseitig zur Verfügung stellen möchten. Sie produzieren vielmehr Dinge, damit diese dann von anderen Menschen konsumiert werden können. Dafür bekommen sie Geld, und für dieses Geld können sie sich die Arbeitsprodukte anderer kaufen. Diese wurden ebenfalls von Menschen produziert, die sie keineswegs zum Zweck sinnvoller Nutzung hergestellt haben, sondern die sie lediglich als Möglichkeit sehen, die von Anderen hergestellten Produkte zu erwerben.
Die Menschen stehen sich dabei als getrennte PrivatproduzentInnen gegenüber, wobei privat nichts weiter bedeutet als »nur die eigene Person betreffend«. Zit. n. http://www.mydict.com/Wort/privatere; ob diese Person dabei eine natürliche (also ein Mensch) oder eine juristische (also etwa ein Unternehmen) ist, spielt keine Rolle. Gleichzeitig produzieren sie aber für die Gesellschaft, denn schließlich wollen sie die Waren gar nicht selber konsumieren. Die Arbeit ist also gleichzeitig private Arbeit und gesellschaftliche Arbeit und daher auch von eben diesem Widerspruch geprägt. Der Zugriff der Einzelnen auf den gesellschaftlichen Reichtum hängt nun primär davon ab, in welchem Maße es ihnen gelingt, die verausgabte Arbeit (für gewöhnlich auf dem Markt) anerkennen zu lassen. Wird die Ware verkauft, ergibt sich daraus eine Konsummöglichkeit. Und andersherum: Die eigenen Konsummöglichkeiten sind abhängig davon, ob die Waren auf dem Markt absetzbar sind. Und so sind es nicht mehr die Menschen, die ihre gesellschaftlichen Verhältnisse machen, sondern die Waren respektive die Dinge. Ihr Verhältnis untereinander reguliert den gesellschaftlichen Austausch, weshalb dieser Umstand oftmals auch als Verdinglichung bezeichnet wird.
Diese widersprüchliche Konstitution geht mit einem grundsätzlichen Unterschied von betriebs- und volkswirtschaftlicher Logik einher. Während es für die kapitalistische Ökonomie als Ganze notwendig ist, immer mehr gesellschaftlich notwendige Arbeit in den kapitalistischen Gesamtprozess einzusaugen, funktioniert diese Logik für die isolierten PrivatproduzentInnen oftmals andersherum: Hier kann der Ersatz von Arbeitskraft durch Maschinen die Voraussetzung für eine effektivere und damit günstigere Produktion sein. Wenn es den Betrieben möglich ist, mit einer Produktivität oberhalb des gesellschaftlichen Durchschnitts zu produzieren, dann ergibt sich daraus für sie die Möglichkeit, einen Extraprofit auf sich zu ziehen. Gesamtgesellschaftlich hat dies jedoch (bei gleichbleibendem Ausstoß) zunächst einmal ein Sinken der vernutzten Arbeit – und damit ein Sinken des kapitalistischen Reichtums zur Folge. Solange dieser Trend durch eine Erweiterung der Produktpalette bzw. eine Ausdehnung der produzierten Stückzahlen ausgeglichen werden kann, kommt er nicht als Krisenmoment zur Geltung. Es steigt schließlich die Menge kapitalistisch verwerteter Arbeit. Das allerdings gelingt – wie oben gezeigt – seit Mitte der siebziger Jahre nicht mehr wirklich. Seitdem kriselt es in der Wirtschaft – und es gelingt den gesellschaftlichen Eliten mehr schlecht als recht, dieses Kriseln zu kaschieren.
Wirtschaft und Demokratie
Den gesamtgesellschaftlichen Trends kann sich kein Unternehmen vollends entziehen. Sicherlich gibt es immer Nischen, Marktlücken, clevere Geschäftsideen und dergleichen mehr. Aber letztlich bleibt jedes betriebswirtschaftliche Kalkül stets auf die Gesamtgesellschaft bezogen und steht daher auch in Abhängigkeit zu ihr. Das weist auch alle Überlegungen von Wirtschaftsdemokratie in enge Grenzen. Wirtschaftsdemokratie meint für gewöhnlich zweierlei: Zum einen sollen betriebliche Entscheidungsabläufe demokratisiert werden, zum anderen soll eine Globalsteuerung der ökonomischen Prozesse erreicht werden.
