Streitfall Säkularisierung  

Oder: Als Hans Blumenberg und Hermann Lübbe auf Karl Löwith trafen. 

Im Oktober 1962 fand in Münster der VII. Deutsche Kongreß für Philosophie mit dem Thema Die Philosophie und die Frage nach dem Fortschritt statt. Bei dieser Gelegenheit diskutierten Hans Blumenberg, Hermann Lübbe und Karl Löwith über Begriff und Geschichte der Säkularisierung. Blumenberg war Philosoph, sein Studium der katholischen Theologie musste er 1940 aufgrund der rasseideologischen Gesetzgebung des Nationalsozialismus abbrechen. Der etwas jüngere Lübbe studierte nach 1945 Philosophie und Theologie, erst 2007 wurde bekannt, dass er 1944 in die NSDAP eingetreten war. Löwith hatte 1928 bei Martin Heidegger habilitiert, später übte er scharfe Kritik an dessen Philosophie. Löwith, bedroht aufgrund seiner jüdischen Herkunft, emigrierte Mitte der 1930er Jahre über Italien nach Japan und 1941 in die USA. 1952 erhielt er einen Ruf an die Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Auf dem Kongress im Oktober 1962 übernahm er die Diskussionsleitung eines Kolloquiums mit dem Titel »Säkularisation«, in dem Blumenberg und Lübbe vortrugen.Die Debatte wird hier nicht neuentdeckt und auch nicht in ihrem vollen Umfang betrachtet. Insbesondere Blumenbergs Kritik am Säkularisierungstheorem sowie die weit über den Kongress 1962 hinausgehende Kontroverse zwischen ihm und Löwith ist bereits an verschiedenen Stellen thematisiert worden.Auf den ersten Blick scheint das Kolloquium nicht recht zu dem Kongress zu passen. Doch Löwith hatte in seinem Buch Meaning in History. The Theological Implications of the Philosophy of History bereits 1949 über Säkularisierung und die »theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie« nachgedacht, wie es im Untertitel der deutschen Übersetzung Weltgeschichte und Heilsgeschehen lautet. Darin führte Löwith die These aus, dass das moderne Fortschrittsdenken säkularisierte christliche Eschatologie (Endzeitlehre) sei. Er griff mit der These implizit die geschichtsphilosophische Konfrontation von Liberalismus und Kommunismus auf. Die Studie steht damit geradezu paradigmatisch für die geistesgeschichtliche Konfliktlage wenige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg und am Beginn des Kalten Kriegs. Sie habe, wie Blumenberg es 1966 in Die Legitimität der Neuzeit beschrieb, »dogmatisierend gewirkt«. Säkularisierung war darin nicht nur zur historischen Interpretationskategorie von Geschichtsphilosophie geworden, auch sie selbst wurde geschichtsphilosophisch aufgeladen. 

Im Alltag wird Säkularisierung heute zumeist auf die Trennung von Staat und Kirche bezogen. Ihr Bedeutungsfeld ist aber begriffsgeschichtlich weit offener. Die Diskussion im Oktober 1962 veranschaulicht die verschiedenen Verwendungen von Säkularisierung und deren Implikationen. Darin zeigt sich, dass sich die Frage nach Säkularisierung insbesondere auch auf jene Herausforderung christlicher Selbstverständlichkeiten durch menschliche Gestaltungskraft richtete, die auf die Denkformen der Aufklärung zurückgeht. Im 19. Jahrhundert prägte sich auf der ideellen Grundlage menschlicher Vernunft eine ideengeschichtliche Konkurrenz von Theologie und Geschichte aus, die als Bedeutungsüberhang noch in die gegenwärtigen Debatten hineinwirkt. In den frühen 1960er Jahren stand letztlich diese Konkurrenz zur Disposition – als Lübbe und Blumenberg über »Säkularisation« sprachen und damit auf die Wirkung von Löwiths Studie antworteten. 

