Stalingrad

Deutsche verdauen eine Schlacht.

„Kehre morgen früh nach Stalingrad zurück und führe eine Inspektion durch, ob die Truppen und Kommandostellen zum Losschlagen bereit sind“.

J.W. Stalin am 13. 11. 1942 zu General Schukow.

 

„Jetzt herrscht in Stalingrad die Stille der Etappe. Die Front wurde Hunderte von Kilometern nach Westen verlegt“.

I. M. Keberow am 12. 2. 1943 an seine Frau.

 

„Dann haben wir den Kessel rekonstruiert. Und nach der vierten Flasche frag ich ihn: Kannst Du noch robben, Willi, altes Schwein. Und was soll ich dir sagen, du glaubst es nicht: Der konnte noch. So gut war meine Schule.“

Heiner Müller



Die Deutschen haben immer versucht, das Beste aus ihrer Niederlage in Stalingrad zu machen. Meistens gelang es ihnen. Nachdem die bisherigen Ansätze, Stalingrad nutzbar zu machen in den erinnerungspolitischen Auseinandersetzungen der Berliner Republik dysfunktional geworden sind, ist die Konstellation eingetreten, dass das große 60. Kesseljubiläum da ist, zwar Konsens über das was des Gedenkens besteht (deutsche Opfer), nicht aber darüber, wie das getan werden kann. Die Erinnerungsoffensive von Deutschlandfunk und Hans-Dietrich Genscher, Stalingrad zum „Sechzigsten“ über deutsche Feldpost zu thematisieren, war nur ein bedingter Erfolg; Zwar freute man sich über ein „überwältigendes Echo“ (Deutschlandfunk) was die Zusendung von Feldpostbriefen und Stalingrad-Memoiren betraf, der kalkulierte gesellschaftliche Hype auf diese Steilvorlage blieb bisher verhalten.
Absehbar ist aber trotzdem, dass nun Gedenk-Konzepte, die im Kontext der Erinnerung an die Opfer der Shoah entstanden sind, auf das ‚Opferpanorama’ von Stalingrad angewendet werden: auf die verratenen Deutschen, die armen Jungs und Männer, die missbrauchten und verheizten Deutschen, die frierenden Deutschen, hungernden Deutschen, fast wehrlose Deutsche, Deutsche in Unterzahl.
 

The way they walk

Die “historische Mission” (Oberkommando der Wehrmacht/OKW) der 6. Armee, der späteren armen Würste aus dem Kessel von Stalingrad, war der Feldzug gegen ‚Bolschewismus und Judentum’, vor allem im frisch eroberten Hinterland. Zu Beginn des „Unternehmens Barbarossa“ standen Gerichtsbarkeitserlass und Kommissarbefehl: sofort zu töten waren alle politische Kommissare und Partisanen. Dazu kamen kurze Zeit später „bolschewistische Hetzer, Freischärler, Saboteure, Juden“. Verdichtet waren die Bedrohungsszenarien, die das OKW entwarf, im heimtückischen „asiatischen Soldaten“.
Von Anfang an wurde mit den Sonderkommandos von SD und SS, die im Aktionsradius der 6. Armee mordeten, bei der „Behandlung“ der jeweiligen ‚Feinde’ eng zusammengearbeitet. Dabei waren vor allem „in mit Juden besiedelten Ortschaften“ alle verdächtig: Menschen in Zivilkleidung, Frauen aktiver Soldaten, Menschen mit kurzen Haaren, Alte, bieder oder seriös Wirkende. Seit Ende Juni 1941 machte die 6. Armee keine Gefangenen mehr. Im Juli 1941 befahl das Armeeoberkommando (AOK) 6 die „Durchführung von Kollektivmaßnahmen“. Morde ohne Befehl wurden ‚toleriert’, anfangs bestand die Einschränkung, „dies nicht auf der öffentlichen Straße zu machen“. Das Sonderkommando (SK) 4a lobte mehrfach die Zusammenarbeit und die „tatkräftige Unterstützung“ durch die 6. Armee. Nach dem Massenmord von Shitomir freute sich die Einsatzgruppe C über ‚ihre’ 6. Armee: „Das Verhältnis zur Wehrmacht ist nach wie vor ohne jede Trübung, vor allem zeigt sich in Wehrmachtskreisen ein ständig wachsendes Interesse für die Aufgaben und Belange sicherheitspolizeilicher Arbeit“.
Die relativ kleinen Einheiten der Sonderkommandos waren auf diese „Unterstützung“ angewiesen. Die umfassende Ermordung aller Juden war Programm der 6. Armee: „Jeder Jude, den wir erwischten, wurde sofort erschossen“, schrieb „Euer Sohn Franzl“ seinen Eltern über das, was seiner Meinung nach mit „Partisanen“ zu tun ist. Den Rest deportierte man in die Lager. Die ‚Opfer von Stalingrad’ waren mit von der Partie in Kiew, in Babi Yar, in Charkow. Die Hungerleider aus dem Kessel fraßen auf ihrem Weg dorthin gezielt Hunderttausende Sowjets in den Hungertod. Es galt, so fasste das AOK 6 das Tun ihrer Soldaten programmatisch zusammen, „das deutsche Volk von der asiatisch-jüdischen Gefahr“ zu befreien.
 

