Sterntaler

Wie das Geld sozialistisch wurde

Solange es noch existiert, hat der Kommunismus nicht gewonnen. Das war anfangs die bolschewistische Auffassung vom Geld. Es galt als Zeichen unvollendeter Nationalisierung der Produktionsmittel. Es »wird wahrscheinlich endgültig erst mit der Kleinwirtschaft selbst absterben.«Nikolai Bucharin/Ewgenij Preobraschenski, Das ABC des Kommunismus [1919], Hamburg 1921, 342. Dann aber blieb es im Realsozialismus existent, obwohl es kaum noch Privateigentum an Produktionsmitteln gab, und verlangte nach Rechtfertigung, etwa solcherart: »Die Dialektik der Entwicklung des Geldes in der Epoche des entfalteten Aufbaus des Kommunismus besteht darin, daß durch die allseitige Festigung der Geldzirkulation in der sozialistischen Gesellschaft und durch die Erhöhung der Bedeutung des Geldes in der Volkswirtschaft sein Verschwinden in dem Stadium vorbereitet wird, in dem die sozialistische Gesellschaft ihre Produktivkraft und gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse auf einen Stand gebracht haben wird, der den Eintritt in die zweite, die höchste Phase des Kommunismus sicherstellt.«Jakov Kronrod, Das Geld in der sozialistischen Gesellschaft [1960], Berlin 1963, 391, Schreibung im Original. Kurz gesagt: Bevor es abstirbt, blüht das Geld noch mal auf. Während Jakov Kronrod als Marxist alter Schule Mühe hatte, eine plausible Rechtfertigung des Geldes zu formulieren, nahmen pragmatische Positionen die Existenz des Geldes weniger schwer. Ihnen zufolge hat sich das Geld »grundlegend gewandelt«Zakharii Atlas, Zur Theorie des Sowjetgeldes, in: Sowjetwissenschaft. Gesellschaftswissenschaftliche Abteilung, Jahrgang 1953 (Heft 5/6), 664-683, 665. typo3/ – und zwar vom Bock zum Gärtner. Sozialistisches Geld sei gutartiges Geld. Während kapitalistisches Geld die Produktion hinter den Rücken der ProduzentInnen und KonsumentInnen vermittle, werde das Sowjetgeld »bewußt und planmäßig« angewandt.

Planmäßigkeit!

Nachdem das Geld selbst sich nicht hatte abschaffen lassen, wurde ihm unterstellt, was an seine Stelle hätte treten sollen. »Planmäßigkeit« war das letzte Bollwerk, in das sich die sozialistische Ideologie zurückziehen konnte, nachdem die Abschaffung des Geldes nicht mehr auszudenken war. Die »Planmäßigkeit« wurde in den Texten der sozialistischen Ökonomie zu einem Mantra. Das Geld diene »der planmäßigen Organisierung und Entwicklung des gesamten sozialistischen Reproduktionsprozesses« und sei die »Organisationsgrundlage der sozialistischen Wirtschaft« bzw. ein »Mittel ihrer Planung und Kontrolle, ferner der planmäßigen Verteilung des Sozialprodukts bzw. der planmäßigen Umverteilung des Volkseinkommens«.Stefan Varga, Das Geld im Sozialismus. Sein Begriff und seine Funktion, in: Weltwirtschaftliches Archiv, Jahrgang 1957 (Heft 2), 223-290, 243. Das schrieb Stefan Varga, Professor der Nationalökonomie, Leiter der ungarischen Finanzpolitik und maßgeblicher Stichwortgeber für diejenigen ÖkonomInnen im Ostblock, die darauf bedacht waren, sich mit der Realität des sozialistischen Geldes abzufinden. Zwar gab es weiterhin orthodoxe MarxistInnen – auch in Amt und Würden – wie Alfred Lemmnitz, die das Geld im Sozialismus nicht kritiklos hinnehmen wollten und in seiner Fortexistenz ein Indiz unvollendeter Vergesellschaftung und Planung sahen.Alfred Lemmnitz, Die Funktion des Geldes. Erster und zweiter Teil, in: Die Arbeit, Jahrgang 1948 (Heft 9 u. 10); 271-274 u. 308-309; ders., Zur aktuellen Bedeutung der Marxschen Geldtheorie, in: Helmut Koziolek (Hrsg.), Wesen und aktive Rolle des Geldes in der sozialistischen Planwirtschaft, Ost-Berlin 1989, 43-46. Doch als praktischer erwies sich mit den Jahrzehnten des Realsozialismus und dem Fortbestand des Geldes eine Wirtschaftswissenschaft, die es nicht als Mangelzeichen auffasste, sondern als Instrument der Planwirtschaft.