 

Vorbedingungen 

Auf dem »Philosophenkongreß«, wie Theodor W. Adorno Ernst Bloch im Juli des Jahres mitteilte, halte er »ein (wissenschaftliches) sogenanntes Hauptreferat, Zur Dialektik des Fortschritts, und wenn ich einigermaßen ausgeruht zurückkomme, so sollte mir eine ganz ordentliche Ketzerpredigt – die eines Ketzers – gelingen.«Theodor W. Adorno, Brief an Ernst Bloch vom 26. Juli 1962, zit. nach: Detlev Claussen, Theodor W. Adorno. Ein letztes Genie, Frankfurt a. M. 2003, 406.  Das andere Hauptreferat, den Eröffnungsvortrag, hielt Löwith. Adorno und Löwith waren beide in den Jahren des Nationalsozialismus ins Exil gegangen und trugen 1962 – nicht das einzige Mal – in einem Umfeld vor, in dem sie und weitere Remigranten, beispielweise der Präsident der Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie in Deutschland, Helmut Kuhn, oder Eric Voegelin, der in den USA geblieben war, auf vormals bekennende Nationalsozialisten trafen, wie Hans Robert Jauß, Helmut Schelsky und Arnold Gehlen. 

Löwiths Titel Das Verhängnis des Fortschritts stand exemplarisch für den Tenor der Zeit. In seinem Vortrag spürte er dem Begriff des Fortschritts nach, der »ursprünglich«, so legte er dar, »ein Fortschritt in der Aneignung der Natur« gewesen sei.Karl Löwith, Das Verhängnis des Fortschritts, in: Helmut Kuhn und Franz Wiedmann, Die Philosophie und die Frage nach dem Fortschritt, München 1964, 15–29, hier 17. Daran anknüpfend problematisierte er die Geschichte wie sie sich im 19. Jahrhundert ausgeprägt hatte. Ihr »Grundzug« sei »die radikal fortschreitende Veränderung alles Bestehenden«; es sei unmöglich in ihr noch einen »Standort« zu finden. Dieses Problem werde mit der technischen Fortentwicklung, die eine neue Dimension erreicht habe, umso virulenter. Er stellte in pessimistischer Perspektive heraus: »Das nun beginnende Stadium der Nutzbarmachung der Naturkräfte durch technische Wissenschaft ist der Eintritt in das Atom-Zeitalter, und seit dem Abwurf der ersten Atombombe kann sich niemand mehr dem Dilemma des Fortschritts entziehen«. Das Dilemma bestand für Löwith darin, dass zwar die Technik unaufhaltsam fortschreite, aber die Menschen nicht moralischer oder vernünftiger geworden seien. In einem Stadium, in dem sie sich potenziell auslöschen könnten, liege das »Verhängnis« gerade in dem »ungeheuren Erfolg« der »fortschrittlichen Entwicklung«.Ebd., 24–27. Hier und im Folgenden sind die Hervorhebungen dem Original entnommen.Obschon Löwith nicht direkt über den Zusammenhang mit dem Christentum sprach, den er in Weltgeschichte und Heilgeschehen verfolgt hatte, schwang dieser in seinen Ausführungen mit, hatte er in dem Werk doch Geschichtsphilosophie auf ihre theologischen Voraussetzungen zurückgeführt, um zu verstehen, wie die Geschichte eine solch universale Geltung hatte erlangen können. Zu seinem philosophischen Fixpunkt wurde dagegen die griechische Antike, wofür Jürgen Habermas, der auch in Münster anwesend war, 1963 die treffende Bezeichnung »stoischer Rückzug vom historischen Bewußtsein« wählte.Jürgen Habermas, Karl Löwiths stoischer Rückzug vom historischen Bewußtsein, in: Merkur 17 (Juni 1963), 576–590.  Auch Adorno, dessen Beitrag letztlich den schlichten Titel Fortschritt hatte, ging der Genese des Fortschrittsdenkens nach, verteidigte aber (insbesondere mit Kant und Benjamin) eine Geschichtsphilosophie, in der der Fortschrittsbegriff noch seinen Ort hat – als Kontrapunkt zur Regression. In Kontrast zu Löwiths Ausführungen mochte dies geradezu ketzerisch geklungen haben, wie Adorno es Bloch angekündigt hatte. Immerhin hielt er noch am Fortschrittsdenken mit der Begründung fest, dass »[der Fortschritt] dem Triumph des radikal Bösen in die Parade fahren, nicht an sich selber triumphieren [will]. Denkbar ein Zustand, in dem die Kategorie ihren Sinn verliert, und der doch nicht jener der universalen Regression ist, die heute mit dem Fortschritt sich verbündet.«Theodor W. Adorno, Fortschritt, in: Die Philosophie und die Frage nach dem Fortschritt, 30–48, hier 48.Obschon Adorno und auch Löwith ihr philosophisches und theoretisches Denken »nach Auschwitz« eingerichtet hatten, benannten sie die jüngere Vergangenheit nicht, allerdings verwies Adorno im »radikal Bösen« und in »der universalen Regression« auf sie. 

