Sozialphilosophie als Kapitulation

Einige Anmerkungen zu Joachim Bruhns Amoklauf gegen die Klassentheorie und den Materialismus überhaupt

1.

Mit dem Bild einer restlos kapitalisierten und darum zur revolutionären Umwälzung nicht mehr fähigen Welt, das heute als kritische Theorie herumgereicht wird, befasste sich mein Beitrag »Unkritische Theorie« in der Märzausgabe der Phase 2.Vgl. Felix Baum, Unkritische Theorie, in: Phase 2.11, März 2004, 37-39. Für Anregungen und Kritik zum vorliegenden Beitrag danke ich David Zorn. Dies düstere Szenario lebt davon, die historische Durchsetzung eines strikt kapitalistischen Arbeitsprozesses - den sogenannten Übergang von der formellen zur reellen Subsumtion der Arbeit unters Kapital - als Ende des Klassenantagonismus zu zeichnen, der sich vorkapitalistischen Resten verdankt haben soll. Weil es sich schließlich alles einverleibt, wird das Kapital demnach wirklich zum »automatischen Subjekt«. Gezeigt wurde, dass dies weder logisch noch historisch irgendeinen Sinn ergibt. Die kulturpessimistische Konstruktion ruht auf dem Kategorienfehler, die Subsumtion der Arbeit als eine der Arbeiterklasse zu verstehen, und blamiert sich an der Geschichte der Klassenkämpfe, die selbst im Spätkapitalismus nicht abreißt, wenn auch, wie beiläufig festgestellt wurde, die deutsche Friedhofsruhe der Vorstellung von einem gottgleichen Kapital einen idealen Nährboden bietet.

Mit Selbstverständlichkeiten nicht gelangweilt werden zu wollen, wäre eine angemessene Antwort auf diesen Beitrag gewesen, der nur einigen sich als materialistisch missverstehenden Unfug korrigieren sollte. Doch es kam anders. Einer der Kritisierten, Joachim Bruhn von der Initiative Sozialistisches Forum (ISF), wiederholte nicht nur stur die beanstandeten Thesen, sondern erklärte außerdem, mit dem Nationalsozialismus habe die Revolution den »Moment ihrer intensivsten historischen Notwendigkeit« verpasst und könne deshalb »keine mehr der Arbeiterklasse sein«Joachim Bruhn, Metaphysik der Klasse, in: Phase 2.12, Juni 2004, 25-27.. Unbeeindruckt von diesem Pathos referierte daraufhin Karl Rauschenbach einige Bestimmungen des Marxschen Klassenbegriffs, wobei er, immerhin Mitglied einer Vereinigung namens »Antideutsche Kommunisten«, dem Nationalsozialismus keine Bedeutung beimaß.Karl Rauschenbach, Zum Begriff der Klasse, in: Phase 2.12, September 2004, 40-42. Meinen Befund, die ISF changiere haltlos zwischen Verdinglichung - das Kapital wird nicht mehr als gesellschaftliches Verhältnis begriffen - und existenzialistischer Pose - auf wundersame Weise entgehen die Kritiker dem allgemeinen Verhängnis - bestätigt Rauschenbach: Bruhn beschreibe die Gesellschaft »als mechanische zweite Natur«, vollkommen unvermittelt erscheine dann die Vernunft »als ein außer der Welt [...] bzw. in Bruhn hockendes Wesen«. Zum historischen Verlauf der Klassengesellschaft meint Rauschenbach jedoch lediglich, sein Resultat sei »völliges Auseinanderfallen von Begriff und Sache«, da der Klassenkampf heute nicht nur als auf Umwälzung drängender, sondern selbst als profan-alltäglicher verschwunden sei. Mit dieser Einschätzung, die wahrscheinlich deutschem Provinzialismus entspringt, schlüpft Rauschenbach in die Rolle des Vermittlers: Bruhn würde den Klassenantagonismus vorschnell als null und nichtig erklären, weil er nicht mehr ausgetragen werde; dies wiederum würde ich ignorieren und unverdrossen einen »Bürgerkrieg« beschwören. Entsprechend sollten wir einander »als notwendiges Anti der eigenen einseitigen Position« anerkennen.