Aufgabe des Geldes

Die Fragen, ob das sozialistische Geld Warencharakter und wenn nicht, welchen es dann habe, wurde über Jahrzehnte intensiv diskutiert. Zur Erinnerung: In seiner Kritik der politischen Ökonomie hatte Karl Marx die Auffassung vertreten, dass die Geldzeichen (etwa die Banknoten) nicht für sich stünden, sondern Zeichen für Geldware seien, für Edelmetalle. Diese hätten ihren Produktionskosten gemäß einen Wert. Hätte diese Bestimmung auch für das sozialistische Geld gegolten, dann wäre das schwer mit dem Ideal der Planmäßigkeit zu vereinbaren gewesen. Demnach ergeben sich Werte und Preise der sozialistischen Waren nicht im Tauschverhältnis zu Gold oder einer anderen Geldware, wie in der kapitalistischen Gesellschaft, sondern durchdacht und angeordnet von den Planungsbehörden. In der Diskussion setzten sich im Laufe der Zeit diejenigen durch, denen zufolge das sozialistische Geld sich grundlegend gewandelt habe. Marx, so meinten sie, habe doch in der Kritik der politischen Ökonomie nicht das sozialistische, sondern das kapitalistische Geld analysiert, zumal das des 19. Jahrhunderts. »Die Praxis der sozialistischen Geldwirtschaft ist erfolgreich, erweist sich also als gut, warum sollte man daher an dem für sie nicht passenden, den Tatsachen widersprechenden, für eine überholte Geschichtsperiode gültigen theoretischen Unterbau festhalten?«.Varga, Das Geld im Sozialismus, 246.

Im Sozialismus, so Varga, emittierten die staatlichen Behörden hauptsächlich auf zwei Weisen Geld. Zum einen schöpfe der Staat (Staatsbank und Planungsbehörden) Buchgeld für die Betriebe, das er ihnen als Kredit gewähre. Sobald die Betriebe den Kredit tilgten, verschwinde das Buchgeld wieder, zum anderen emittiere der Staat (Staatsbank und Planungsbehörden) so viel Bargeld als Lohn an die Angestellten und ArbeiterInnen, wie Konsumgüter vorhanden seien. Von dort aus wandere das Geld in die sozialistischen Läden und zurück an den Staat. Sozialistisches Geld entstehe daher durch »Kreditschöpfung«. Andere Befürworter dieser Theorie nannten es daher kurz und knapp und in Abgrenzung zum kapitalistischen Geld sozialistisches Kreditgeld oder auch Staatspapiergeld. Im Falle des Buchgeldes machte die Bezeichnung teilweise Sinn: Der Staat als Gläubiger gab Buchgeld an einen Betrieb, z.B. einen Landwirtschaftsbetrieb. Dieser durfte und musste als Schuldner das Geld zum Beispiel in Traktoren eines bestimmten Traktorenwerks investieren. Da nun das Traktorenwerk und dessen Produkte von Rechts wegen dem Staat gehörten, stellte das geliehene Geld für den Landwirtschaftsbetrieb im Grunde ein Anrecht auf Gläubigereigentum dar. Da aber auch der Landwirtschaftsbetrieb Staatseigentum war, war das ganze Kreditverhältnis ein formales. Es gab »keinen Unterschied in der Person von Gläubiger und Schuldner«: »Alle innerhalb des staatlichen Sektors zwischen verschiedenen Stellen, Banken und Unternehmungen bestehenden Gläubiger- und Schuldnerbeziehungen sind keine eigentlichen, sondern nur formale Obligationen, die der Plankontrolle dienen«. Später bezeichnete Varga das sozialistische Geld in seinen Texten auch schlicht als »Anweisung«. Diese Bezeichnung ist in Hinsicht auf das Buchgeld sinnvoll. Die Betriebe sollten mit dem Geld machen, was ihnen der Staat vorgab: es in den Produktionsprozess investieren und sodann wieder zurückerwirtschaften.

