Streit um (Kroatiens) Geschichte

Als ab 1991 die Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien in blutigen Bürgerkriegen zerbrach, hörte man oft, der jugoslawische Bürgerkrieg des 2. Weltkrieges wäre wiederaufgelebt. Auch wenn dies in diesem Sinne nicht haltbar ist, so war doch die Erinnerung an den 2. Weltkrieg das wichtigste Feld, auf dem die ideologische Formierung der jeweiligen ethnisierten Nationalismen stattfand. Den – nicht nur metaphorischen – Krieg um die Erinnerung in Kroatien untersucht Ljiljana Radonic in ihrer Dissertation von 2009 anhand der detaillierten Analyse der Befassung mit dem Erinnern an den 2. Weltkrieg in der Presse des unabhängigen Kroatiens. Dabei handelt es sich nicht um eines der üblichen Werke aus dem boomenden Genre der Memory Studies, auch wenn es erkennbar in diesem Zusammenhang verfasst wurde. Radonic strebt mit ihrer Arbeit, orientiert an Adornos kategorischem Imperativ, unter der Prämisse, »dass der Holocaust ein Zivilisationsbruch war und es das Ziel der Beschäftigung mit der Vergangenheit sein muss, Ähnliches zu verhindern« ein ideologiekritisches »negatives Erinnern« an. Schuld und Verantwortung werden so in emanzipatorischer Absicht reflektiert, anstatt dass (nationale) Mythen konstruiert werden.

Ausgangspunkt ist dabei die in einem eigenen Kapitel kritisch dargestellte Geschichtspolitik der EU, vor allem die »Europäisierung des Holocausts« als die mit der Enthistorisierung der Shoa einhergehende Konstruktion dieser als negativen Gründungsmythos des vereinten Europas. Darauf aufbauend, wird der Zusammenhang zwischen der angestrebten EU-Integration und den geschichtspolitischen Auseinandersetzungen in Kroatien untersucht. Diese machen sich fest an den Orten Jasenovac und Bleiburg.

In Jasenovac unterhielt der kroatische Ustaschastaat als einziges Kollaborationsregime des 3. Reiches einen Lagerkomplex, in dem er eigenständig die Ermordung von Juden und Jüdinnen, SerbInnen, Roma und politischen GegnerInnen betrieb. In den sechziger Jahren wurden dort eine Gedenkstätte und ein Museum errichtet. In Bleiburg, an der Jugoslawisch-Österreichischen Grenze, mussten sich fliehende militärische Einheiten und AnhängerInnen des Ustaschastaates der PartisanInnenarmee ergeben, nachdem britische Offiziere die Annahme einer Kapitulation gegenüber den britischen Streitkräften in Kärnten verweigert hatten. Mehrere zehntausend Flüchtende wurden daraufhin von PartisanInnen hingerichtet. Während in Jugoslawien das Erinnern an die Massenliquidationen tabu war, wurden sie zum Kern der Identität der geflohenen Ustaschas in der politischen Emigration.

Das Tudjman-Regime betrieb in den neunziger Jahren unter der Parole der nationalen Versöhnung von Ustascha und PartisanInnen die Rehabilitierung des Ustascharegimes und die Gleichsetzung von Jasenovac und Bleiburg. Seit der Demokratisierung 2000 wandelte dies sich zur Verurteilung der Verbrechen des Ustaschastaates und einem an den europäischen Holocaustdiskurs angepassten Gedenken in Jasenovac, verbunden mit einem europatauglichen Antitotalitarismus.

Diese Entwicklung wird kleinteilig anhand der entsprechenden Diskurse in der kroatischen Presse analysiert. Dabei distanziert Radonic sich von postmodernen Ideologemen, die historische Ereignisse nur noch als »Erzählung«, »Text« oder Diskurs ansehen und setzt der Diskurstheorie die Diskursanalyse als sozialwissenschaftliche Methode entgegen, die neben der sprachlichen Ebene auch AkteurInnen und politische Kontexte in den Blick nimmt. Leider gerät gerade die Darstellung der AkteurInnen teilweise nur kursorisch. Konsequenterweise stellt sie der Analyse der Diskurse einen geschichtlichen Überblick voran, der kompakt den bisherigen Forschungsstand zum 2. Weltkrieg in Kroatien referiert, mit Schwerpunktsetzung auf die Umsetzung der Shoa im Ustaschastaat, die Rolle der PartisanInnen und ihre Abrechnung mit den flüchtenden AnhängerInnen des Ustaschastaates.

Anzumerken bleibt, dass die Rede von den »europäischen geschichtspolitischen Standards« manchmal suggeriert, die osteuropäischen Staaten hätten an deren Gestaltung kaum Anteil. Im Anschluss an Radonic wäre zu untersuchen, wie die Integration osteuropäischer Staaten in die EU diese Standards beeinflusst und verändert.

Trotz einiger methodischer und inhaltlicher Kurzschlüsse stellt Krieg um die Erinnerung durch die Verbindung eines kritischen theoretischen Ansatzes mit der Durchdringung einer großen Materialmenge einen Meilenstein der Kritik (ost-)europäischer Geschichtspolitik dar. Die Studie gibt einen vertieften Einblick in die Art und Weise, wie die ideologische Verarbeitung der jugoslawischen Konflikte des 20. Jahrhunderts selbst wieder politische Wirkungsmächtigkeit entfaltet. Wer sich aus kritischer Perspektive mit europäischer Geschichtspolitik und der Geschichte Jugoslawiens befasst, kommt um dieses Buch kaum herum.

HANNES PÜSCHEL

Ljiljana Radonic: Krieg um die Erinnerung. Kroatische Vergangenheitspolitik zwischen Revisionismus und europäischen Standards, Campus Verlag, Frankfurt a.M. 2010, 422 S., € 43,00.