Dass hier und heute von proletarischer Subversion nicht viel zu sehen ist, war allerdings unstrittig. Nur sollte man die Marxsche Theorie besser zur Kritik der Gegenwart als zur Rationalisierung dieses Zustands gebrauchen. Letzteres aber führt Bruhn mit seiner Replik erneut in Reinform vor. Da sich Rauschenbachs Ausführungen vom modischen Abgesang auf den Klassenkampf angenehm absetzen, soll im Folgenden lediglich Bruhns Vorwurf untersucht werden, die Kritik an seinem Weltbild entspringe einer »Metaphysik der Klasse«. 

2.

Die Verkehrung der Kritik der politischen Ökonomie in eine fade Systemtheorie ist das Anliegen Bruhns. Die Geschichte zeige, dass mit der Klasse nichts anzufangen sei, aber dies soll Marx bereits hellsichtig geahnt haben. Etwas umständlich nennt dies Bruhn die »schon im Kapital reflektierte negative Perspektive eines sich zu seinem eigenen Begriff historisch entfaltenden und [?] gesellschaftlich durchsetzenden Kapitals«. Begriff des Kapitals bedeutet hier Exitus der Klasse. Wer von sich noch redet, wird mit allerhand zusammenhangslosen Vorwürfen überzogen, deren Dürftigkeit ein prätentiöser, sich philosophisch aufspreizender Stil kaschieren soll, in eigenartiger Verbindung mit wüstem Gepöbel.     

Im Kern behauptet Bruhn einen Gegensatz von Ökonomiekritik und Klassentheorie, von »Sozialphilosophie« und bloßer Soziologie. In die Irre führt dies nicht nur, weil die hiesige Soziologenzunft es nicht so mit den Klassen hat und sicherlich nicht mit deren Kampf und somit die Sympathie Bruhns und aller anderen Wertkritiker verdient hätte. Vor allem sind soziologischer und Marxscher Klassenbegriff durchaus verschieden, in gewissem Sinne gegensätzlich. Wenn überhaupt in der Soziologie von Klassen die Rede ist, geht es um Einkommen, Schichten oder Milieus, es wird die Oberfläche der bürgerlichen Gesellschaft systematisiert, so dass die Klassen (meist ein ganzer Haufen) beziehungslos nebeneinander stehen. Oft wird »soziale Ungleichheit« entdeckt und mehr Gerechtigkeit und Umverteilung gefordert. Marx dagegen geht von der Produktionsweise aus und stellt das Verhältnis der Klassen zueinander dar, und zwar als ein spannungsgeladenes und daher dynamisches, das allein die Möglichkeit zur Auflösung der von ihm kritisierten Gesellschaft enthält.     

Im Gegensatz dazu stellt Bruhn fest, dass proletarische Interessen sich in Formen wie Recht und Geld ausdrücken. Das ist richtig und ein unter Wertkritikern beliebter Einwand, aber auch nur die halbe Geschichte bzw. Gegenwart des Klassenkampfs, der in seinen besseren Momenten die Bildung autonomer Organe, Besetzungen, Angriffe auf das Eigentum und die Auflösung der zur Gewohnheit erstarrten bürgerlichen Verkehrsformen innerhalb der Klasse selbst kennt. All das fällt nicht vom Himmel, sondern entwickelt sich in der Regel aus jenen Kämpfen, die Bruhn als »nur gegen Diskriminierung und Unterprivilegierung« gerichtete verschmäht.