„Mythos Stalingrad” – Spartaner, Nibelungen, Nazis

Der Mythos und die Elemente mythischen Denkens sind für Georg Lukács Ausdruck der bürgerlichen Gesellschaft und ergeben sich aus den Erklärungsdefiziten, die die bürgerliche Klassenlage mit sich bringt. Für den faschistischen Mythos aber spezifiziert Lukács: „Es ist jedoch ein quantitativer Unterscheid, der ins Qualitative umschlägt, ob diese mythologischen Erklärungen, das Ersetzen der wirklichen Ursachen durch unklare Worte, ein Notbehelf oder eine bewusste Absicht sind“. Der Mythos ist für Georg Lukács konstitutiv bei der Genese und Reproduktion der faschistischen Ideologie. Die Anfälligkeit für Mythen ergibt sich nach Lukács aus spezifischer Klassenlage und Krise. So sei gerade der enge Konnex von Kleinbürgertum und Nationalsozialismus über Mythen geschaffen und stabilisiert worden. Die Vergesellschaftung im Nationalsozialismus suspendierte Klasseninteressen zugunsten der Volksgemeinschaft. Und die hatte nach Stalingrad ein Problem, steckte in der Krise. Die Wirkungsgewalt der Nazi-Mythen ergab sich aus der Legierung von Mythos und Propaganda auf der einen Seite, und den grunddummen Deutungserwartungen und Verdrängungsbedürfnissen der Volksgemeinschaft auf der anderen Seite. Da ‚Stalingrad’ ein großes Problem war, versuchten die Nazis es gleich durch zwei Mythenkomplexe zu umstellen: Mit der Schlacht bei den Thermophylen und dem letzten Kampf der Nibelungen. Im ersten Fall wurde Leonidas mit 300 Spartanern von der persischen Armee auf dem Weg nach Athen aufgerieben. Auf diesen Mythos rekurrierte der gerne antikisierende Göring im Völkischen Beobachter. Im zweiten Fall bezog man sich (allen voran Rosenberg und Göring) auf die Nibelungen: „Wie die […] Burgunder in der fremden Königshalle sich bis zum letzten gegen die Hunnen wehrten, so stand die 6. Armee in Stalingrad vor den anstürmenden Millionenhaufen des Bolschewismus“.
Der nicht unerhebliche Schiefhang der mythologischen Verweise störte die Deutschen nicht. Sie hatten eine (heimliche) Affinität entwickelt zu allem was hinkte: Vergleiche, Regierungssprecher, Frontheimkehrer und die Figuren aus dem Fundus ihrer Propaganda-Freakshow. Die Ahistorizität in der Auswahl ist dabei durchaus nicht zufällig: Rosenberg versuchte im Wesensgefüge des Nationalsozialismus deutlich zu machen, dass es nicht darauf ankäme, geschichtlichen Entwicklungen interpretatorisch gerecht zu werden, sondern um die Kontinuität des Deutschen: „Wichtig ist […], dass dieses Blut überhaupt noch vorhanden ist, dass der alte Blutwille noch lebt“. Für Rosenberg kämpft das „mythische Prinzip“ für die bedrohten „letzten germanischen-abendländischen Werte der Gesittung und Staatenzucht“.
Der Völkische Beobachter titelte zur Niederlage: „Sie starben damit Deutschland lebe“. Der Stalingrad-Diskurs nationalsozialistischer Prägung hat die Funktion einer (Selbst-) Disziplinierung in ‚härter werdenden Zeiten’ und der Mobilisierung für den totalen Krieg. Die doppelte Semantik des Schlüsselwortes „Stalingrad“ beinhaltete die Befehle „Platz!“ und „Fass!“.
 