Mit dem Bedürfnis die Kritik am Fortschrittsdenken zu hinterfragen war Adorno indessen nicht allein. Eine andere – in gewissem Sinn fundamentalere – »Ketzerpredigt« legte Blumenberg in dem Kolloquium zu »Säkularisation« vor. Lübbe und Blumenberg hoben beide darauf ab, dass Säkularisierung seinerzeit eine verfallsgeschichtliche Semantik zukam – sie wählten dafür aber recht unterschiedliche Wege: Während Lübbe ihre ideenpolitische Begriffsgeschichte aufzeigte, machte sich Blumenberg zum »Anwalt der Neuzeit«.Siehe dazu Arno Baruzzi, Säkularisierung. Ein Problem von Enteignung und Besitz, in: Philosophisches Jahrbuch 85 (1978), 301–316, hier 306.

 

Ideenpolitik 

Lübbe, der zu dem Kreis um Joachim Ritter gehörte, in dem wenige Jahre später das Historische Wörterbuch der Philosophie erarbeitet wurde, und sich damit im Feld der Begriffsgeschichte bewegte, widmete sich im Oktober 1962 nicht dem »Prozeß der Säkularisierung« selbst, sondern »der Geschichte des Funktionswandels des Säkularisierungs-Begriffes«.Hermann Lübbe, Säkularisierung als geschichtsphilosophische Kategorie, in: Kuhn/ Wiedemann Frage nach dem Fortschritt, 221–239, hier 221. In seinem Vortragsmanuskript kündigte er eine ausführliche Darstellung an, die 1965 unter dem ebenfalls auf den Vortrag passenden Titel Säkularisierung. Geschichte eines ideenpolitischen Begriffs publiziert wurde.Hermann Lübbe, Säkularisierung. Geschichte eines ideenpolitischen Begriffs, Freiburg/München 1965, 1975. In seiner späteren Studie bestimmte er den Topos der Ideenpolitik in der Philosophie mit geradezu programmatischem Pathos: »Nur zum Teil ist Philosophie die seriöse Theorie, welche im Sinne der Hegelschen ›Anstrengung des Begriffs‹ jenen kategorialen Fortschritt im menschlichen Wirklichkeitsverhältnis vollbringt, in den die begriffsgeschichtliche Forschung Einblick gewährt. Zum anderen, nicht kleinen Teil ist sie Praxis des Ringens um Werte im Geisteskampf –: Ideenpolitik.«Ebd., 21.