Rätselhaft ist schließlich Bruhns philologischer Hinweis, das Kapital beginne »nicht mit der Arbeitskraft« und »mit der Klasse erst recht nicht«, sondern mit der Ware. Ein Blick ins Inhaltverzeichnis der heiligen Schrift bestätigt die Richtigkeit der Angabe, doch was soll sie belegen? Wenn schon über »die Bedeutung des Anfangs für die Kritik der politischen Ökonomie« doziert und die Hegelsche Logik hervorgekramt wird, sollte die »sozialphilosophische« Lektüre des Kapital nicht wie der Zeitungsleser verfahren, der die wichtigsten Meldungen des Tages auf den ersten Seiten vermuten darf. Eben weil über die ersten und einfachen Bestimmungen hinauszugehen ist, ohne sie über Bord zu werfen, entpuppen sich im Kapital die zunächst unterschiedslosen Warenbesitzer als Lohnarbeiter und Kapitalist, deren Ringen für den weiteren Gang der Dinge von Bedeutung ist. Wenn es heute (leider nicht nur bei Bruhn) als geistreiche Überwindung des »Traditionsmarxismus« gilt, alle Individuen als Warenbesitzer zu bezeichnen, so ist dies einerseits richtig - nicht zuletzt diese Bestimmung unterscheidet kapitalistische Klassengesellschaft von Feudalismus oder Sklaverei - und andererseits vollkommen ungenügend. Angesichts von Marx' Ausführungen über den Kampf um den Normalarbeitstag oder die Maschinerie als »Kriegsmittel zur Niederschlagung der periodischen Arbeiteraufstände«Karl Marx, Das Kapital I, MEW 23, Berlin 1969, 459. erstaunt es, dass Bruhn keine Klassentheorie im Kapital erkennen will, weil der so betitelte Abschnitt im dritten Band Fragment geblieben ist.      Zentral für alle revolutionären Bestrebungen ist die Ware Arbeitskraft, weil sie im Schnittpunkt von Kapital und Proletarisierten liegt. Meine von Bruhn als katholisch, soziologisch, moralistisch und autonom empfundene Anmerkung, dass diese Ware »nur in Gestalt der Arbeiter/innen mit ihrer ganzen Subjektivität« vorliegt, ist eigentlich nur banal; sie schien mir geboten, da Bruhn Marx’ ironische Formulierung vom Arbeitsprozess als »Prozess zwischen Dingen« für bare Münze nimmt und dies als Glanzstunde der »Sozialphilosophie« feiert.Zu dieser Marx-Verdrehung, die ihm bescheinigt wurde, schweigt Bruhn und übt sich stattdessen weiter in Demagogie. So will er in der Formulierung »Träger der Ware Arbeitskraft« eine »dogmatische Tradition im Stile Karl Kautskys« ausmachen, die es nach »Arbeitskraftdarstellern der Intellektuellen« verlange, wo es sich schlicht um die seit dem Kapital übliche Formulierung handelt, Marx somit ein Kautskyaner avant la lettre gewesen sein muss; eigenartig im Übrigen, wie ausgerechnet Bruhn hier auf der Klaviatur des antiintellektuellen Ressentiments herumklimpert. Bemerkenswert auch der Versuch, die wirren Assoziationsketten, welche die Rede von der »Subjektivität der Arbeiter« bei ihm offenbar auslöst, dem Leser zu suggerieren: »Man höre von ferne das Grollen der Autonomie und ihrer Phrase der Autovalorizzazione« - es »kritisiert« sich eben leichter, wenn man »von ferne« so einiges »Grollen« hört, was der Kritisierte mit Grund nirgends gesagt hat. Fast durchgängig ist Bruhns Replik von dieser Qualität. Ein von Haus aus rebellisches proletarisches Subjekt ist damit, anders als auch Rauschenbach meint, nicht unterstellt. Wenn Bruhn nun in Erwiderung auf meine Kritik monoton verkündet, es sei »nicht die Arbeitskraft, die das Kapital konstituiert«, verfehlt er schlichtweg den Begriff des Kapitalverhältnisses. Man mag das Kapital als »automatisches Subjekt« bezeichnen, um seinen Zwangscharakter und seine Selbstbezüglichkeit hervorzuheben. Autark oder autonom ist es aber nicht, sondern wie eh und je abhängig von Arbeitskraft, deren Verausgabung sich für ihre Träger als Verlust von Lebenszeit darstellt.Für seine Zeit stellte Marx fest, dass der Arbeiter »gesellschaftlich gezwungen ist, für den Preis seiner gewohnheitsmäßigen Lebensmittel seine ganze aktive Lebenszeit, ja seine Arbeitsfähigkeit selbst [...] zu verkaufen« MEW 23, 287. »Lebenszeit« klingt in Bruhns Ohren jedoch »vitalistisch«, und so erklärt er unbekümmert um alle Erfahrung und unbeschwert von jeder Logik, dass die Proletarier »keineswegs oder [?] gar konkret ihre Lebenszeit verkaufen, sondern durchschnittlich notwendige gesellschaftlich Arbeitszeit, die nicht die empirischen Individuen durch ihr Leben konstituieren, sondern die Kapitale in ihrer Konkurrenz ex post der Produktion.« Was das heißen soll, weiß Bruhn vermutlich selbst nicht so recht. Und Sinn ergibt es ja auch beim besten Willen nicht: Durchschnittlich notwendige gesellschaftliche Arbeitszeit kann man weder verkaufen noch verausgaben, eben weil sie erst nach der Produktion ermittelt wird; der Unterschied zwischen tatsächlich verausgabter Arbeitszeit - die logischerweise immer Lebenszeit der Individuen darstellt - und gesellschaftlich notwendiger Arbeitszeit ist für den Wertbegriff, mit dem Bruhn gegen die Klassentheorie zu Felde ziehen will, zentral.     

