Tabuisierte Vergangenheit

Die DDR zwischen kollektivem Gedenken und individualisierter Erinnerung

Im Mai 1963 provozierte der Germanist Eduard Goldstücker die Regierungen der realsozialistischen Staaten. Goldstücker war der erste Botschafter der Tschechoslowakei in Israel und wurde 1951 in einem Folgeprozess des Slánsky-Prozesses in Prag zu einer lebenslänglichen Haftstrafe verurteilt. Nachdem er 1955 begnadigt worden war, lud er zur sogenannten Kafka-Konferenz, um die Rezeption des Kafkaeschen Werkes in den sozialistischen Länder anzuregen.

Bis zu diesem Zeitpunkt war der Abdruck und somit die Lektüre des Werkes von Franz Kafka in der DDR tabu. Man kann nur vermuten, was sich hinter den ablehnenden Verdikten des Kulturapparats der SED verbarg: Der überaus sensible Kafka hatte die Verfolgung des Menschen durch den Menschen und das Lagersystem vorausgesehen. Der Jude Kafka antizipierte den bald nach seinem Tod ausbrechenden antisemitischen Furor. Der Mensch Kafka antizipierte aber auch das stalinistische Lagersystem, das Individuum, das sich mit einer Anklage konfrontiert sieht, die es nicht versteht: das Todesurteil seiner Existenz.

Es stand zu befürchten, dass die potentiellen Leser in der DDR in Franz K. ihre eigenen Opfer erkannten: die Juden, denen sie zwischen 1933 und 1945 keine Existenzberechtigung mehr zugestanden und die sie ermordet hatten. Es stand aber auch zu befürchten, dass diejenigen unter ihnen, die als Kommunisten aus dem national-sozialistischen Deutschland hatten fliehen müssen und in der Sowjetunion Schutz gesucht hatten, sich daran erinnerten, dass nur ein Drittel von ihnen dieses Exil überlebt hatte.

 Ihr Problem bestand nicht nur darin, die von ihnen in der DDR Regierten nicht erfahren zu lassen, was ihnen im sowjetischen Exil widerfahren war. Vielmehr bestand es auch darin, dass der von ihnen propagierte Sozialismus in der Deutschen Demokratischen Republik nicht auf einer breiten revolutionären Bewegung fusste, sondern das Resultat eines militärischen Sieges über einen Landstrich war, dessen Bewohner bis zu ihrer Niederlage die Weltherrschaft erstrebt hatten und die Bevölkerungen der überfallenen Länder in ›lebenswert‹ und ›lebensunwert‹ eingeteilt hatten. Die zurückgekehrten Exilanten sollten über Mörder regieren. Die Männer (es waren keine Frauen unter ihnen), die am 30. April 1945 als Gruppe Ulbricht im heutigen Polen aus einem Flugzeug stiegen und dann nach Deutschland weiterfuhren, Streng genommen hat es sich um zwei Gruppen gehandelt. regiertern über Mörder, oder doch zumindest Duldner des großen Mordens, die den totalen Krieg gefordert oder sich doch zumindest angstvoll durch eine Epoche geduckt hatten, die insgesamt zwischen 50 und 60 Millionen Todesopfer kostete.

Verfolgt von der Vergangenheit?

Doch die Männer, die aus Moskau kamen, hatten von dort ebenfalls schwere Erinnerungen mitgebracht. Bald sollten sich ihre Wege trennen: Der jüngste von ihnen, Wolfgang Leonhard, floh 1949 über Jugoslawien in den Westen und wurde ein profunder Kommunismuskritiker, während der KPD-Funktionär Walter Ulbricht zum Spitzenpolitiker und Repräsentanten der DDR avancierte. Wolfgang Leonhard floh mit seiner Mutter Susanne Leonhard, die 1935 in die Sowjetunion gegangen und 1936 zu zwölf Jahren Lagerhaft verteilt worden war. Vgl. die Autobiographie von Susanne Leonhardt, Gestohlenes Leben. Schicksal einer politischen Emigrantin in der Sowjetunion, Frankfurt a.M. 1956.

 Fritz Erpenbeck, ebenfalls ein Mitglied der Gruppe Ulbricht, zog sich auf die Theaterarbeit zurück und schrieb Krimis, während seine Frau, die Schriftstellerin Hedda Zinner, erst in ihrer letzten Autobiographie aus dem Jahr 1989 dezent den Moskauer Schrecken andeutete, den sie und ihr Mann wie durch ein Wunder überlebt hatten. Vgl. Hedda Zinner, Selbstbefragung, Berlin 1989.