In seinem Referat skizzierte Lübbe ein Bedeutungsspektrum, von den »Verhandlungen zum Westfälischen Frieden«, während derer »secularsatio« zuerst aufgekommen und noch weitgehend neutral besetzt gewesen sei, über den Reichsdeputationshauptschluss im Jahr 1803, in dem »Säkularisation« eine Semantik der »Illegitimität« erhalten habe, bis zu geschichtsphilosophischen Positionen im 19. Jahrhundert, die nicht das Wort aber dessen Bedeutungsgehalt bedachten und verbreiteten, wie beispielsweise Hegel und Marx. Hier und im Folgenden: Lübbe, Säkularisierung als geschichtsphilosophische Kategorie, 221 ff.Danach habe sich eine »Partei der Säkularisierer« etabliert, bevor mit der »theologische[n] Zivilisationskritik der zwanziger Jahre« der »geschichtsphilosophisch[e] Fortschrittsbegriff der Zentralbegriff einer Theorie der Verfallsgeschichte« geworden sei. Säkularisierung habe in diesem Feld »die primäre Bedeutung einer Illegitimitätserklärung« zurückgewonnen. 

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es, Lübbe zufolge, auch zwei weitere Deutungstendenzen. Erstens habe sich Säkularisierung zu einem »soziologischen Struktur-Begriff neutralisiert«. Sie sei für jene Prozesse herangezogen worden, in denen die Religion sich aus anderen gesellschaftlichen Lebensbereichen des Menschen zurückgezogen habe. Zweitens sei der Begriff im Kulturprotestantismus aber auch zu einer Kulturdynamik christlicher Herkunft geworden. Das heißt, die Moderne werde als Resultat christlicher Vorstellungen gesehen, aber zugleich das Christentum, und dies meinte: der Protestantismus, zunehmend nur noch als Vorbedingung wahrgenommen. 1933 sei die Verwendung des Säkularisierungsbegriffs zurückgegangen, letztlich auch, weil mit ihm als »Emanzipationsparole […], Vorstellungen wie Liberalismus, Aufklärung, zivilisatorischer Fortschritt etc. assoziativ verbunden waren«. In den Jahren des Nationalsozialismus war, so ließe sich Lübbes Ausführung deuten, in dieser Ablehnung die auf die Aufklärung und das 19. Jahrhundert zurückverweisende Bedeutung des Säkularisierungsbegriffs wieder hervorgekommen. 

In der Nachkriegszeit, betonte Lübbe, habe der Begriff nicht nur wieder Verbreitung, sondern auch eine neue Bedeutung erlangt. Er sah darin erste Beispiele, »dessen, was später als sog. Bewältigung der Vergangenheit ideenpolitisches Schlagwort wurde. [...] [D]ie Kategorie der Säkularisierung spielt dabei eine zentrale Rolle als Fixativ eines geschichtsphilosophischen Schemas zur Genealogie gegenwärtiger Misere.« Der Säkularisierungsbegriff erhielt demnach also eine neue ideenpolitische Funktion: die Kompensation der jüngeren Vergangenheit. Entgegen einem weitverbreiteten Diktum, wonach »Luther – Hegel – Bismarck – Hitler« eine »konsequente Reihe« bildeten, suche die »Säkularisierungs-Genealogie«, »die Geschichte Deutschlands in ein gesamteuropäisches Schicksal zurückzubinden«. Mit dieser Genealogie sei verbunden, dass der Unterschied zwischen »Nationalsozialismus und Kommunismus« verschwinde, auch sei mit ihr »jene Zivilisationskritik« kompatibel, die etwa »als konservativ-revolutionäres Programm der Überwindung der Aufklärung und des 19. Jahrhunderts bereits nach dem Ersten Weltkrieg eine erhebliche Rolle gespielt hatte«. Obschon keine Namen genannt wurden, verwies das »konservativ-revolutionäre Programm« seit Armin Mohlers 1950 erschienener Studie unter (vielen) anderen auf Ernst Jünger, Oswald Spengler oder auch auf Carl Schmitt. Lübbe beließ es 1962 allerdings bei einer interpretationsoffenen Andeutung. Ihm ging es darum, dass der Gebrauch des Säkularisierungsbegriffs in diesem Bereich auch dazu beitrage über die Rolle der »Kritik des 19. Jahrhunderts […] im ideologischen Eklektizismus des Nationalsozialismus« hinwegzusehen. In Bezug auf den Säkularisierungsbegriff bedeutete dies eine Funktionsumkehr: Während nach 1933 als Grund für den Verwendungsrückgang die »Emanzipationsparole« hervorgehoben worden war, trat nun verstärkt die »Überwindung der Aufklärung« in den Vordergrund. 