All die lauwarmen Argumente, raunenden Andeutungen und schlichten Kategorienfehler Bruhns wären nicht der Rede wert, stellte seine »Sozialphilosophie« nicht die vollständige Verkehrung der Marxschen Kritik in ihr Gegenteil dar. Deren entscheidender Durchbruch bestand darin, die von der politischen Ökonomie immer schon vorausgesetzten Kategorien auf bewusstlose und verkehrte Praxis zurückzuführen, zunächst also den Wert nicht nur wie die Ökonomen auf seine Größe zu untersuchen, sondern als gesellschaftliches Verhältnis zu dechiffrieren. Dieses Verhältnis, das sich fetischistisch an Dingen darstellt, erweist sich schließlich als das moderne Klassenverhältnis: »Der Kapitalist funktioniert nur als personifiziertes Kapital [...] wie der Arbeiter nur als die personifizierte Arbeit, die ihm als Qual, als Anstrengung, die aber dem Kapitalisten als Reichtum schaffende und vermehrende Substanz gehört [...] Die Herrschaft des Kapitalisten über den Arbeiter ist [...] die Herrschaft der Sache über den Menschen, der toten Arbeit über die lebendige, des Produkts über den Produzenten [...] Es ist dies ganz dasselbe Verhältnis in der materiellen Produktion [...] welches sich auf dem ideologischen Gebiet in der Religion darstellt, die Verkehrung des Subjekts in das Objekt und umgekehrt.«Karl Marx, Resultate des unmittelbaren Produktionsprozesses, Frankfurt a.M. 1969, 18. Bruhn verbannt nicht nur das Klassenverhältnis in die Zuständigkeit der Soziologie, sondern nimmt überhaupt das »automatische Subjekt« Kapital plump als Wirklichkeit, nicht mehr als bewusstlos erzeugten Sachzwang. Hoffnungslos dem Bann der Wertverwertung erlegen, starrt er auf das Kapital »als ein Unwesen wahrhaft göttlicher Statur, das sich selbst erzeugt, das keiner Genesis, keiner Ableitung, keiner wie immer gearteten [...] äußeren Einschränkung und Grenze unterliegt«. Bruhn sieht nicht »wie dieses Verhältnis selbst produziert wird und zugleich in ihm die materiellen Bedingungen seiner Auflösung«Marx, Resultate, 89. Marx richtet diesen Vorwurf an die politische Ökonomie., und darauf ist er auch noch stolz: Ausgerechnet darin, die Konstitution des Kapitals durch gesellschaftliche Praxis theoretisch auszulöschen, also von Marx auf die politische Ökonomie, von kritischer auf traditionelle Theorie zu regredieren, soll das letzte Wort materialistischer Kritik liegen - eine Farce sondergleichen. Hat man diesen Schritt vollzogen, braucht man nicht mehr von Kapital, sondern kann man ebenso gut von Macht oder System, Natur, Schicksal oder Gott reden, mit anderen Worten sich bei den Soziologen und sonstigen Ideologen einreihen.Genau dies hat jener Stefan Breuer, dessen Doktorarbeit »Krise der Revolutionstheorie« (Frankfurt a.M. 1977) Bruhn erklärtermaßen seine Auffassung vom historischen Verlauf kapitalistischer Vergesellschaftung verdankt, dann auch getan: Von der Anbetung des automatischen Subjekts zu Niklas Luhmann ist es nicht weit.

