Städte verursachen nicht den Kapitalismus

Interview mit Peter Marcuse

Peter Marcuse ist 1928 in Berlin geboren und in New York und Washington aufgewachsen. Heute ist er emeritierter Professor für Stadtplanung an der Columbia University in New York, wo er seit 1975 lehrte. Wer sich mit der Critical Urban Theory befasst, kommt an Marcuse nicht vorbei. Er hat maßgeblich den Diskurs um das »Recht auf Stadt« in den USA geprägt und erklärt im Folgenden, was es damit auf sich hat und welche Relevanz dies für eine antikapitalistische Linke hat.

PHASE 2: Spätestens seit den siebziger Jahren haben Neomarxisten bzw. kritische Urbanisten wie Henri Lefebvre, David Harvey und auch Du selbst begonnen, die Stadt als Verräumlichung kapitalistischer Vergesellschaftung zu analysieren. Mit diesem kritischen Blick verbindet sich letztendlich immer auch die Hoffnung bzw. der Glaube, ein positiver Wandel bzw. ein Umsturz der bestehenden Verhältnisse selbst würde auch aus der Stadt hervorgehen. Du selbst sagst in einem Beitrag, die Möglichkeit radikaler und emanzipativen Formen sei latent in den zeitgenössischen Städten vorhanden. Uns würde interessieren, wie sich diese Annahme begründet.

Peter Marcuse: Es gibt zwei Aspekte des Verhältnisses von Städten und Kapitalismus: Wirkung und Ursache. Lefebvre, Harvey, ich und viele andere betrachten Form und Natur der Städte als direkte Folge des Kapitalismus. Städte verursachen nicht den Kapitalismus; Städte sind keine Akteurinnen; sie »tun« gar nichts. Sie sind ein physischer Ort, ein bestimmtes Territorium, und der Begriff »Stadt« wird häufig benutzt als Synonym für ökonomische, politische und soziale Organisation und Aktivitäten, die sich an diesen Orten abspielen. Städte sind für kapitalistische Aktivitäten immer wichtiger geworden. Lefebvre hat im Grunde nahegelegt, dass diese wachsende Wichtigkeit es notwendig macht, Urbanisierung als ein spezifisches Stadium des Kapitalismus zu betrachten. Da sich immer mehr Aktivitäten des Kapitalismus in Städten konzentrieren, wird dort auch der Widerstand gegen den Kapitalismus stattfinden. Darüber hinaus wird »urban«, besonders von Lefebvre, als Synonym für die erwünschte neue Gesellschaft verwendet, da der Großteil der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse, die der Kapitalismus eröffnet hat, in Städten geschieht.

PHASE 2: Lefebvre hat im Rahmen seiner Analyse erstmals die politische Forderung nach einem »Recht auf Stadt« formuliert. Neben anderen hältst auch du im Rahmen der Critical Urban Theory an diesem Postulat fest.

Peter Marcuse: Das »Recht auf Stadt« ist sowohl ein sofort verständlicher und intuitiv fesselnder Slogan als auch eine theoretisch komplexe provokante Formulierung, mit der man im Konflikt darum, wer von der Stadt profitieren sollte und wie die Stadt aussehen sollte, mobilisieren kann. »Recht« ist dabei nicht als ein juristischer Begriff zu verstehen, der vor Gericht einklagbar ist. Vielmehr umfasst er verschiedenste Rechte: nicht nur ein Recht auf öffentlichen Raum oder ein Recht auf Information und Transparenz der Regierung oder ein Recht auf Zugang zur Innenstadt…ein Obdachloser hat nirgendwo in der Welt das Recht auf Stadt erlangt, wenn es ihm erlaubt ist, auf einer Parkbank in der Innenstadt zu schlafen. Es geht um viel mehr und das Konzept bezieht sich auf kollektive Rechte nicht auf individuelle. Die Forderung ist nicht nur in einem juristischen Sinne zu verstehen, sondern auch in einem moralischen. Es geht nicht nur um Gerechtigkeit im Rahmen des existierenden Rechtssystems, sondern um eine höhere moralische Ebene, auf der ein besseres System verlangt wird, in dem Forderungen voll und ganz erfüllt werden.

PHASE 2: Das klingt zunächst nach einer Forderung, die sich auf den gesamten gesellschaftlichen Bereich – das System, wie du sagst – richtet. Welche Rolle spielt die Stadt in diesem Konzept und wie sieht sie aus?