Insgesamt spannte Lübbe ein Bedeutungsfeld von Säkularisierung auf, das der »Theorie der Verfallsgeschichte« andere, durchaus auch aneignende Narrative entgegensetzte, mit denen Säkularisierung selbst zum geschichtsphilosophischen Konzept wurde. Letztlich umkreiste die ideenpolitische Semantik von Säkularisierung, mit verschiedenen Wertungen, den »Progreß der säkularen Zivilisation« und blieb damit eben, auch wenn Lübbe das so nicht sagte, an den Geschichtsbegriffs des 19. Jahrhunderts gebunden. Nur »sprachgeschichtliche Untersuchungen, die den Säkularisierungs-Begriff als methodischen Leitfaden zur Erforschung der metaphernbildenden Kraft der Sprache des Glaubens benutzen«, sah Lübbe als Ausnahme von der ideenpolitischen Regel und leitete so implizit zu Blumenbergs Referat über, der 1960 mit seiner Schrift Paradigmen zu einer Metaphorologie in Erscheinung getreten war. In der Tat stimmten sie in der Funktion von Sprache überein, wichtiger aber noch war, dass Blumenberg die von Lübbe beschriebene »Ideenpolitik« seinen Ausführungen in anderer Form unterlegte. 

 

Kulturschuld 

Während Lübbe, obschon er die verschiedenen Wertungen zum Gegenstand hatte, sich selbst einer solchen zumindest vordergründig enthielt, stand ebendiese bei Blumenberg im Zentrum. Sein geradezu programmatischer Titel lautet »Säkularisation«. Kritik einer Kategorie historischer Illegitimität.Hans Blumenberg, »Säkularisation«. Kritik einer Kategorie historischer Illegitimität, in: Die Philosophie und die Frage nach dem Fortschritt, 240–265. Die folgenden Zitate sind aus diesem Aufsatz. In seinem Vortrag, der auch in Die Legitimität der Neuzeit einfloss, legte er zunächst dar, dass es ihm nicht um das theologische Feld gehe, dem die Klage, »die Welt [sei] immer weltlicher geworden«, zugehöre, sondern um »Säkularisation als historischer Kategorie«. Um deren »verschleierte« Bedeutung der Illegitimität aufzudecken, nahm Blumenberg eine strenge Definition von »Säkularisation« zum Ausgangspunkt, die er auf einen »ursprünglichen«, den »juristischen Bedeutungsgehalt« zurückführte, »also auf das Verfahren der Enteignung von Kirchengütern«. Blumenberg sah diese Bedeutung in den Verhandlungen zum Westfälischen Frieden begründet. 