3.

Ob die Theorie zu dieser Kapitulation von der historischen Entwicklung selbst genötigt wird, nämlich von der sagenumwobenen reellen Subsumtion der Arbeit, war der Ausgangspunkt des Streits, zu dem Bruhn nichts vorzubringen weiß außer wiederum philosophisch daherkommenden Phrasen über das Kapital als »Realabstraktion«, das sich im Laufe der Zeit »auch gesellschaftspraktisch nach seiner logischen Bestimmung setzt«. Anstatt sich mit den Bewegungen der sechziger und siebziger Jahre zu befassen, die er lieber argumentfrei denunziert,»Die autonomia operaia entstand aus dem linken Flügel der (italienischen) Sozialdemokratie, und am Ende, der Attac!-Auftragsdenker Negri zeigt es, kehrt sie dahin zurück.« Der Schluss vom Besonderen (Negri) aufs Allgemeine (Autonomia Operaia) »zeigt« jedoch bekanntlich nur eines, nämlich dass es um die Logik geschehen ist. Nur dieser Fehlschluss erlaubt auch die Rede von »Anti-Hegelianismus« und »Vitalismus« der operaistischen Strömung, die für den unaufhaltsam regredierenden Negri durchaus zutrifft. Bruhns Abwatschen von Leuten wie Romano Alquati oder Raniero Panzieri als »militante Nietzscheaner« zeugt nur von vollständiger Ahnungslosigkeit - oder es geschieht wider besseres Wissen. erklärt sich Bruhn mit unfreiwilliger Komik zum »Feind« eines historischen Prozesses, dessen unumkehrbaren Sieg er notiert.     

Weil 1848 tatsächlich nicht wiederkehren wird, sollte man besser nach den Tendenzen fragen, die mit der fortgeschrittenen Kapitalisierung verbunden sind. Vermutlich hat sie den Niedergang der alten Arbeiterbewegung befördert, insofern Arbeiteridentität und Produzentenstolz unter die Räder geraten. Es wird immer schwieriger, den vollkommen vom Kapital gemodelten Produktionsprozess als den eigenen zu begreifen und jedes ständisch-facharbeiterische Bewusstsein zerbröselt, wenn »die Individuen mit Leichtigkeit aus einer Arbeit in die andre übergehn und die bestimmte Art der Arbeit ihnen zufällig, daher gleichgültig ist«, da sie aufgehört hat, »als Bestimmung mit den Individuen in einer Besonderheit verwachsen zu sein.«Karl Marx, Grundrisse, Berlin 1974, 25. Marx diskutiert dies hier als historische Tendenz, die seinerzeit in den USA am entwickeltsten war. Wenig Anlass daher, mit Bruhn einer flöten gegangenen Eigenlogik der Arbeit Abschiedstränen hinterherzuschicken und gleich noch das Schicksal der proletarischen Revolution an sie zu ketten, dagegen reichlich Grund zur Annahme, dass immer mehr Lohnabhängige ihren Arbeitstag schlicht als Last begreifen, die freilich, wenn andere Verhältnisse nicht gerade in Sicht sind, meist als notwendiges Übel hingenommen wird.Der »arbeitsgeile Malocher« scheint mir eher eine linke Legende zu sein. Sicherlich gibt es die Identifikation mit der Arbeit und den Ruf nach Arbeitsplätzen; beides müsste aber als Rationalisierung vorgefundener Sachzwänge analysiert werden. Aufschlussreich hierzu: Gilles Dauvé, Lieben die ArbeiterInnen die Arbeit? Beilage zum Wildcat-Zirkular, Nr. 65/2003.