Um ein Instrument der Planwirtschaft zu sein, sollte das Geld als Rechenmittel dienen. Darum bezeichnet es Varga auch als »Generalnenner«. Mit diesem werde »das Problem der Wirtschaftsrechnung im Sozialismus gelöst« und die Rationalität der Planwirtschaft garantiert. Was da auf einen Nenner im Geld gebracht wurde, schien im Geiste des Marxismus ziemlich klar zu sein: gesellschaftlich notwendige Arbeit. Ziel der Wirtschaftsrechnung war, die Volkswirtschaft möglichst rentabel zu gestalten. Rentabilität im Sozialismus bedeutete, mit möglichst wenig Arbeitsaufwand und Verschleiß von Produktionsmitteln möglichst viele gesellschaftlich notwendige Produkte zu schaffen. Im Großen und Ganzen sollte die Volkswirtschaft rentabel sein und im Kleinen jeder einzelne Betrieb: »Die ökonomische Hauptaufgabe der sozialistischen Betriebe besteht darin, ihren Plan mit dem geringsten Aufwand an gesellschaftlicher – vergegenständlichter und lebendiger – Arbeit zu verwirklichen.«Fritz Behrens, Zum Problem der Ausnutzung ökonomischer Gesetze in der Übergangsperiode, in: Wirtschaftswissenschaften, Jahrgang 1957 (Sonderheft 3), 105-140, 133.typo3/ Die Staatsbank, auch »Staatsrechnungshof« genannt, führte die Konten der Unternehmen und prüfte alle Transaktionen. Die Gewinne der Betriebe sollten, so die Idee, der Staatskasse zufließen und von dort aus mit Bedacht den Fonds der Gesellschaft zukommen, wie zum Beispiel dem Sozialfonds oder dem Investitionsfonds der Volkswirtschaft. Aus letzterem sollte das Geld in ausgeklügelten Proportionen wieder an die Betriebe zurückfließen, um die Volkswirtschaft ganzheitlich und bestmöglich zu entwickeln. Erhielt ein Betrieb Geld, so sollte es an Planvorgaben gekoppelt sein. Die Wirklichkeit war anders: Abhängig von der jeweils herrschenden Politik und Doktrin (im Realsozialismus gab es Hardliner oder Reformer) durften die Betriebe mal mehr und mal weniger Gewinn behalten und selbständig reinvestieren. Aber auch im Reformsozialismus blieben die Betriebe samt ihren Produktionsmitteln und Gewinnen Eigentum des Staates und waren ihm untergeordnet.

Zahlungs- und Zirkulationsmittel

Das Geld, das der arbeitenden Bevölkerung als Lohn ausgezahlt wurde, definierte die sozialistische Wirtschaftswissenschaft als Zahlungsmittel. Es sollte idealerweise nach dem Prinzip »Jeder nach seinen Leistungen« verteilt werden. Jede und Jeder sollte sich mit dem eigenen Lohn einen Anteil am Konsumgütergesamtprodukt gemäß dem Anteil an der Gesamtarbeit aneignen. Dem Ideal nach schüttete der Staat insgesamt genau so viel Lohn an die Bevölkerung aus, wie Waren in den sozialistischen Läden lagen. »Ob dies geschieht, ist wiederum eine Frage der richtigen Planung.« In der Realität war es nicht so, wie Varga es sich vorstellte. Richtige Planung war schwer, es gab viele Fallstricke. Entweder wurde zu viel Geld an die Bevölkerung ausgegeben, dann waren am Ende alle Läden leer gekauft, aber noch Bargeldbeträge als uneingelöste Versprechen übrig, oder es wurde zu wenig Geld ausgeschüttet und die Waren vergammelten am Ende in den Läden. Der Staat musste aber nicht nur genau die Bargeldmenge unter die Leute bringen, die dem Gesamtpreis der Produkte in den Läden entsprach, er musste darüber hinaus auch für die richtige Proportionierung der verschiedenen Güter gemäß den Bedürfnissen sorgen. Außerdem hatte er mit den Schwarzmärkten und nicht sozialistisch hergestellten Waren (zum Beispiel aus dem feindlichen Ausland) zu kämpfen. Es handelte sich insgesamt um zwei grundlegende Mängel des sozialistischen Lohnes – Mängel, die ihn von Arbeitsscheinen unterschieden, wie sie Marx im Gothaer Programm skizziert hatte. Den Planungsbehörden war es erstens nicht möglich, die Arbeitsleistungen der Arbeiter halbwegs genau zu bestimmen und zu bescheinigen, die Löhne wurden deshalb je nach Berufsgruppe pauschal festgelegt. Zweitens hatte Marx über die Arbeitsscheine gesagt: »Sie zirkulieren nicht.« Das sozialistische Geld aber zirkulierte – zum Leidwesen der Planer und Theoretiker.