Wenn auch nicht in allen inhaltlichen Feinheiten, so scheint sein Vortrag in der Begrifflichkeit mit Lübbes abgestimmt gewesen zu sein. Lübbe band allerdings die Bedeutung der Illegitimität vor allem an den Reichsdeputationshauptschluss. So zeigt sich in der Differenz, dass Blumenberg die definitorische Engführung einer »ursprünglichen« Bedeutung wohl nicht aufgrund von Authentizitätsbestrebungen vollzog. Darauf verweist nicht zuletzt auch eine Fußnote, die in seinem Vortragsmanuskript der Bedeutung kirchenrechtlicher »Enteignung« hinzugefügt ist. In dieser heißt es: »Das ganze Bedeutungsspektrum der von H. Lübbe aufgerollten Begriffsgeschichte ist also in den historischen Gebrauch nicht aufgegangen bzw. übertragen worden«. Allerdings, so Blumenberg weiter, schließe dies »nicht aus, daß nicht gelegentlich Säkularisation doch als historische Feststellung eines quantitativen Anteilsverhältnisses zwischen geistlicher und weltlicher Instanz, einer Kompetenzverschiebung zwischen transzendenter und immanenter Bindung auftritt«. Mit dieser Einlassung wurde Blumenbergs selektive Lesart der historischen Interpretationskategorie deutlich – mit der er ein bestimmtes Ziel verfolgte. Ihm ging es um ein, wie er es nannte, »ideologisches Moment«, worunter er ein »theoriefremde[s] Interesse« verstand, und zwar die »Implikation eines Schuldtitels«. Er ging davon aus, dass der Bedeutung von Säkularisation eine »Kulturschuld« – als neuzeitliches Eigentumsproblem – eingeschrieben war, der der Enteignungsvorgang der Kirche zugrunde lag, und er diagnostizierte: »Nicht zufällig eignet sich das Säkularisationssyndrom so gut für den kulturkritischen Betrieb, der auf der Suche nach möglichst entfernten Verantwortlichkeiten für das an der Gegenwart empfundene Unbehagen heute zu einem großen Teil darin besteht, über die Begründung der Neuzeit und die daran beteiligten Faktoren Schuldansprüche zu fällen«. Gegen die verdeckt-ideenpolitische Semantik einer »Kulturschuld«, richtete Blumenberg die ideenpolitische Gegenposition der »Legitimität der Neuzeit«. 

In seinem Vortrag legte Blumenberg dar, dass »Säkularisation« einem strengen »Merkmalskatalog« entsprechen müsse, den er dem juristischen Gebrauch entnahm: »a) die Identifizierbarkeit des enteigneten Gutes; b) die Legitimität des primären Eigentums; c) die Einseitigkeit des Entzuges«. Der »methodischen Beweislast« dieses Katalogs, und das ist Blumenbergs These, werde »die Verwendung der Kategorie Säkularisation gerade in ihren geläufigsten Formen […] nicht gerecht«. Eine dieser Formen sei ein »eindrucksvolle[s] und bekannte[s] Buch«, in dem »die Herkunft der historischen Fortschrittsidee aus der theologischen Eschatologie schlicht und knapp als bekannt bezeichnet werden« könne. Dass Blumenberg Weltgeschichte und Heilsgeschehen an dieser Stelle nicht einfach benannte, obwohl Löwith (wörtlich gesprochen) neben ihm saß, ist bezeichnend. Anstatt Löwith namentlich zu erwähnen, prüfte er seinen »Merkmalskatalog« am Fortschrittsbegriff, der eine »entscheidende formale Differenz« zur Eschatologie aufweise, »die Eschatologie redet von einem in die Geschichte einbrechenden, ihr selbst transzendenten und heterogenen Ereignis; die Fortschrittsidee extrapoliert von einer der Geschichte immanenten und in jeder Gegenwart mitpräsenten Struktur aus in die Zukunft«. Wichtiger aber noch sei die »genetische Differenz«. Der Fortschrittsgedanke sei nicht aus christlichen Vorstellungen hervorgegangen, sondern habe sich in anderen Bereichen ausgeprägt, damit sei das enteignete Gut nicht identifizierbar. Das Christentum habe antike Vorstellungen übernommen, was die Legitimität des primären Eigentums fraglich werden lasse. Auch sei es kein Entzug, weil sich »Eschatologie selbst historisiert« habe. 