„Tragödie Stalingrad“ - Die Nachkriegsdeutschen menscheln

Die mythologische Deutung hatte sich mit dem Ende des Nationalsozialismus als unbrauchbar erwiesen. Das System, dem der ‚heldenhafte Opfertod’ zugeeignet war, war den Alliierten glanzlos unterlegen. Der totale Krieg hatte sich nicht im erwarteten Umfang gelohnt. „Stalingrad“ nicht als Ort deutscher Verbrechen wahrzunehmen – in den Nürnberger Prozessen wurden der Massenmord, die Massaker, die Folterungen an allem was nicht Deutsch, Achse oder „Hilfswilliger“ war, explizit als Punkt drei der Anklageschrift thematisiert – darüber bestand aber von Anfang an Konsens. Statt dessen wurde Stalingrad als Tragödie interpretiert, als ungelöst bleibender tragischer Konflikt, v.a. bezüglich von Wertvorstellungen und dem Unterliegen in einer auswegslosen Situation.
In der DDR wurde dieses Modell mit einem Happy End überformt und insgesamt funktionalistischer gedacht. Stalingrad war in den Kernbestand der nationalen Identität eingelassen, als Gegenfolie zum neuen besseren Deutschland. So wurden die Stationen Stalingrad, sowjetische Gefangenschaft und das ‚Neue Deutschland’ linerarisiert. Den analytischen Rahmen bot die Imperialismustheorie: Der faschistisch-monopolkapitalistische Imperialismus hatte seinen Bezwinger in der Roten Armee gefunden. Den Deutschen kam als Kollektiv dabei die Rolle der Verführten und Missbrauchten zu, die nun aber befreit zum Aufbauwerk und zur Verteidigung des besseren Deutschland schreiten könnten.
In der Bundesrepublik fiel es schwerer in Stalingrad einen Sinn zu finden. Die Veteranenverbände und andere Nazis hielten am Mythos Stalingrad fest, konnten und können sich damit aber immer nur sporadisch durchsetzen. Vielmehr wurde schnell Einigkeit darüber erzielt, dass Stalingrad eigentlich überflüssig oder vermeidbar gewesen wäre, indem man - also Deutschland - die Stadt im Juli 1942 eingenommen hätte oder indem ‚man’ Ende November oder spätestens im Dezember 1942 aus dem Kessel ausgebrochen wäre. Der Sieg der Roten Armee bekommt in den frühen literarischen Darstellungen und „Tatsachenberichten“ etwas auffällig Zufälliges, zustande gekommen nur unter Ausnutzung von (vermeidbaren) Fehlern. Der große tragische Held ist Paulus, hin und her gerissen zwischen „Gewissen und Gehorsam“; so wollten die Deutschen ihr Verhältnis zum Nationalsozialismus verstanden wissen. Wahrscheinlich hätte man ihm auch verziehen, wenn man gewusst hätte, dass seine ‚Kapitulation’ darin bestand, dass ein Offizier der Roten Armee den seit Tagen paralysierten, unrasierten und primär auf das Ende seiner Diarrhöe fixierten Generalmajor informierte, dass es das ja nun wohl gewesen sei. Auch der ehemalige Führer der Deutschen wurde in einem milden Licht gesehen. Man entdeckte gar seine menschliche Seite, hatten doch alle ein paar Fehler gemacht. Stalingrad, symbolischer Ort kollektiven Leides, konnte zum Feld der inneren Versöhnung werden, nur gestört durch die lästige Intervention der „Siegerjustiz“. Der Zusammenhalt der Volksgemeinschaft wurde transformiert zum nationalen Betriebsfrieden des Wirtschaftswunderlandes in Zeiten des Kalten Krieges.
 