Diese Zurückhaltung war verständlich. Denn zum einen hatten sich diejenigen, die das russische Exil überlebt hatten, schuldig gemacht an den weniger Glücklichen, die nach der Verhaftung eines Familienmitglieds von ihnen gemieden wurden. Zum anderen mussten diejenigen, die jahrelange Lagerhaft überstanden hatten, eine Schweigeerklärung unterzeichnen, bevor sie in den fünfziger oder sechziger Jahren in die DDR ausreisen konnten, und waren in der Regel solchermaßen gebrochen, dass sie gegen dieses Schweigegebot nicht aufbegehrten.

 Recht bekannt und aufgearbeitet ist in diesem Zusammenhang mittlerweile das Schicksal der Erich Mühsam-Witwe Kreszentia, die in die SU gelockt und dort am 23. April 1936 zum ersten Mal verhaftet worden war. Im Oktober desselben Jahres im Pyjama aus der Haft entlassen, irrte sie durch Moskau, bat um Hilfe und musste die Erfahrung machen, dass Freunde und Genossen ihr die Tür vor der Nase zuschlugen. Ein völlig unpolitischer niederländischer Ingenieur, der sie schließlich aufnahm, musste seine Hilfsbereitschaft mit dem Leben bezahlen. Er wurde in ein Lager nach Kamtschatka deportiert und kam dort ums Leben. Frau Mühsam wurde 1938 erneut verhaftet und musste bis 1946 Zwangsarbeit verrichten. Nach ihrer Entlassung versuchte sie, auf das Gebiet der DDR auszureisen. Dies wurde von der SED-Genossin Grete Keilson verhindert und führte dazu, dass Kreszentia Mühsam noch einmal in die Gegend von Novosibirsk verbannt wurde. Erst 1954 traf sie in Ostberlin ein, wo sie sich über ihre Erlebnisse nicht äußern durfte. denn sowohl der Umgang mit der Beteiligung der Deutschen am Nationalsozialismus als auch das Verhältnis zur Schuld an den eigenen Genossen erforderte ein beeindruckendes Gespinst aus Schweigen, Lüge und Verdrängung. »Habe ich in meiner Reportage gelogen?« Und: »Haben die Frauen wirklich nichts anderes von Sibirien erzählt?« fragte sich die DDR-Schriftstellerin Elfriede Brüning erstaunt, als sie Ende der achtziger Jahre ihre eigene Reportage von 1948 über Frauen und Mädchen wieder las, die aus einem sowjetischen Straflager nach Pirna gebracht worden waren. Denn in diesem Artikel »[...] ist vom Beerenreichtum Sibiriens die Rede, von den intensiven Sommern des Komi-Gebietes, die die vielfältigsten Früchte hervorbrächten, von der Mitternachtssonne, dem Nordlicht, vom Flößen des Holzes auf dem Fluss ...«. Elfriede Brüning, Lästige Zeugen? Tonbandgespräche mit Opfern der Stalinzeit, Halle 1990, 8. Elfriede Brüning kam zu dem Schluss, dass sie nicht bewusst gelogen habe, denn die Frauen hätten nichts darüber berichtet, wie sie nach Sibirien gekommen waren. »Sie selber schwiegen darüber,« schreibt sie, »wie ja auch die noch geschwiegen haben, die erst später, in den fünfziger Jahren, aus der Sowjetunion zu uns kamen.« Ebd., 9.

Nach und nach waren auch die sogenannten Westemigranten nach Deutschland zurück gekommen und hatten sich als Kommunisten in der DDR niedergelassen, um am Aufbau teilhaben zu können. Sie hatten den Nationalsozialismus in Übersee (Mexiko, USA), in Frankreich oder in der Schweiz überlebt und sich dort – das befürchtete der im Herbst 1949 gegründete Sonderausschuss der Zentralen Parteikontrolle unter Herta Geffke – möglicherweise an die freie Diskussion gewöhnt, falschen Kunst- und Kulturanschauungen gehuldigt und waren mit den falschen Leuten in Berührung gekommen. Die Zentrale Parteikontrolle verlangte von allen ehemaligen Westemigranten detaillierte Lebensläufe und lud sie vor. Dies hatte bereits eine Reihe von Selbstmorden (z.B. von Rudolf Feistmann oder Paul Bertz) zur Folge. Später gab es Degradierungen, Entlassungen, Parteiverfahren und Gefängnisstrafen. Ein Schauprozess mit Paul Merker auf der Anklagebank wurde vorbereitet.