Soweit Pläne und Verträge den Stoffwechsel zwischen den Betrieben bzw. den Austausch von Produktionsmitteln regulierten, konnte in diesem Bereich die Funktion des Geldes als Zirkulationsmittel ausgeschaltet werden. Das war möglich, weil dieses Geld in den Plänen und der Buchführung sowie auf den Konten der Betriebe zumeist nur als Recheneinheit bzw. Buchgeld, auf den Konsummärkten und Schwarzmärkten jedoch als Bargeld und Zirkulationsmittel in Erscheinung trat. Die Arbeiterin eines staatlichen Industriebetriebs etwa gab einen Teil ihres Lohns als Bargeld auf dem Kolchosmarkt für Kartoffeln aus; der Verkäufer der Kartoffeln gab das Geld am Stand nebenan für frische Wurst aus, usw. Ein Geldstück konnte von Hand zu Hand laufen und dabei eine Ware nach der anderen in den Endverbrauch überführen. Durch diese Zirkulation des Bargeldes wurde die sozialistische Idee des Lohnes untergraben und obendrein wurde die planmäßige Festsetzung der Warenpreise zu einer komplizierten Angelegenheit der Statistik und Stochastik. Da Bargeld auf dem Konsumgütermarkt mehrfach zirkulierte (in unterschiedlicher Umlaufmenge und -geschwindigkeit) und immer wieder neu in Waren umgetauscht wurde, konnte der Umfang der Bargeldmasse vom Staat kaum oder nur schätzungsweise auf den Umfang der Konsumgüter und deren Preise abgestimmt werden. Der Lohn konnte dadurch nur schlecht dem sozialistischen Ideal entsprechen. Demnach sollte sich der Lohn individueller Arbeit zum Konsumgütergesamtprodukt so verhalten, wie die individuell geleistete gesellschaftlich notwendige Arbeit zur gesellschaftlichen Gesamtarbeit. Lenin hatte die »staatliche Kontrolle des Geldumlaufs«Wladimir I. Lenin, Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht [1918], Lenin Werke (LW) 27, 225-268, 242.typo3/ schon angedeutet. Varga kam darauf zurück. Er proklamierte, alles Bargeld dürfe, nachdem es die Staatskasse verlassen habe, nur einmal umlaufen und müsse dann wieder in die Staatskasse zurückkehren. Außerdem behauptete er, diese Form von Geldumlauf sei in vielen sozialistischen Staaten quasi schon Realität, weil die meisten Läden verstaatlicht seien. »Die Einnahmen der sozialistischen Läden [...] werden täglich nach Ladenschluß in die Notenbank, die über ein ausgedehntes Filialnetz verfügt, oder bei der Post für Rechnung der Notenbank einbezahlt […] Die Umlaufzahl des größten Teils des Bargeldes ist gleich eins«Varga, Das Geld im Sozialismus, 279f.. Mit Marx formuliert: Es zirkuliert nicht.