Peter Marcuse: Lefebvre drückt sich da ganz deutlich aus. Es geht nicht um das Recht auf die existierende Stadt, sondern um das Recht auf eine zukünftige Stadt. Nicht notwendigerweise um eine Stadt im konventionellen Sinne, sondern um einen Ort in einer urbanen Gesellschaft, in der die hierarchische Unterscheidung zwischen Stadt und Land aufgelöst ist. Der Begriff des Städtischen bzw. des Urbanen ist lediglich eine Synekdoche, eine Metapher, er steht für mehr als das Wort eigentlich beschreibt. Lefebvre stellte klar, dass das Recht auf Stadt nur als ein transformiertes und erneuertes Recht auf urbanes Leben formuliert werden kann. Doch zunächst geht es um dessen Voraussetzung: eine Stadt, in der materielle und soziale Bedürfnisse erfüllt werden, die Bedürfnisse der Benachteiligten und Ausgestoßenen. Das würde Ideen beinhalten wie Gerechtigkeit, Gleichheit, Demokratie und die volle Entwicklung menschlichen Potenzials – jedem nach seinen Bedürfnissen, jeder nach seinen Fähigkeiten – und Unterschiede zwischen den Menschen anerkennen. Allerdings ist es wenig hilfreich, die einzelnen Prinzipien auszubuchstabieren. Die zukünftige Stadt kann nicht en détail vorhergesagt werden, Lefebvre hat das häufig betont. Darin folgte er Marx und Engels und ihrer Ablehnung der frühsozialistischen Utopien.

PHASE 2: Der Slogan »Recht auf Stadt« wird gegenwärtig häufig in Bezug auf den öffentlichen Raum, als Aushandlungsort gesellschaftlicher Konflikte, formuliert. Was ist dieser öffentliche Raum und welche gesellschaftliche Bedeutung soll er einnehmen?

Peter Marcuse: Ich zögere mit einer Antwort, weil ich glaube, dass öffentliche Räume ein wichtiger Aspekt für eine gutes Leben in der Stadt sind. Ich möchte ihre Wichtigkeit nicht herunterspielen. Und ich glaube der Streit um die demokratische Nutzung des öffentlichen Raums ist wichtig im Kampf für eine bessere Gesellschaft. Jedoch denke ich, dass dieser Streit nur ein kleiner, obwohl symbolisch wichtiger, Teil dieses größeren Kampfes ist. Die Forderung nach einem Recht auf Stadt ist eine Forderung nach einer neuen, besseren, Gesellschaft und nicht einfach nach einer Nutzung des öffentlichen Raums, obwohl darin einbegriffen ist.

PHASE 2: Wer sind die Akteure, die eine bessere Gesellschaft unter dem Motto »Recht auf Stadt« durchsetzen könnten?

Peter Marcuse: Eine Gesellschaft, die nur eindimensional angetrieben wird, produziert eindimensionale Menschen und muss sich bemühen, von diesen unterstützt zu werden. Die Opfer dieses Systems sind sowohl die materiell Benachteiligten als auch die intellektuell und gesellschaftlich Ausgestoßenen. Lefebvres »Recht auf Stadt« ist ein Aufschrei und eine Forderung, ein notwendiger Protest und die Forderung nach etwas Besserem. Der Protest erwächst aus den Ansprüchen der nur oberflächlich Integrierten, derjenigen, die materiell profitieren, aber in ihren kreativen Möglichkeiten gebremst, in ihren Beziehungen unterdrückt Beziehungen werden etc. Die Forderung erheben die, die direkt bedürftig sind, direkt unterdrückt, deren unmittelbaren Bedürfnisse nicht erfüllt werden. Es ist eine unfreiwillige Forderung von denen, deren Gesundheit gefährdet ist und deren Einkommen unter dem Existenzminimum liegt. Es ist das Recht auf Stadt derer, die es nicht haben. Doch das ist keine ausreichende Antwort. Es ist notwendig zu wissen, um wen genau es sich hier handelt. Wer wird den Kampf anführen und wer wird ihn unterstützen? Diese Fragen zu beantworten, ist der Beitrag, den Critical Urban Theory leisten sollte. Natürlich würde ich argumentieren, dass Unzufriedenheit und Mangel nicht automatisch zur Unterstützung des Rechts auf Stadt für alle führt. Unzufriedenheit, besonders in Verbindung mit der Angst vor Unruhen der Benachteiligten und der ArbeiterInnenklasse, hat die Mächtigen schon immer beunruhigt. Das Bemühen, diese Unzufriedenheit zu lenken ist eine Hauptaufgaben der Lakaien der Macht und der ideologischen ManipulateurInnen mit der Unterstützung von Medien, Schulen, religiösen Einrichtungen und verschiedenen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Organisationen. Die Ergebnisse sind in einer Vielzahl von verbreiteten gruppenspezifischen Phänomenen sichtbar. Hier geht es um Homophobie, Rassismus, Familienwerte, Abtreibungsgegnerschaft, religiösen Fundamentalismus und ich würde sogar den Besitz eines Hauses als Teil des amerikanischen Traums dazuzählen. Es ist verführerisch, in diesem Zusammenhang Freudsche Begriffe zu verwenden: Unzufriedenheit wird verdrängt und in den genannten Phänomenen sublimiert, d.h. sie werden mit Emotionen besetzt und die weitaus gefährlichere Unzufriedenheit wird entschärft oder tritt gar nicht erst ins Bewusstsein. Viel wichtiger ist jedoch die Tatsache, dass es bereits eine Annäherung gibt zwischen verschiedenen Gruppen, Organisationen und Bewegungen, die das Recht auf Stadt als ihr gemeinsames Ziel und den Kapitalismus als ihren gemeinsamen Gegner verstehen.