Zu Blumenbergs Forderung der »Identifizierbarkeit des enteigneten Guts« gehörte seiner Ansicht nach auch eine »Umsetzung« der Substanz, der er eine »Umbesetzung« der »Bewußtseinsfunktion« anbei stellte, auf die die Interpretationskategorie »Säkularisation« nicht zutreffe. In dieser Differenz machte auch Blumenberg eine Übertragung im Fortschrittsdenken aus, indem er darlegte: »Die Fortschrittsidee als eine der möglichen Antworten auf die Frage nach dem Gedanken der Geschichte wurde, so könnte man sagen, in die Bewußtseinsfunkion der Eschatologie hineingezogen.« Die Rolle des Fortschrittsbegriffs im »Gedanken der Geschichte« zweifelte er also nicht an, nur, dass er aus dem Christentum hervorgegangen sei. Zugleich fand er exemplarisch bei »Proudhon, de[m] Theologen des Fortschritts (Löwith)« eine »theologisierende Sprache und Rhetorik«. Die »Revolution« habe sich »im Sprachgewand der Tradition« ausgedrückt und anhand dieses Befunds formulierte er eine neue These: »Die Konstanz der Sprache indiziert die Konstanz der Bewußtseinsfunktion, aber nicht einen genetischen Nexus der Inhalte.« Auch Säkularisation in ihrer spezifischen Definition war für Blumenberg möglich – auf sprachlicher Ebene war sie »metaphorisch«, nur beim »Fortschritt« waren ihre Merkmale eben nicht erfüllt. Insbesondere handelte es sich, wie er herausstellte, bei »Säkularisation« selbst um einen säkularisierten Begriff und er schloss seinen Vortrag mit dem Satz: »Insofern mag es zutreffend sein, von Säkularisation als dem letzten Theologumenon zu sprechen, das den Erben der Theologie das Schuldbewußtsein für den Eintritt des Erbfalls auferlegen will.« Zu Beginn der Ausführungen hatte Blumenberg die historische Interpretationskategorie von den explizit theologischen Deutungen abgegrenzt, zum Schluss deckte er deren »verschleierten« theologischen Gehalt auf. 

 

Umdeutungen 

Blumenberg und Lübbe wandten sich aus unterschiedlicher, kritischer Perspektive der Semantik von Säkularisierung zu. Lübbe resümierte, dass sie »keine Kategorie von hohen Würden«, sondern vor allem Schlagwort in ideenpolitischen Auseinandersetzungen gewesen sei.Lübbe, Säkularisierung als geschichtsphilosophische Kategorie, 239. Dabei arbeitete er die semantischen Verschiebungen heraus, die sich in verschiedener Wertung auf die »säkulare Zivilisation« richteten. Blumenberg verwarf hingegen die unterschiedlichen Prägungen des Begriffs der Säkularisation; nur eine ließ er gelten – den unrechtmäßigen Entzug. In Die Legitimität der Neuzeit ging er davon aus, dass »[d]as wesentliche Element der Kategorie ›Säkularisierung‹ […] die Übertragung dieses Momentes der Unrechtmäßigkeit« sei, in einer späteren Überarbeitung charakterisierte er sie als »Hintergrundmetaphorik«.Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit (1966), 20; Ders., Die Legitimität der Neuzeit (1988), 31. In der Ausblendung anderer Bedeutungen im Namen einer »ursprünglichen« Bedeutung im Oktober 1962 offenbart sich zweierlei: eine verdeckte Rückbindung von Säkularisation und damit auch von Säkularisierung an das Christentum und darin wiederum eine bestimmte Kondition der Neuzeit. Erst sie habe sich selbst infrage gestellt und zugleich verstehe sie sich – vermittels geschichtlicher Deutung – als neu. Durch die Neuzeit und ihren Anspruch an sich selbst wandelten sich die »geschichtlichen Voraussetzungen der geistigen Eigentumsvorstellungen«, nur noch »die selbsterzeugte Wahrheit ist die selbsteigene Wahrheit« und so übernehme auch der »Historiker […] aus der theologischen Selbstdefinition die mit dem Offenbarungsgedanken notwendig verbundene Setzung eines aus der vorhergegangenen Geschichte motivierten Anfanges, mit dem nicht nur eine neue, sondern auch eine endgültige Geschichtsformation beginnt«.Blumenberg, »Säkularisation«, 253 f.  Damit berührte Blumenberg noch jenen modernen Geschichtsbegriff, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts krisenhaft geworden war und suchte zugleich, ein ihm vormals zugehöriges historisches Verstehen aufrechtzuerhalten. 