Ferner waren noch nie so viele Menschen von der Lohnarbeit abhängig und durch und durch kapitalistischen Arbeitsprozessen unterworfen wie heute, ganz anders als die verbreitete These vom »Ende der Arbeit« nahe legt. Verändert hat sich dabei auch das Verhältnis von geistiger und körperlicher Arbeit, doch Untersuchungen darüber werden selten und dann meist von den falschen Leuten angestellt.So haben Toni Negri und Michael Hardt (Empire, Frankfurt a.M. 2002) eine durch »immaterielle Arbeit« geprägte Multitude entdeckt, die angeblich im Jenseits aller kapitalistischen Bestimmungen hier und heute bereits frei und autonom kooperiert. Zusammen mit dem verengten Klassenbegriff überwinden sie gleich die Kritik der politischen Ökonomie. Obwohl schon 1968 unter Studenten die Forderung laut wurde, von der eigenen Stellung im produktiven Gefüge auszugehen,Vgl. Hans-Jürgen Krahl, Konstitution und Klassenkampf, Frankfurt a.M. 1971, 260, 318. reden bis heute selbst die prekärsten akademischen Tagelöhner vom Proletariat wie über ein Wesen vom anderen Stern. Nicht zuletzt an ihnen könnte auch deutlich werden, wie wenig zunehmende Austauschbarkeit der Arbeit mit Dequalifizierung gleichbedeutend ist. Ebenso sind die Vorstellungen von Zentrum und Peripherie überholt, die bis heute in der Linken umhergeistern. Es ist mehr denn je von einer Weltarbeiterklasse auszugehen, und die Rede von der postindustriellen Gesellschaft erweist sich nicht erst in China als Gerücht.Vgl. Beverly Silver, Forces of Labour. Arbeiterbewegungen und kapitalistische Globalisierung seit 1870, Berlin/Hamburg 2004. Gegenüber den rückständig-bäuerlichen Verhältnissen, die Bruhn implizit betrauert, stellt dies in jedem Fall bessere Bedingungen für die Umwälzung der Gesellschaft dar.     

Schließlich wäre die Bedeutung des »tendenziellen Falls des Gebrauchswerts«Guy Debord, Die Gesellschaft des Spektakels, Berlin 1995, 38. zu klären. Die oftmals krude »Kritik der Arbeit« der letzten Jahre müsste neben der Form der Lohnarbeit auch ihre zunehmend sinnlosen Inhalte treffen. Zu kritisieren sind nicht die sogenannten künstlichen Bedürfnisse, sondern alle Tätigkeiten, die in einer befreiten Gesellschaft entfallen würden, weil sie ausschließlich der Aufrechterhaltung der jetzigen dienen.Dass Bedürfnisse heute ein Problem darstellen, das allerdings nicht unter Rückgriff auf die vermeintlich wahre Menschennatur zu lösen ist, erörtert Adorno in seinen »Thesen über Bedürfnis«, in: Soziologische Schriften I, Frankfurt a.M. 1972, 392-396. Die von Bruhn beschworene Totalisierung des Kapitals stellt sich alles in allem nicht als Dahinschwinden seiner Widersprüchlichkeit dar, sondern als ihre Zuspitzung, die entweder von den Proletarisierten revolutionär ausgetragen wird - oder überhaupt nicht. Historischer Optimismus wäre eine schlechte Alternative zur Verkündung des lückenlosen Verhängnisses. 

4.

Doch nach den heutigen Ausgangsbedingungen der Revolution zu fragen, findet Bruhn angesichts des Nationalsozialismus »zynisch« und »regelrecht reaktionär«. Es geht nicht recht zusammen, in die Marxschen Schriften die vollkommene Aussichtslosigkeit der proletarischen Revolution hineinzulesen und zugleich zu erklären, sie habe 1942 »den Moment ihrer intensivsten historischen Notwendigkeit verpasst«. Das katastrophale Versäumnis, das im Übrigen auch für 1914 festzustellen ist, dürfte einen, der die Arbeiter als »das bedeutungslose Nichts bloße Natur« denkt, nicht überraschen. Indem Bruhn die deutschen Arbeiter dafür verurteilt, den Nationalsozialismus nicht verhindert und außerdem an seinen Verbrechen teilgenommen zu haben, erkennt er sie als zumindest potentielles Subjekt an. Insofern steckt in der Anklage mehr Erkenntnis als in allen verquasten Ausführungen über das Kapital. Fraglich ist nur, welche Schlüsse man daraus zieht. In Bruhns Augen macht man sich der »Beschönigung und Verdrängung der Geschichte« schuldig, wenn man nach der Wannsee-Konferenz noch vom Klassenkampf redet.     