PHASE 2: Bekanntlich sind Lefebvres Veröffentlichungen zu diesem Thema zur Zeit des Fordismus entstanden; haben sich die gesellschaftlichen Verhältnisse und damit die theoretischen Voraussetzungen im Vergleich zu heute nicht stark verändert? Inwiefern kann und sollte die Forderung nach einem »Recht auf Stadt« diesen Veränderungen Rechnung tragen?

Peter Marcuse: Was auf die Hochphase des Fordismus folgte, hat die Wichtigkeit von Städten erhöht, aber weder ihre Funktion noch die Natur des Kapitalismus verändert. Viele Aspekte des Kapitalismus – und der Widerstand gegen sie – haben sich natürlich verändert, das System ist dynamisch, deswegen muss auch die Analyse dynamisch sein. Kapitalismus war schon immer eine Gesellschaftsordnung mit tiefen inneren Widersprüchen. Im Mittelpunkt des Marxismus stand die Untersuchung der Krisenhaftigkeit. Im 20. Jahrhundert nun gibt es eine Reihe massiver Krisen. Sie unterscheiden sich ihrer Intensität und in den Auswirkungen, die sie für die jeweiligen Stärke und Schwäche sowohl der SystemkritikerInnen als auch der -verteidigerInnen haben. Die Krisenlösungen können ganz unterschiedliche sein. Sie beschränken sich nicht auf die Fragen, die heute scheinbar den öffentlichen Diskurs in Beschlag nehmen: Regulieren wir Spekulation? Soll Sozialhilfe erhöht werden? Soll diese Bank oder jenes Unternehmen freigekauft werde? Oder eben nicht?

Historisch gesehen gibt es viel mehr Möglichkeiten. In jeder Krise hing ihre Lösung nicht einfach von der Stärke oder der Schwäche der kritischen Kräfte ab, sondern auch von der Stärke des bestehenden Systems. Eine Hauptfunktion kritischer Theorie könnte sein, die jeweiligen Stärken und Schwächen des Systems aufzudecken und einzuschätzen und zu analysieren, worin die Krise eigentlich gründet. Daraus könnte wiederum abgeleitet werden, was die Möglichkeiten einer kritischen Praxis sein könnten und welcher Strategie diese zu folgen hätte.

Heute, nach der mehr-als-Finanzkrise, ist der Widerstand gebändigt. In den Universitäten wird die Krise kaum wahrgenommen. Die Medien prangern die »Gier« der BankerInnen an. Niemand verlangsamt die treibende Kraft, die Akkumulation von Gewinn und die Expansion des Kapitals. Linke Intellektuelle reden mit sich selbst, versuchen herauszufinden, wie tief die Krise reicht. Critical Urban Theory kann einiges zu der Frage beitragen, warum das so ist.

PHASE 2: In den Diskursen um das Konzept des »Recht auf Stadt« wird immer wieder die Forderung nach der Abschaffung kapitalistischer Verhältnisse und damit einem revolutionären Umsturz deutlich. Häufig werden jedoch kritisch intendierte Praxisansätze in der Stadtpolitik durch sozusagen reformerische Ansätze vereinnahmt. Wie kann eine Critical Urban Theory oder eine kritische Stadtgeographie dem entgegenwirken?

Peter Marcuse: Das Verhältnis zwischen materiellen und immateriellen Aspekten des Lebens, zwischen »objektiven« und »subjektiven« Bedingungen, zwischen dem Ökonomischen und dem Kulturellen ist komplex und häufig verwirrend. Ein Gros der neo-marxistischen Theorie hat sich diesem Problem gewidmet. Herbert Marcuse hat oft gesagt, dass nur in einer befreiten Gesellschaft die Menschen wirklich befreit sein können. Es bedarf aber befreiter Menschen, um eine wirklich befreite Gesellschaft zu erzeugen. Ein ungelöster Widerspruch. Ich glaube nicht, dass man zu einer Befreiung gelangen kann, wenn man nur bei dem ansetzt, was Menschen fühlen, denken, wahrnehmen, ohne gleichzeitig die Bedingungen zu ändern, unter denen sie fühlen, denken und wahrnehmen. Und doch ist die Veränderung von Gefühlen, Denken, Wahrnehmung notwendig, um diese Bedingungen zu verändern. Die einzig mögliche Antwort ist, beide Ziele gleichzeitig anzugehen. Bemühungen um subjektive und objektive Veränderung zu vereinen, Theorie und Praxis im Alltag zu verbinden. Ich glaube, kritische Theorie kann helfen zu verstehen, was für diesen zweiseitigen Ansatz nötig ist, und was zu subjektiver und objektiver Veränderung beitragen kann. Oder wenigstens hoffe ich das.

PHASE 2: Vielen Dank für das Interview.