Im Heft 4 der linken Zeitschrift Lunapark 21 Lunapark 21 ist eine »Zeitschrift für Politische Ökonomie« unter Chefredakteur Winfried Wolf. präsentierte Beat Ringer wirtschaftsdemokratische Überlegungen als eine »Ökonomie des Irrtums« und versuchte anhand der Entwicklung in Bolivien das Nebeneinander von privat- und gemeinwirtschaftlicher Ökonomie, von Profit- und Gemeinwohlorientierung und eine Transformation der Ökonomie hin zu einem neuen Sozialismus zu skizzieren. Die Aufgabe, vor der ökonomische Transformationsprozesse stünden, so Ringer, sei es, die unbewusste und ungeplante Ökonomie des Marktes in eine geplante zu verwandeln. Die ökonomischen Prozesse sollten unter die demokratisch ausgehandelten Bedürfnisse der Menschen untergeordnet werden, statt dass weiterhin die demokratischen Prozesse durch ökonomische Notwendigkeiten begrenzt würden. Beat Ringer: socialism revisited. In: Lunapark 21, 2009 H5, 40–49.
Bei näherem Hinsehen wird offensichtlich, dass die von Ringer vorgeschlagenen Maßnahmen keinesfalls mit der herrschenden Wirtschaftsweise brechen und entsprechend kaum in der Lage sein dürften, dem Anspruch gerecht zu werden, »gesellschaftliche Strukturen und Prozesse zielgerichtet zu entwickeln.« Ebd. 42. Denn wie in jeder anderen auf Geld und Ware beruhenden Gesellschaft würden sich auch in diesem »neuen Sozialismus« deren Zwangsgesetze früher oder später Geltung verschaffen.
Die Mär von der rationalen Planung
Bereits die realsozialistischen Planversuche in Osteuropa hatten mit diesen Widersprüchen zu kämpfen. Den ProtagonistInnen des Realsozialismus war es dabei durchaus geläufig, dass es sich bei ihrer Gesellschaft um eine warenproduzierende handelt. Der Sozialismus galt ihnen als »das Gegenstück zum Kapitalismus, nicht aber zur Warenproduktion schlechthin.« Autorenkollektiv: Lehrbuch Politische Ökonomie Sozialismus, Frankfurt a.M. 1972, 274. Und im Unterschied zur kapitalistischen Warenproduktion sollten deren Widersprüche nun »in das System der Beziehungen der planmäßig organisierten Produktion eingeschlossen« werden und somit nur »eine untergeordnete Rolle« spielen. Ebd., 259.
Dieser Versuch ist jedoch nicht nur historisch gescheitert, es lassen sich auch Gründe angeben, die dafür nicht unwesentlich mitverantwortlich zeichnen. Im Folgenden wird lediglich auf im engeren Sinne ökonomische Gründe eingegangen. Ideologische Phänomene wie der historische Materialismus, der Führerglaube und dergleichen mehr werden nicht berücksichtigt. Vgl. hierzu einführend Bini Adamczak, Gestern Morgen. Münster 2007. Denn als warenproduzierende Gesellschaften zeichneten sich auch die realsozialistischen Ökonomien durch den Widerspruch von gleichsam privater und gesellschaftlicher Produktion aus. Die sozialistischen Bürokratien gaben zentrale Planvorgaben aus, die von den einzelnen Betrieben abgeleistet werden mussten. Gleichzeitig wurde die Abnahme der produzierten Güter garantiert. Wenn nun beispielsweise viel Arbeit in die Produkte floss, dann waren sie in diesem Sinne mehr »Wert«, da der Staat ihre Abnahme zugesichert hatte und die verausgabte Arbeit somit gesellschaftlich anerkannt wurde. Die jeweiligen Betriebe haben sich entsprechend dieser Ausgangslage dann mehr oder weniger rational zu der staatlichen Planungsinstanz als gesellschaftlicher Allgemeinheit verhalten. Sie versuchten, so viel gesellschaftlichen Reichtum auf sich zu ziehen, wie es nur irgendwie möglich erschien.