Dass ausgerechnet Paul Merker für die Rolle des Hauptangeklagten vorgesehen war, war kein Zufall. Denn der ehemalige Vorsitzende der KP-Gruppe im mexikanischen Exil hatte sich nicht nur gegen das Bündnis der Sowjetunion mit Spitzen der Hitler-Wehrmacht gewehrt, wie es unter dem Namen Nationalkomitee Freies Deutschland 1943 in der UdSSR zustande gekommen war, er war auch insofern ein abtrünniger deutscher Kommunist gewesen, als dass er den Deutschen den Holocaust nicht verzieh. Auf Ministerposten leitete Merker davon eine Reihe von pro-jüdischen Forderungen, wie bedingungslose Entschädigung der Bestohlenen, ab, die ihm zum Verhängnis wurden und für einen Prozess prädestinierten, der nach dem Tod Stalins im März 1953 allerdings nicht mehr zustande kam.

Es sind also zwei Phasen der Eliminierung bzw. Unschädlichmachung von potentiell kritischen Kommunisten zu verzeichnen: Die erste Verfolgungswelle fand Mitte bis Ende der dreißiger Jahre gegen diejenigen statt, die sich in die Sowjetunion geflüchtet hatten. Die zweite setzte in der DDR mit der Staatsgründung 1949 ein und zog sich über die frühen fünfziger Jahre hin, wobei ihr Höhepunkt in die Jahre 1952 und 1953 fiel.

Lügen lernen

Wer übrig geblieben war, war biegsam und Realpolitiker genug, um Regierungsgewalt auszuüben und in Verbänden und Institutionen zu sitzen, denen es nicht nur maßgeblich darum ging, über die eigene Geschichte zu lügen, sondern auch darum, die DDR-Bevölkerung von ihrem Anteil der Verantwortung für den Nationalsozialismus und den Holocaust zu entlasten. Zu diesem Zweck war bereits zu Exilzeiten das sogenannte »Andere Deutschland« beschworen worden, ein vorgeblich antifaschistisches Bündnis aus kämpfenden anständigen Patrioten innerhalb des Deutschen Reiches und kommunistischen Exilierten unter Anleitung der militärisch siegreichen Sowjetunion. In dieser 1935 zum ersten Mal öffentlich proklamierten Volksfrontideologie waren die Kommunisten von proletarischen bzw. sozialistischen Kunstauffassungen abgerückt, hatten zur Rettung des deutschen Vaterlandes aufgerufen und zu diesem Zweck auf dessen bürgerliche Kulturtradition zurückgegriffen. Ein Volk, das Beethoven und Goethe hervorgebracht habe, könne nicht wirklich schlecht sein. So lautete die Grundthese von Kommunisten, die nach 1945 auch den schuldigen Deutschen unterstellen musste, sie hätten aus fehlgeleitetem Patriotismus gehandelt und könnten sich nun mit besserer Einsicht dem gemeinsamen Aufbauwerk zur Verfügung stellen.

Die Flucht in die deutsche Kulturnation

Man tat, als habe die Barbarei des Hitlerfaschismus eine bürgerlich-humanistische Epoche abgelöst, zu der man nun gemeinsam – ehemalige Verfolger wie Verfolgte – zurückkehrte. Daher erstaunt es nicht, dass der mit der Roten Armee nach Berlin gesandte Oberst Tjulpanow, zwischen 1945 und 1949 oberste kulturpolitische Instanz auf dem Gebiet der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und Vertreter der Sowjetischen Militäradministration, ein ausgezeichneter Kenner der deutschen Klassiker war und perfekt Deutsch sprach. Tjulpanow ging es in erster Linie darum, das deutsche Theaterleben wieder in Gang zu bringen, das Publikum seine Alltagssorgen für eine Weile vergessen zu lassen und es mittels der deutschen humanistischen Kulturtradition zu erziehen: Das erste Stück, das 1945 im Deutschen Theater gegeben wurde, war Lessings Nathan der Weise.