In Bezug auf Blumenbergs 1962 nur angedeuteten Überlegungen zur Geschichte erscheint letztlich auch seine Fundamentalkritik an Löwith in einem anderen Licht. Nicht nur wird in Das Verhängnis des Fortschritts, gerade der Fortschritt in der Naturbeherrschung als »ursprünglich« ausgegeben und damit nicht ausschließlich auf das Christentum zurückgeführt, auch ist in Weltgeschichte und Heilsgeschehen der Begriff der Säkularisierung vor allem Mittel um die Maßlosigkeit der Geschichte zu verstehen. Anzunehmen ist, dass Blumenberg Löwiths Gedankengang ganz bewusst in diesem Punkt umdeutete. Zumindest zeigt sich in Bezug auf die Geschichtsreflexionen eine gewisse Nähe. Für Blumenberg hatte die Geschichtsphilosophie die einst von der Theologie besetzte »vakante Stelle« eingenommen. Löwith betonte in einer 1968 veröffentlichten Rezension zu Die Legitimität der Neuzeit, die er bezeichnenderweise mit dem Kongress 1962 eröffnete, dass auch er selbst darauf hinaus wollte, dass »alttestamentliche Prophetie und christliche Eschatologie einen Horizont von Fragestellungen und ein geistiges Klima geschaffen haben – im Hinblick auf die Geschichtsphilosophie einen Horizont der Zukunft und einer künftigen Erfüllung –, das den modernen Geschichtsbegriff und den weltlichen Fortschrittsglauben ermöglicht hat«.Karl Löwith, Besprechung des Buches Die Legitimität der Neuzeit von Hans Blumenberg. 1968, zit. nach: Ders., Sämtliche Schriften 2: Weltgeschichte und Heilsgeschehen, Stuttgart 1983, 452–459, hier 455. In Bezug auf diesen Aspekt könnten sich Löwith und Blumenberg – retrospektiv – eigentlich einig gewesen sein. So räumte Blumenberg bereits in der auf das Kolloquium folgenden Diskussion 1962 ein (wie im Protokoll festgehalten): »Daß mit der Behauptung eines Endziels der Geschichte eine für die Folgezeit maßgebende Vorentscheidung über die Erkenntnis des Geschichtsverlauf im ganzen gefallen sei, darin stimme er Löwith völlig zu.«Hermann Braun, Kolloquien – Diskussionsberichte: IV. Kolloquium, in: Die Philosophie und die Frage nach dem Fortschritt, 333–338, hier 337. Und genau diese Vorstellung des »Geschichtsverlauf[s] im ganzen« war zentral für Löwith.  

Bei aller pointierten Detailanalyse waren Blumenbergs Ausführungen im Oktober 1962 letztlich auch kritisch auf eine bestimmte Funktion des Säkularisierungsbegriffs gerichtet, durch die der Grund »für das an der Gegenwart empfundene Unbehagen« in »möglichst entfernten Verantwortlichkeiten« gesucht werden konnte, darauf, dass er, mit Lübbe gesprochen, »als Fixativ eines geschichtsphilosophischen Schemas zur Genealogie gegenwärtiger Misere« genommen wurde. Dagegen brachte Blumenberg das Neue der Neuzeit in Anschlag: die »Selbstbehauptung der Vernunft«.Blumenberg, »Säkularisation«., 253. In dieser ideenpolitischen Positionsbestimmung verwies er zugleich auf jene historische Konkurrenz von Theologie und Geschichte, die aus anderer Perspektive auch Löwith umkreiste, und deren Reste der Frage der Säkularisierung auch weit nach der Zerrüttung des modernen Geschichtsbegriffs und dem Ende des Kalten Krieges noch eingeschrieben sind. 

 

Inka Sauter 

Die Autorin promovierte zu Säkularisierung und Geschichtsdenken im frühen 20. Jahrhundert.