Solange die Abnahme garantiert war, machte es durchaus Sinn, viel Arbeit für die Produktion aufzuwenden. Wenn zusätzlich gebrauchswertorientierte Maßstäbe wie etwa Materialverbrauch angegeben wurden, dann konnte es sinnvoll sein, bei der Produktion möglichst viel Material aufzuwenden. Johanna W. Stahlmann, Die Quadratur des Kreises. Funktionsmechanismus und Zusammenbruch der sowjetischen Planökonomie. In: Krisis 8/9. Erlangen 1990, 47ff. Die jeweilige Ausrichtung der betrieblichen Praxis war dabei an einem umfangreichen Kennziffernsystem orientiert. Zum einen wurde die verausgabte Arbeit gemessen. Um die Produktion nicht alleine durch ein sehr abstraktes Maß zu quantifizieren, wurden zusätzliche Erfolgswerte definiert. Das konnten ebenso monetäre Kennziffern wie die Gewinnabführung, aber auch produzierte Stückzahlen oder Materialverbrauch sein. Zum Überblick über das Kennziffernsystem in der Spätphase der DDR vgl.: Hannelore Hamel (Hrsg.), Bundesrepublik Deutschland – DDR. Die Wirtschaftssysteme. München 1983. Die zu erreichenden Werte wurden zunächst anhand der bekannten Betriebsdaten festgelegt. Bereits hier begann freilich ein ungewollter Wettbewerb, denn die Betriebe versuchten geradezu systematisch, die eigene Leistungsfähigkeit vor den höheren Instanzen zu verschleiern. So versuchten sie das vielfältige System aus Leistungsanreizen und Messzahlen so zu beeinflussen, dass es ihrem internen Betriebsablauf möglichst entgegenkam. Wurde beispielsweise im Wohnungsbau die bewegte Menge der verbrauchten Materialien prämiert, so wirkte sich das auf das Arbeitsergebnis aus, indem möglichst viel verbaut wurde. Waren sie nicht Teil der Leistung, so konnte es auch mal vorkommen, dass Häuser vollständig auf Schutt aufgebaut wurden und über kurz oder lang einstürzten. Stahlmann, Quadratur, 53. Oder, um ein anderes Beispiel zu bemühen: Wenn das Auto oder der Traktor erst einmal gebaut war, kümmerte sich niemand mehr um später anfallende Reparaturen. Die waren nicht Teil der Planauflagen und deshalb auch nicht Teil des Kalküls der Betriebsleitung. Das führte etwa in der Sowjetunion zu einer Situation, in der die Herstellungskosten der Fahrzeuge nur etwa 2 bis 4 Prozent der gesellschaftlichen Gesamtkosten ausmachten – der Rest durfte in Form von Reparaturen, Wartung etc. von den KonsumentInnen übernommen werden. Abel Aganbegja, Ökonomie und Perestroika. Gorbatschows Wirtschaftsstrategien. Hamburg 1989, 56f.
All dies heißt nun selbstverständlich nicht, dass der Mensch an sich böse und gemein wäre oder nicht in der Lage, sich solidarisch auf andere Menschen zu beziehen. Er wird dies lediglich dann nicht tun, wenn er sich innerhalb gesellschaftlicher Verhältnisse bewegt, die ihn in einen institutionellen Antagonismus sowohl zu seinen Mitmenschen als auch zur gesellschaftlichen Allgemeinheit setzen. Solange die Menschen nicht für sich oder aufgrund transparenter Aushandlungsprozesse auch für andere produzieren, sondern stattdessen für eine anonyme AbnehmerInnen-Gruppe unter Berücksichtigung der jeweils verausgabten Arbeitszeit, ist ihre Produktion weder an den Bedürfnissen der NutzerInnen orientiert noch an der Nutzbarkeit der Dinge. Es braucht vielmehr zusätzliche Mechanismen, die garantieren, dass der Produktion von Unfug zumindest partiell Einhalt geboten wird.
In marktvermittelten Ökonomien ist der Markt ein solcher Mechanismus. Da die KonsumentInnen zumindest prinzipiell die Möglichkeit haben, zwischen unterschiedlichen Produkten zu wählen, lassen sich vollständig funktionsuntüchtige Hightech-Geräte zumindest dauerhaft nicht absetzen. Im Realsozialismus war das keineswegs der Fall. Denn hier gab es die staatliche Abnahmegarantie. Und so wurde gemäß den Vorgaben der Planbürokratie munter drauflos produziert, auch wenn der Gebrauchswert im Zweifel gegen Null tendierte. Das Hauptziel war das Einsaugen von Ressourcen aller Art, um diese dann in möglichst umfangreiche Prämien umwandeln zu können. Das heißt nun nicht, dass es nicht im Einzelfall durchaus hochwertige Produkte gegeben hat, die aus dem planwirtschaftlichen Produktionsaggregat ausgeworfen wurden. Trotz Ausschaltung der Marktfunktionen war es also nicht möglich, das Prinzip der Konkurrenz aus dem ökonomischen Betrieb herauszudrängen. Sie trat hier lediglich in einer verqueren Form, nämlich der der negativen Konkurrenz, auf. Um das mit einem Beispiel zu illustrieren: Da im Zweifel damit gerechnet werden muss, dass die gelieferten Vorprodukte aufgrund der Abnahmegarantie nicht immer voll funktionstüchtig waren, wurden zunächst auf Verdacht möglichst große Bedarfsmengen angegeben – und zwar von allen. Diese Praxis sorgte dann dafür, dass nicht nur alles stets knapp war, sondern die Betriebe zudem ihre Produktionsmengen mit dem Argument senken konnten, es fehle ihnen ja an Rohstoffen. Aganbegjan, Perestroika, 55f. Der Betrieb, der in dem Spiel mit offenen Karten spielte, bekam nicht nur weniger, er musste auch mehr leisten. Kurzum: Da der eigene Anteil am gesellschaftlichen Reichtum davon abhing, möglichst große Mengen bestimmter Plandaten im eigenen Betrieb zu verausgaben, wurde so eine Ökonomie der Verschwendung in Gang gesetzt. Möglichst viel Material, möglichst viel Arbeitskraft – Hauptsache, es zählt. Zur negativen Konkurrenz vgl. Stahlmann, Quadratur 1990, 58ff. Und: Ernst Lohoff, Der Dritte Weg in den Bürgerkrieg. Jugoslawien und das Ende der nachholenden Modernisierung. Bad Honnef 1996, 57ff.