Was hätte dieser Zustand, den Varga unterstellt, vorausgesetzt? Alle Verkaufsläden hätten dem Staat gehören und alle Einnahmen der Staatsbank zufließen müssen, alle Schwarzmärkte und Hand-zu-Hand-Geschäfte hätten verboten und unterbunden werden müssen. Kurzum, der Staat hätte das Wirtschaftsleben der Gesellschaft ganz und gar überwachen, also ein totaler Staat sein müssen. Auf diesen von Lenin sogenannten Zustand der »Regulierung des sozialistisch organisierten Wirtschaftslebens des ganzen Landes«Lenin, Thesen zur Bankpolitik [1918b], LW 27, 212-213, 212. strebten die sozialistischen Staaten der Ideologie nach zwar hin, je konsequenter sie auf Planmäßigkeit insistierten. Doch ließ sie die wirtschaftliche Erstarrung, die ein solcher Zustand nach sich zog, in ihrem Bestreben immer wieder zaudern und zurückschrecken. So beschieden sie sich mit vierteljährlichen »Bargeldumsatzplänen«, wie sie in den 1930er Jahren in der Sowjetunion allen Betrieben abverlangt wurden, oder ähnlichen Nachweisen und überließen die Dinge ansonsten ihrem Lauf. »Jeder Rubel läuft mehrmals um.«Atlas, Zur Theorie des Sowjetgeldes, 682. Das war die Realität.

Alternativen

Hätte es Alternativen gegeben? Wie sähe eine bessere sozialistische Wirtschaftsweise aus, gar eine kommunistische ohne Geld? 1946 versuchte Lola Zahn, eine deutsche Wirtschaftswissenschaftlerin in der Sowjetischen Besatzungszone, die sowjetische Planwirtschaft zu erklären: »Der Direktor eines Sowjetbetriebes denkt nicht zuerst in Rubeln. Er denkt in Ballen Baumwolle, in Stückzahlen Spinnmaschinen und Webstühlen, in Metern Geweben, kurz, ihn interessieren vor allem die Güter in ihrer stofflichen Form. Ausgangspunkt der sozialistischen Produktionsplanung ist die Naturalrechnung, die Ausstellung von Materialplänen und nicht die Verfügung über Geld […] Endpunkt der sozialistischen Produktion ist das Gut und nicht die Ware, ist das stoffliche Arbeitsprodukt.«Lola Zahn, Die ökonomischen Grundbegriffe der Sowjetplanwirtschaft, in: Einheit, Jahrgang 1948 (Heft 2), 111-122, 111. Was Zahn beschrieb, stimmt höchstens für technische Direktoren, genügt aber weder den wirtschaftlichen Ansprüchen von Betrieben noch denen der Gesellschaft. »Weil es wirtschaftlich keinen Sinn hat, Gewicht, Körpermaße oder Stückzahl der verschiedenen Arbeitsprodukte zusammenzuzählen.«Gruppe Internationaler Kommunisten (Holland), Grundprinzipien kommunistischer Produktion und Verteilung [1930], Einleitung von Paul Mattick, hrsg. vom Institut für Praxis und Theorie des Rätekommunismus, Berlin-Wilmersdorf 1970, 171. Wirtschaftlichen Sinn hat das Wissen, wie viel die Produkte die Betriebe und die Gesellschaft kosten. Wieviel Arbeitszeit kostet ein Ballen Schur-, wieviel ein Ballen Baumwolle? Wieviel Arbeitszeit kostet eine Spinnmaschine? Kostet sie weniger Arbeitskraft, als sie am Ende einspart? In welchen Produktionszweigen kann auf Arbeitszeit verzichtet werden, um sie in den Bau von Spinnmaschinen zu investieren? Der Zweite Ökonomische Kongress der Bolschewiki hatte 1919 auf die Dringlichkeit der Aufgabe hingewiesen, die Arbeitszeit in den Produkten der nationalisierten Betriebe zu berechnen.Alfons Goldschmidt, Die Wirtschaftsorganisation Sowjet-Rußlands, Berlin 1920, 133. Zwei Jahre später berichtete Eugen Varga (nicht zu verwechseln mit dem oben zitierten Stefan Varga) aus Sowjetrussland, dass die Staatsbetriebe dort bereits ohne Geld wirtschafteten und sich an der geldlosen Kostenrechnung versuchten. Die Bestimmung der Arbeitszeit bereite aber noch größte Schwierigkeiten. Er beginnt seine Ausführungen in der deutschen Zeitschrift Kommunismus mit der Auseinandersetzung, warum Arbeitszeitrechnung notwendig sei. Es sei wichtig »zu wissen, wie viel Arbeitszeit die Produktion jedes Gutes kostet [...]. Das Ziel der sozialistischen Wirtschaftspolitik kann ja nichts anderes sein, als alle Güter mit der Anwendung der möglichst geringsten Arbeit zu produzieren.«Eugen Varga, Die Kostenabrechnung in einem geldlosen Staat, in: Kommunismus, Jahrgang 1921 (Heft 9/10), 290-298, 293.typo3/ Da sich in einer sozialistischen Wirtschaft, in der keine Waren getauscht würden, auch kein Tauschwert bilde, so fährt Varga fort, müsse die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit, die ein Produkt kostet, direkt berechnet werden. Die dabei zu berücksichtigenden Faktoren seien bekannt; neben der direkt an der Produktion beteiligten Arbeitszeit müsste auch diejenige berücksichtigt werden, die in den Produktionsmitteln steckt, die bei der Produktion abgenutzt werden. Hier beginne das Problem, an dem die geldlose Wirtschaft in Sowjetrussland laboriere. Die Taxierung der Arbeitszeit habe sich als »eine sehr schwierige Aufgabe« entpuppt – »Marx hat sie nirgends behandelt«. Tatsächlich findet sich bei Marx im Gothaer Programm nur das Postulat, dass die verausgabte Arbeit zukünftig ihrer Ausdehnung und Intensität nach zu bestimmen ist. In Engels Anti-Dühring findet sich noch der laxe Hinweis, dass diese Taxierung leichtfallen werde. Nach der Revolution wurde dann, wie Varga berichtet, offenbar, dass diese Taxierung alles andere als einfach ist. Ohne solche Taxierung aber hätte die geldlose Ökonomie auf die Fähigkeit verzichten müssen, Arbeitsaufwand und Nutzeffekt in der Produktion abzuwägen. Anders gesagt: ohne Arbeitszeitrechnung keine Rationalität der kommunistischen Wirtschaft.