„Erinnerungsort Stalingrad“ Die Planierung der Geschichte im „Kollektiven Gedächtnis“ der Berliner Republik

Nach der Stalingradkommemorativen Flaute der 70er und 80er Jahre, bedingt durch weltweite Thematisierung der deutschen Taten, näherten sich die Deutschen in den 90er Jahren Stalingrad wieder an. Die diskursive Wiederaneignung der Schlacht wurde zunächst erschwert durch die Thematisierung der Wehrmachtsverbrechen, bis zu dem Zeitpunkt, an dem die kathartische Wirkung vor allem der überarbeiteten ‚Wehrmachtsausstellung’ begann: Die Anklagen der Ausstellung waren verhaltener, der Relativismus größer, der totalitarismustheoretische Anspruch deutlicher. Die Ausstellung war in der Lage zwischen den Tätern und ihren Nachfahren intergenerationell zu vermitteln. Für die dritte Phase der aneignenden Verwertung der Schlacht werden die Konzepte des kollektiven Gedächtnisses, der Erinnerungsorte, der Zeitzeugenschaft und der (sozialen) Traumata in Stellung gebracht.
Nach Maurice Halbwachs rekonstruieren Gruppen die Vergangenheit und konstituieren dabei Erinnerung aus dem sich wiederum gesellschaftliches Bewusstsein ergibt. Die Interpretation der Vergangenheit ist dabei maßgeblich von den Bedürfnissen der Gegenwart bestimmt. An den dekonstruktivistischen Potenzialen dieses ab den 1920er Jahren entwickelten Ansatzes war der deutsche erinnerungspolitische Diskurs nicht interessiert. Attraktiv war das Modell vor allem deshalb, weil man es einerseits überdehnen und kollektives Gedächtnis als Platzhalter für nationales Gedächtnis verwenden konnte, andererseits das Modell so ‚weich’ und harmonisch ist, dass man meinte den Nationalsozialismus und die Shoah darin sorglos versenken zu können. Zudem erkannten die Deutschen sehr viel genauer als Halbwachs die Möglichkeiten der Identitätsstiftung, die seinem Modell immanent sind.
Maurice Halbwachs wurde in Buchenwald erschlagen. Der doppelte Hohn dabei ist, dass das Halbwachs-Modell, das sich die Deutschen seit den 90er Jahren aneignen, in seiner universellen Gutherzigkeit mit der Erfahrung der Shoah vermutlich so nie entstanden wäre. Eine adäquate Revision des Modells des kollektiven Gedächtnisse lieferte Derrida mit Mal d’archive, als eine Art soziales durchmachtetes Gedächtnis voller Pathologien.
Im Falle Stalingrad bedeutet die implizite Bezugnahme auf das kollektive Gedächtnis unter anderem die Rückkehr des „Mythos Stalingrad“. Gelabelt als Zeitzeugenschaft durften sich Täter der 6. Armee ausbreiten. Vergessen war alle Skepsis gegenüber präsentistischen Darstellungen, Verdrehung und Verschweigen der Taten durch die Täter. Was in der internationalen Historiographie als Oral History mit stark sozialkritischen Impetus begann, als eine Geschichte von unten, als eine Geschichte der Marginalisierten, bedeutete im deutschen Stalingrad-Diskurs die Rückkehr der Wehrmachtsopas und Soldatenfrauen und deren Narrativen vom ‚kleinen Mann im Kessel an der Front’. Die selbstgefälligen Aufbereitungen der eigenen Biographie wurde als Authentizität verstanden, die dabei notwendigen Lügen und Verharmlosungen einfach geglaubt oder als ‚Recht auf eine subjektive Deutung’ verteidigt. So im „Brennspiegel Stalingrad“ bei historiker.de, einer Seite für Historiker und historisch interessierte Laien. Dass das Internet zur Erinnerungsplattform für das ‚kollektive Gedächtnis’ der Deutschen werden könnte, erhofft sich auch das Deutsche Historische Museum Berlin mit einem entsprechenden Online-Projekt zu allen Fragen deutschen Opfertums. Bei der Deutung des Nationalsozialismus durch das Täterkollektiv sind jetzt alle aufgefordert, es öffentlich zu tun. Maurice Halbwachs hat kollektives Gedächtnis und Historiographie analytisch zu trennen versucht. Peter Novick hat in After the Holocaust darauf verwiesen, dass diese beiden Arten, Vergangenheit zu konstituieren in offenem Widerspruch zueinander stehen können. Die neueren Ansätze von Kulturgeschichtsschreibung und massenmedialer Vermittlung (letzteres unter Leitung der gedächtnispolitischen Frontsau Guido Knopp) unter dem Paradigma des kollektiven Gedächtnisses versuchen hier, mittels Ausschlachtung und Umkehrung von erinnerungstheoretischen Diskursen von Überlebenden der Shoah, diese Widersprüche einzuebnen. Euphemistisch wurde dies dann als Diversifikation der Erinnerung bezeichnet. Eine hervorragende Analyse der feindlichen Übernahme der Ergebnisse und Methodiken von Oral History und Traumaforschung, die im Rahmen der Holocaust Studies erbracht wurden, durch die deutsche Zeitzeugenforschung lieferte Günther Jacob 1999 mit seiner Serie Stille Post in konkret. Die Konstruktion des ‚allgemeinen Leids’ stellt die akademisch geerdeten Form des Revisionismus dar.
Kollektives Gedächtnis verdichtet sich nach Pierre Nora in lieux de mémoire. Das Konzept von Nora, nach dem diese Orte durch eine im weitesten Sinne materielle Strukturiertheit, eine symbolische Aufladung und eine gewisse Funktionalität charakterisiert sind, wurde in Deutschland begeistert aufgenommen. Schnell waren drei Bände gefüllt mit „Deutschen Erinnerungsorten“. Joachim Fest durfte in „Führerbunker“ an den Arbeitsplatz seines Lieblingspolitikers und irgendwo zwischen Oberammergau, deutschem Schlager, Faust und Stalingrad wurde dann auch Auschwitz einsortiert.
Wer Stalingrad als ein „Symbol für die Sinnlosigkeit des Krieges überhaupt“ (Deutschlandfunk) interpretiert, missachtet, welche Rolle die Schlacht für die Beendigung der ‚historischen Mission’ der Deutschen, die Befreiung der Konzentrations- und Vernichtungslager, die Verhinderung des „Generalplan Ost“ und die Mobilisierung der Alliierten, der Unterdrückten und der Gegner des Nationalsozialismus spielte. Wer von einer „sinnlosen Schlacht“ spricht, verschweigt, wie gerne die Deutschen ihre Armee gesehen hätten, über den Slawen auf den Juden, siegreich am Strand der Wolga, an den Ölreservoirs der Region und in ihren Kornfeldern. „Stalingrad lag, militärstrategisch gesehen, auf dem Wege dahin“ (Pätzold).
 