Commonismus und Peer-Production
Jede Vergesellschaftung, die über den Vergleich von Arbeitszeiten organisiert ist, muss sich diesem Problem stellen. Auch wenn im Zuge deutlicher werdender kapitalistischer Krisenmomente wieder Diskussionen um postkapitalistische Gesellschaftsmodelle in Mode zu kommen scheinen, so fehlt ihnen in aller Regel ein Bewusstsein für die werttheoretischen Implikationen sowohl einer Kritik kapitalistischer Verhältnisse als auch deren Folgen für Vorstellungen von sozialer Befreiung. Im Folgenden soll diese Problemstellung kurz anhand des von Christian Siefkes vorgeschlagenen Modells der Peer-Economy diskutiert werden. Zur detaillierten Beschreibung des Peer-Economy-Modells vgl. Christian Siefkes, Beitragen statt tauschen. Materielle Produktion nach dem Modell Freier Software, Neu-Ulm 2008. Für andere Ansätze wie etwa die Alternativen aus dem Rechner von den schottischen Wirtschaftswissenschaftlern Cockshott und Cottrell W. Paul Cockshott/Allin Cottrell, Alternativen aus dem Rechner. Für sozialistische Planung und direkte Demokratie. Köln 2006. gelten die aufgeworfenen Probleme jedoch analog.
Ausgehend von den Phänomenen der Freien Software und der Internetpiraterie versucht Siefkes die sich in diesen Bereichen als soziale Praxis etablierenden Kommunikations- und Interaktionsformen auch für die nichtkapitalistische Produktion materieller Güter fruchtbar zu machen und entsprechend zu theoretisieren. Eine nach den Prinzipien der Peer-Economy organisierte Gesellschaft wäre dezentral in unterschiedlichen Projekten mit lokalem oder auch globalem Bezug organisiert. Er geht dabei davon aus, dass innerhalb dieser Projekte eine grundsätzliche Koppelung von Geben und Nehmen beibehalten wird, dass also der Zugriff auf den produzierten Reichtum in der einen oder anderen Weise von den geleisteten Arbeitsmengen abhängig bleiben soll. Unter Verweis auf die Robinsonade Als Robinsonade werden Geschichten oder wissenschaftliche Abhandlungen bezeichnet, die das Motiv der – zumeist unfreiwilligen – Isolation auf einer Insel bemüht. im Fetischkapitel des Kapital und die marxschen Überlegungen zum Äquivalententausch in der Kritik des Gothaer Programm gilt ihm dies als postkapitalistisches Prinzip und mit dem marxschen Werk im vollen Einklang. Christian Siefkes, Ist Commonismus Kommunismus? Commonsbasierte Peer-Produktion und der kommunistische Anspruch. In: Prokla 155. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft. Münster 2009, 259f. Davon abgesehen, dass die hohe Autorität von Marx als solche noch keine triftige Begründung darstellt, übersieht er dabei, in welchem argumentatorischen Kontext die marxschen Ausführungen stehen. Im Fetischkapitel etwa bringt Marx das Beispiel mit der Distribution der Güter anhand der zu ihrer Produktion aufgewendeten Arbeitszeit ausdrücklich »nur zur Parallele mit der Warenproduktion«. MEW 23, 93. Und in der Kritik des Gothaer Programm begründet Marx seine Annahme über den Automatismus eines historischen Materialismus und eine damit verbundene klassische Revolutionstheorie, bei der die gesellschaftliche Macht auf einen Schlag vom Proletariat übernommen wird. MEW 19, 20. Diese Grundannahme beißt sich jedoch mit dem Anliegen des Konzeptes der Peer-Economy, das gerade darin besteht, kommunistische Organisierung bereits vor einer vermeintlichen Revolution zu ermöglichen.