Arbeitszeitberechnung

Holländische KommunistInnen beschäftigten sich mit dem Problem und präsentierten 1930 eine Lösung. Die Grundeinheit, mit der zu rechnen wäre, solle die gesellschaftlich durchschnittliche Arbeitsstunde sein. Man müsse die Betriebe, die gleiche Produkte produzieren, miteinander vergleichen. Würde zum Beispiel ein Schuhbetrieb pro MitarbeiterIn ein, der zweite Betrieb zwei und der dritte Betrieb drei Paar Schuhe produzieren, so wäre klar, dass in den Betrieben durchschnittlich eine halbe gesellschaftliche Arbeitsstunde aufgewandt werde um ein Paar Schuhe zu produzieren und dass im ersten Betrieb pro Zeitstunde eine halbe gesellschaftliche Arbeitsstunde geleistet wird, im zweiten Betrieb eine ganze und im dritten anderthalb. Ferner müsste, um die Kosten der Schuhe zu ermitteln, neben der unmittelbar im Betrieb verbrauchten Arbeitszeit (a) noch festgestellt werden, wieviel Produktionsmittel (p) und Rohstoffe (r) pro Schuh verbraucht werden. Denn auch (p) und (r) stellen Arbeitszeit dar. Für jedes Produkt, wirklich jedes, soll so die »Gesamtsumme an Arbeitszeit von seinen ersten Anfängen an bis zur völligen Fertigstellung berechnet« werden. Alle Betriebe müssten sich beteiligen und genau Buch führen über ihren Verbrauch von a, p, und r: »Die Durchführung der sozialen Revolution ist im Wesen nichts anderes als die Durchführung der Arbeitsstunde als Maßstab im gesamten Wirtschaftsleben.«Gruppe Internationale Kommunisten (Holland), Grundprinzipien, 176. Um beim Beispiel zu bleiben: Würde ein Paar Schuhe summa summarum (a + p + r) eine gesellschaftliche Arbeitsstunde kosten, so würde schließlich ein effektiver Schuhbetrieb, der weniger (a + p + r) aufgewandt hätte, schwarze Zahlen, und ein unwirtschaftlicher Betrieb, d.h. einer mit mehr Aufwand, rote schreiben. Betriebe, die zu sehr in den roten Zahlen stünden, müssten, so das Konzept der Holländischen RätekommunistInnen, geschlossen werden – der Wirtschaftlichkeit der Gesellschaft wegen.