Sicherlich war die Volksgemeinschaft nicht bloß Propaganda und gewiss prägt sie deutsche Zustände bis heute - als Standortgemeinschaft, die von den Oberen »gerechten« Verzicht fordert, anstatt den eigenen abzulehnen, oder auch in Gestalt eines sekundären Antisemitismus wegen Auschwitz. Keine Frage auch, dass die Arbeiterbewegung mit ihrem Volksstaatsgedanken und Nationalismus der neuen Ordnung entgegenkam, die deutschen Arbeiter direkt mit der Unterdrückung der Zwangsarbeiter befasst waren und der Antisemitismus nicht nur im Kleinbürgertum auf fruchtbaren Boden fiel. Bruhns historische Bemerkungen, »die Arbeit« habe »Einheitsfront mit Deutschland« und »das proletarische Interesse [...] sich leidenschaftlich (nicht etwa im Zuge von Manipulation) ans Vernichtungswerk« gemacht, verfehlen den Zusammenhang von Herrschaft und Antisemitismus allerdings ebenso wie die entgegengesetzten linken Faschismusanalysen, die nur von den Verbrechen des Großkapitals handeln. Was Marxisten früher als Wesen des Faschismus galt - Terror und Propaganda, die nicht mehr gewerkschaftlich vermittelte, sondern direkte und rigide Kontrolle der Arbeitskraft - wird in Bruhns Bild des Nationalsozialismus nicht zu dessen Massenbasis und der Vernichtung der Juden ins Verhältnis gesetzt, sondern verschwindet spurlos. Schwerwiegender ist jedoch, dass Bruhn, weil er dem Klassenantagonismus keine Bedeutung beimisst, nicht seine antisemitische Verschiebung auf die Juden erkennen kann, die als Einheit von Bolschewist und Bankier, von roter und goldener Internationale vorgestellt werden. Während die Kritische Theorie in der bürgerlichen »Verkleidung von Herrschaft in Produktion« eine Quelle des Antisemitismus ausmachte, der den Juden »das ökonomische Unrecht der ganzen [bürgerlichen] Klasse«Theodor W. Adorno/Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, Frankfurt a.M. 1988, 182 f. Zum Antisemitismus als Verschiebungsleistung siehe auch Ulrich Enderwitz, Antisemitismus und Volksstaat, Freiburg 1991. aufbürdet, reproduziert Bruhn zufolge gerade »die Insistenz auf diesem Klassencharakter [...] ganz wie von selbst den Antisemitismus der Scheidung von raffendem versus schaffendem Kapital«.Joachim Bruhn, Avantgarde und Ideologie. Nachbemerkungen zum Rätekommunismus, unter https://www.ca-ira.net/wp-content/uploads/2018/06/huhn-etatismus_lp.bruhn-avantgarde.pdf Am Ende vermag er nicht einmal die Volksgemeinschaft von ihren entschiedensten Gegnern zu unterscheiden und denunziert ausgerechnet die Rätekommunisten als »Avantgarde der antisemitischen Ideologie« Ebd..     

Weil »das proletarische Interesse« an der Massenvernichtung teilhatte, kann nach ihr die Revolution »keine mehr der Arbeiterklasse, keine des proletarischen Interesses« sein - an den faschisierten deutschen Arbeiter will Bruhn das Wesen des Proletariats demonstrieren und macht nebenbei die Judenvernichtung zur diskursiven Spielmarke. Anstelle großer Gesten und schiefer Geschichtsphilosophie wäre Aufklärung darüber gefragt, was den Klassenkampf lähmte, der allein 1933 den Nationalsozialismus hätte verhindern können und der nach ihm kaum mehr auftauchen wollte. Nicht mehr vom Klassenverhältnis sprechen zu wollen, ratifiziert den nationalsozialistischen Sieg über die Vernunft, der in der mörderischen Raserei gegen die Juden kulminierte. Es ist eine Lehre aus dem Faschismus, die man eher von der Bundeszentrale für politische Bildung erwartet hätte.

FELIX BAUM