Doch auch inhaltlich macht Siefkes Argument wenig Sinn. Sicherlich ist es richtig, dass im Rahmen einer Kopplung von Geben und Nehmen, bei der die Bedürfnisse und Arbeitsbelastungen bereits vor der Produktion geklärt werden, die klassische Konkurrenz der Marktgesellschaften hinfällig wird. Doch durch die Aufrechterhaltung der Kopplung wird die Konsumtion der je Einzelnen weiterhin abhängig bleiben von ihrer Produktion bzw. davon, wie viel dieser Arbeit gesellschaftlich anerkannt wird. Sie treten sich weiterhin als vereinzelte Einzelne gegenüber. Um am gesellschaftlichen Reichtum teilhaben zu können, müssen sie ein bestimmtes Pensum an gewichteten Arbeitsstunden abliefern. Ihre individuell verausgabte Arbeit existiert auch hier zugleich als gesellschaftliche Arbeit. Entsprechend wird sich auch hier die bereits aus den realsozialistischen Ökonomien bekannte Negative Konkurrenz etablieren.
Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass die ProduzentInnen in der einen oder anderen Weise auch KonsumentInnen sind. Siefkes, Commonismus, 263. Es ist gerade der bewusstlose Prozess, der sich hier gegen die Menschen mit ihren Bedürfnissen durchsetzt. Auch dieses Problem kennen wir aus dem Realsozialismus, in dem es ebenfalls keine Seltenheit war, dass »der an fehlerhaften oder vertragswidrig angelieferten Einzelteilen verzweifelnde Betriebsleiter kaltlächelnd selber Ausschussproduktion an den Mann bzw. an die Frau zu bringen versucht. Und somit alle und jeder einander gegenseitig und dadurch aufgrund ihres allseitigen gesellschaftlichen Vernetzungszusammenhangs letztendlich sich selber ständig über das ausgestreckte Bein stolpern lassen.« Robert Kurz, Kollaps der Modernisierung. Vom Zusammenbruch des Kasernensozialismus zur Krise der Weltökonomie. Frankfurt a.M. 1991, 102.
Darüber hinaus stellt sich bei derartigen Ökonomie-Modellen immer auch die Frage, welche Tätigkeiten in den Zeitverteilungspool aufgenommen werden sollen und welche nicht – welche Tätigkeiten also als Arbeit gesellschaftlich anerkannt werden und welche nicht. Denn diese Modelle und Vorstellungen müssen strukturell von der Ökonomie als einer aus dem gesellschaftlichen Leben herausgelösten Sphäre ausgehen. Arbeit und Nicht-Arbeit, Produktion und Reproduktion, Ökonomie und Kultur sollen als gesonderte Bereiche aufrechterhalten werden. Damit würde jedoch auch die patriarchale Arbeitsteilung kapitalistischer Gesellschaften übernommen. Fielen beide Begriffe hingegen in eins, wäre eine Bemessung von Arbeitszeiten nur um den Preis einer allumfassenden Unterwerfung aller Tätigkeiten und Lebensregungen unter das zentrale Planregime möglich. Damit wäre die befreite Gesellschaft eine, die von morgens bis abends unter dem Diktat von Berechnung und Nützlichkeit steht. Und das wäre sicherlich auch nicht erstrebenswert.
What's left?
Was also bleibt nach diesen Betrachtungen? Die kläglichen Versuche der parlamentarischen Restlinken, die Marktwirtschaft wieder flott zu kriegen, scheinen nicht sonderlich Erfolg versprechend. Und auch den zaghaften Bemühungen, zum Markt eine Alternative ins Rennen zu werfen, fehlt es derzeit noch an Überzeugungskraft und inhaltlicher Stringenz. Nichtsdestotrotz werden hier die ersten Gehversuche einer Debatte unternommen, um die wir nicht herumkommen werden. Denn wenn wir tatsächlich den Kapitalismus mitsamt seinen inhumanen Verwerfungen und ideologischen Borniertheiten hinter uns lassen wollen, dann werden wir um die Frage, was ein emanzipativer Postkapitalismus eigentlich wäre und was er eben nicht ist, kaum herumkommen.
~Von Julian Bierwirth. Der Autor schreibt u.a. für den blog Emanzipation oder Barbarei.