Allerdings hat die GIK etwas vergessen, das die Ermittlung der Arbeitszeit in den Produkten und die Entlohnung der Arbeitskräfte noch kniffliger macht. Selbst wenn zwei Arbeitskräfte sich gleichermaßen anstrengen, heißt das nicht, dass sie in derselben Arbeitsstunde gleichermaßen gesellschaftliche Arbeitszeit verbrauchen. Eine qualifizierte Arbeitskraft überträgt in einer Arbeitsstunde nämlich mehr gesellschaftliche Arbeitszeit auf das Produkt als eine unqualifizierte. Sie fügt dem Produkt auch diejenige Arbeitszeit zu, die zu ihrer Ausbildung aufgewandt wurde. Einige produzieren als Lehrkräfte jene Arbeitskräfte, die später Schuhe produzieren, andere helfen als Portiers in der Universität bei der Produktion dieser Lehrkräfte usw. Schlussendlich macht sich in den Schuhen so nicht nur die Schuhmacherei-Arbeitszeit geltend, sondern auch diejenige der Lehrkräfte, Portiers usw. Die Beschäftigten in den Schuhfabriken übertragen die Arbeitskraft derjenigen, die an ihrer Ausbildung mitgewirkt haben, vermittels qualifizierter Schuhmacherei auf die Schuhe. Das Schuhwerk käme nicht zustande, hätte die Gesellschaft nicht einen Teil ihrer Arbeitskraft in ihre Ausbildung investiert. Die kommunistische Gesellschaft müsste daher auch feststellen, was zum Beispiel die Portiers und Lehrkräfte geleistet haben, d.?h. einen wie großen Teil des Endprodukts sie konsumieren können. Es geht um die Frage, inwiefern und wo genau sich ihre Arbeitskraft im Endprodukt, also dem Konsumprodukt der Gesellschaft, manifestiert hat.

Angesichts solcher Schwierigkeiten gab es auch kommunistische Positionen, die die Möglichkeit der Arbeitszeitrechnung bestritten. Allen voran der Anarchokommunist Peter Kropotkin. Die industrielle Produktion sei zu komplex, wendet er ein. Unmöglich könne errechnet werden, wie viel Arbeitszeit der Gesellschaft zum Beispiel ein Korb Kohle koste, da zu diesem verschiedenste Arbeitsschritte an verschiedensten Orten beigetragen haben.Peter Kropotkin, Die Eroberung des Brotes [1892], in: ders., Die Eroberung des Brotes und andere Schriften, München 1973, 57-277, 247. Wenn er Recht hat, bleibt unklar wie dann seine politökonomische Forderung umgesetzt werden soll: »Es kommt darauf an, mit dem geringstmöglichen Verschleiß menschlicher Kraft die größtmögliche Menge der zu aller Wohlergehen nötigsten Güter zu produzieren.«Ebd., 165. Wie soll die Gesellschaft an Kraft sparen, wenn es ihr nicht möglich ist, diese zu berechnen? Er gibt darauf keine Antwort.

Ähnlich wie er zweifelte auch Karl Kautsky. Arbeitszeitrechnung sei ein Werk der Unmöglichkeit. Genauso gut könnte Wasser mit einem Sieb gemessen werden. Daher plädiert Kautsky im Gegensatz zu Kropotkin dafür, das Geld beizubehalten. Die »Maschine«, als die er die kapitalistische Geldordnung begreift, müsse modifiziert werden. Die Geldware müsse zu reinem Papiergeld werden und das Geld als Zirkulationsmittel und besonders als Rechengeld in den Dienst des Sozialismus treten.Karl Kautsky, Die proletarische Revolution und ihr Programm, Berlin 1922, 324. Erst später, so schweift Kautsky ins Ungewisse, werde vielleicht einmal ein besserer Mechanismus als der Geldmechanismus gefunden werden. Mit dem Vorschlag, das Geld beizubehalten und ihm die Arbeitszeitrechnung zu überlassen, nahm er vorweg, was sich als Realitätsprinzip des Realsozialismus durchsetzte oder, besser gesagt, nicht beseitigen ließ.

Hannes Giessler Furlan

Hannes Giessler Furlan wohnt in Köln. Sein Buch Verein freier Menschen? Idee und Realität kommunistischer Ökonomie ist im Frühjahr 2018 im Verlag zu Klampen erschienen.