Systematisches

Bei Die Misere hat System: Kapitalismus handelt es sich um ein Lehrbuch zur Kapitalismuskritik, und wem die von den herausgebenden Gruppen gegen Kapital und Nation gepflegte Lesart des Kapitals bereits bekannt ist, wird hier keine große Überraschung erleben. Wer sie hingegen kennenlernen möchte, kann getrost zugreifen und wird auf eine Darstellung stoßen, die von einem positivistischen Missverständnis geprägt ist. Im Vorwort beschreiben die HerausgeberInnen ihr Vorgehen als den Versuch, von den »alltäglichen Phänomenen […] auf die Prinzipien der Gesellschaft zu kommen«, während Marx diese Phänomene umgekehrt »aus dem Wesen des Wertes« erklärt habe. Wer glaubt, so unterscheiden zu können, unterschlägt die Dialektik von Wesen und Erscheinung, die bei Marx eine zentrale Rolle spielt. Denn Marx war keineswegs in der Lage, das »Wesen des Werts« so voraus zu setzen, dass sich aus ihm heraus etwas erklären ließe. Diese Annahme kann nur pflegen, wer die ausgearbeitete Theorie bereits vor sich hat und immanente Kritik für unwesentlich hält. Das angekündigte Vorgehen bezeichnet also  eine Differenz zu Marx, vor allem aber eine zu den im Umfeld der Gruppen ansonsten üblichen Marx-Schulungen. Marx selbst hatte sich das Wesen nicht unmittelbar aus der Anschauung »der Phänomene« erschlossen, sondern aus der Kritik der bürgerlichen Versuche, es positiv zu fassen. Sein Begriff des Wesens ist negativ; Wesen und Erscheinung stehen in einer widersprüchlichen Beziehung zueinander, was es unmöglich macht, erklärend vom einen auf das andere zu schließen.

Ihren eigenen Versuch beschreiben die AutorInnen so aber zutreffend. Konsequenterweise ist vom Wesen des Werts im Folgenden dann auch nicht mehr die Rede. Stattdessen reden sie von »den Prinzipien […] des Systems«. Beides Ausdrücke, die im Gegensatz zu »Wesen« einen rational in sich geschlossenen, und somit immanent erklärbaren Zusammenhang unterstellen. Das Beharren darauf, einen solchen vor sich zu haben, ist daher auch ein wiederkehrendes Motiv des Buches. Regelmäßig wird darauf hingewiesen, dass gerade dieses oder jenes »erklärt« worden sei. Unterstrichen wird dies von einem Sprachstil, der immer wieder in die Simulation kindlicher Naivität kippt. Da finden »Menschen [...] lauter ökonomische Sachen toll«, und es werden »die Arbeiterklasse« oder »die eigentlich guten Prinzipien [...] kaputt gemacht«. Über die verständliche Absicht, ein Lehrbuch zunächst einmal einfach zu halten, geht das weit hinaus und erinnert mehr an den Wieso-Weshalb-Warum-Stil der Sesamstraße.

Warum dieser Stil gewählt wurde, darüber lässt sich am besten anhand des eklatanten Widerspruchs spekulieren, der zwischen dem zentralen Kapitel »Kapital – Geld 2.0« und der abschließenden Erörterung des Problems der Ideologiebildung besteht. In ersterem wird das »Prinzip« des Kapitals und seiner Akkumulation nahezu ausschließlich aus den Mitteln heraus dargestellt, die sich einzelne KapitalistInnen zu eigen machen müssen, um sich in der Konkurrenz zu behaupten. Es geht also um die Aufnahme von Kredit, um die Eigenarten produktiv investierten Geldes, um Effizienzsteigerung usw. Erörtert werden die Sorgen und Nöte einer Apfelmusfabrikantin, der es zunächst nur um Einkommen zur privaten Lebenshaltung geht, die aber auch Fabrikantin bleiben möchte, weswegen sie sich mit den Mitteln auch den Grund zu eigen macht, aus dem die Mittel entstehen.

Originell ist die mit diesem literarischen Kunstgriff erzeugte Spannung zwischen bedürfnisorientierter Absicht und bedürfnisfeindlicher Praxis zwar nicht. Aber die Realität ist auch nicht gerade Weltliteratur, und das Bild genügt, um zu zeigen, dass der Kapitalismus überindividuellen Zwang erzeugt und dieser sich auch begrifflich niederschlägt. In dieser Hinsicht ist das Kapitel lesenswert, wie andere Passagen auch.

Im letzten Kapitel kommt die Problematik des zu Grunde gelegten Erkenntnisideals jedoch vollends zum Tragen: »Wäre der Kapitalismus [...] einfach ein Fehler, dann wäre die Sache herrlich einfach. Mensch würde den Leuten ihren Fehler erklären, die würden sich an den Kopf fassen und sich fragen, warum sie da bisher selber nicht drauf gekommen sind […] und Wirtschaft und Gesellschaft vernünftig einrichten. So ist das aber nicht.« Das ist ehrlich, aber die Antwort auf die Frage nach dem »Zusammenhang von polit-ökonomischen Zwängen und falschem Denken« überzeugt nicht. Grund für Ideologiebildung sei, dass sich die Menschen »in ihre Arbeit hinein denken«. »Sie nehmen die Gedanken, die die alltägliche Praxis erfordert, als die Bestimmung der Sachen.«. Das könnte erst einmal so stehen bleiben, wenn nicht vorher von der alltäglichen Praxis der Kapitalistin laufend auf Erklärungen des Prinzips geschlossen worden wäre. Wenn aber ein und dieselbe Vorgehensweise einmal zu »richtigen Bestimmungen« des »gesellschaftlichen Prinzips«, das andere Mal aber zu »falschem Denken« führen soll, dann kann etwas an der zugrunde liegenden Vorstellung von Wahrheit nicht stimmen. Und dieses Problem erträgt sich naiv einfach besser.

JustIn Monday

Gruppen gegen Kapital und Nation: Die Misere hat System: Kapitalismus, Selbstverlag, Berlin2014, 203 S., € 2,50.