Der Kommunist Johannes Robert Becher, der das sowjetische Exil überlebt hatte, bemühte sich um bürgerliche Verbündete, sogar um den Dichter Gerhart Hauptmann, der mit dem Nationalsozialismus offen sympathisiert hatte, und trug ihm den Vorsitz des Kulturbundes an. Das Gründungsjahr der DDR, 1949, wurde gleichzeitig als Goethe-Jahr begangen. Es konnte als großer Erfolg verbucht werden, dass Thomas Mann auf seiner Deutschlandreise auch die SBZ nicht ausnahm und im August 1949 in Weimar die Goethe-Medaille entgegennahm. Seinem noch im US-amerikanischen Santa Monica lebenden Bruder Heinrich wurde im Folgejahr die Präsidentschaft der Akademie der Künste übergeben und mit seiner Übersiedlung auf das Gebiet der DDR gerechnet. Allerdings starb Heinrich Mann, bevor er diesen Plan in die Realität umsetzen konnte. 1950, das Todesjahr von Heinrich Mann, wurde wiederum als Bach-Jahr begangen, 1952 wurde Beethoven gewidmet, 1955 gab es ein Schiller-Jahr, und 1983 sollte es durch die DDR-Führung gar zu einer offiziellen positiven Umwertung des Juden- und Bauernfeindes Martin Luther kommen.

Diese deutsche Bevölkerung, die wieder Schillers Glocke rezitierte und sich als wieder vereinigtes Bündnis zwischen echten und ehemals fehlgeleiteten Patrioten verstand, das sich auf der Basis gemeinsamer Liebe zum deutschen Vaterland und seiner Kulturtradition zusammengefunden hatte, wurde nur selten damit belästigt, an seine unmittelbare Vergangenheit denken zu müssen. Als Sieger der Geschichte präsentierten sich diejenigen Kommunisten, die ihr Exil in der Sowjetunion und die frühen fünfziger Jahre in der DDR überlebt bzw. überstanden hatten. Sie reklamierten, sie alleine wären es gewesen, die (unter Anleitung der Sowjetunion) gegen den Nationalsozialismus, durchgängig Faschismus genannt, gekämpft hätten. Sie gerierten sich als Retter des deutschen Vaterlandes, in dem der ermordeten Juden, wenn überhaupt, nur beiläufig gedacht wurde.

 Streng unterschied die SED zwischen OdF, also sogenannten Opfern des Faschismus, die diesen passiv erlitten hatten, und Kämpfern gegen den Faschismus. Die meisten der Juden, die auf dem Staatsgebiet der DDR überlebt hatten (das waren rund tausend Menschen), verließen die DDR fluchtartig, nachdem ihre Daten 1952 erfasst worden waren und ihnen klar geworden war, dass unter dem Deckmantel des Antizionismus insbesondere gegen die jüdischen ehemaligen Westemigranten vorgegangen werden sollte. Im Januar 1953 floh auch der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde in Ostberlin, Julius Meyer, nach Westberlin, wo sich bis März 1953 556 jüdische Flüchtlinge meldeten. Die VVN, die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes, eine Vereinigung mit zahlreichen jüdischen Mitgliedern, wurde in diesem Jahr auf dem Gebiet der DDR verboten. Und noch am 3. Dezember 1989 notierte die Schauspielerin Steffie Spira, also zu einem Zeitpunkt, als das Ende des Staates DDR absehbar war, in ihrem Tagebuch: »Nun versteht man, ich wenigstens, warum auch in diesem Jahr auf dem Bebelplatz nicht der sechs Millionen gemordeter Juden gedacht wurde, sondern seit Jahren immer nur Widerstandskämpfer gedacht wurden.« Steffie Spira, Rote Fahne mit Trauerflor. Tagebuch Notizen, Freiburg i.B. 1990, 118.

Bis zu diesem Tag hatte es in der DDR auch keinen Tag des Gedenkens an den Holocaust gegeben, aber der 29. November galt als Internationaler Tag der Solidarität mit dem palästinensischen Volk.

Es ist davon auszugehen, dass die DDR-Regierung keinerlei Interesse daran hatte, der jüdischen Fluchtwelle von 1952/53 Einhalt zu gebieten. Aus ihrer Sicht passten diese Menschen genauso wenig in das postnationalsozialistische, deutsch-nationale Staatsgebilde DDR wie Kafka in den kulturellen Überbau.