Epilog: Sechs sells

Im Frühjahr 1945 fand sich ein Teil der NS-Elite aus Partei, SS und Wehrmacht mit ihren Getreuen in Tirol ein. Offiziell wollte man hier die Alpenfestung ausbauen und verteidigen. Halboffiziell wurde mit den Westalliierten erfolglos über einen Separatfrieden verhandelt, der es ermöglicht hätte, wieder gen Osten und gegen den Bolschewismus zu ziehen. Inoffiziell schließlich kümmerte man sich um seine Interessen, indem man Fluchtrouten spurte und Raubgut vergrub, und um die Interessen Deutschlands, während man ökonomisches Kapital und Humankapital in Sicherheit brachte. Es war also genau der richtige Ort, um die ‚Kriegskasse’ der 6. Armee in Empfang zu nehmen: Diese rollte in Form schwer beladener LKWs, gefüllt mit Raubgütern aus dem Krieg gegen „Judentum und Bolschewismus“ in der Alpenfestung ein.
Der eigentliche ‚Gewinn’ für die Deutschen bestand in ihren faktischen Eliminationserfolgen und der Einheits- und Sinnstiftung, die aus Stalingrad durch die Jahre hinweg gewonnen werden konnte. Wenn die Deutschen jetzt ‚gemeinsam mit den Gegnern von damals gedenken wollen’ und sich bei dieser Anmaßung auf die totalitarismustheoretische Parallelisierung wie Durchhaltebefehl im Kessel und Stalins Haltebefehl 227 zu berufen können glauben, dann ist auch da mehr dahinter. Konnte die Shoah als Legitimationsgewinn für deutsche militärische Außenpolitik genutzt werden, so ist auch mit dem Falle der den ehemaligen Sowjets aufgedrängten „gemeinsamen Erinnerung“, neben der Entlastung der Täter, ein anderes Ziel verbunden: Der Sieg in Stalingrad durch den Einkauf Wolgograds.

Jochen Faun
BgR Leipzig