Allein geblieben mit der Erinnerung

Und es gab weitere Menschen, denen eine Existenz unmöglich gemacht wurde in der DDR: Der Schriftstellerin Johanna Moosdorf beispielsweise. Johanna Moosdorf hatte sich durch ihre 1932 erfolgte Eheschließung mit Paul Bernstein »jüdisch versippt« und kämpfte sich mit ihrem Mann und zwei Kindern durch die folgenden Jahre. Während Paul Bernstein 1944 in Auschwitz ermordet wurde, konnte Johanna Moosdorf ihre beiden Kinder, die als »Halbjuden« galten, retten, indem sie in das als »judenrein« proklamierte Sudetengebiet floh, wo nicht mehr gefahndet wurde. In den unmittelbaren Nachkriegsjahren wurde Johanna Moosdorf, von einem Nervenzusammenbruch genesen, Chefredakteurin der Zeitschrift März, die 1948 wegen kosmopolitischer Tendenzen verboten wurde. 1950 floh die Autorin nach Westberlin, wo sie bis zu ihrem Tod im Jahr 2000 lebte und arbeitete. Vgl. Johanna Moosdorf, Jahrhundertträume, Frankfurt a.M. 1989.

Oder Walter Hösterey alias Walter Hammer, ehemaliges Mitglied der Wandervogelbewegung und Pazifist, dem es 1933 gelungen war, nach Amsterdam zu fliehen, der 1940 aber von der Gestapo in Dänemark aufgegriffen worden war. Walter Hammer hatte fünf Jahre im Konzentrationslager Ravensbrück und im Zuchthaus verbracht. 1948 wurde er Leiter des Forschungsinstitutes und des Archivs Deutscher Widerstand Brandenburg, musste die DDR aber verlassen, nachdem das Institut 1950 geschlossen worden war. Ein Umstand, der Rückschlüsse darauf zulässt, dass die SED in keiner Weise daran interessiert war, Widerstandsaktionen von Menschen erforschen zu lassen, die trotzkistischen Gruppierungen, ideellen wie dem Internationalen Sozialistischen Kampfbund (ISK) oder Abspaltungen von KPD und SPD wie Kommunistische Partei Opposition (KPO) oder Sozialistische Arbeiterpartei (SAP) angehörten.

Genauso wenig bestand ein Interesse daran, sich mit weiteren Opfergruppen des Nationalsozialismus zu beschäftigen. Es war ein einzelner freiberuflicher Journalist, Reimar Gilsenbach, der den Umstand zu skandalisieren suchte, dass von den schätzungsweise 300 bis 600 Sinti, die auf dem Staatsgebiet der DDR lebten, nur die wenigsten als Verfolgte des Naziregimes anerkannt wurden. Finanzielle Unterstützung war darüber hinaus nur denjenigen zuerkannt worden, die 1945 bei einem Arbeitsamt gemeldet waren.

Oder Homosexuelle. Homosexualität unter Erwachsenen wurde in der DDR erst Ende der fünfziger Jahre nicht mehr geahndet. Es gab allerdings auch danach keine Erwähnung der Tatsache, dass schwule Männer während des Nationalsozialismus in Konzentrationslager eingeliefert worden waren. Der erste und einzige Spielfilm der gesamten DDR-Geschichte zum Thema Homosexualität (von Heiner Carow) lief am 9. November 1989, also zu einem Zeitpunkt, als die DDR faktisch nicht mehr existierte.

Wer während der vorangegangen vierzig Jahre versucht hatte, dem in der Gesellschaft durchgesetzten Vorgaben zu widersprechen, indem er oder sie »formalistisch« komponierte, »kosmopolitische« Lyrik schrieb oder den Nationalsozialismus zu erforschen suchte, indem er dessen vorrangig antisemitische Ausrichtung in den Focus stellte, sah sich einem Apparat gegenüber, für den noch im letzten Jahr der DDR geschätzte 90.000 bis 100.000 Mitarbeiter auf haupt- oder nebenberuflicher Basis tätig waren.

 Doch da der autoritäre Charakter seinen Bewacher liebt, holt er ihn sich zurück. »Ja«, bekannte beispielsweise Axel Henschke, Landtagsabgeordneter von der Partei die Linke in Frankfurt an der Oder im Oktober 2009 gegenüber Spiegel Online, »er sei ein Täter gewesen. Er habe als Hauptamtlicher Häftlinge der Stasi bewacht, als Inoffizieller Berichte geschrieben, als FDJ-Funktionär traf er Jugendliche, die nicht wussten, dass er heimlich ein Tonband mitlaufen ließ. Er hätte sich ›in Grund und Boden geschämt‹. Aber Grund und Boden haben ihn eben nicht verschluckt.« Stefan Berg, Rot-Rot in Berlin. »Guten Tag, ich bin das Stasi-Schwein«, Spiegel Online vom 17. Oktober 2009.

~Von Birgit Schmidt. Die Autorin studierte Literaturwisschenschaft und lebt in Berlin.