“The future will be a better tomorrow.” George W. Bush

Zur Theorie und Praxis der Utopie - der out of this world-Kongress

Auch Präsidenten haben Visionen, und auch sie haben noch lange nicht die Möglichkeiten, sie umzusetzen. Unterstellen wir George W. Bush doch einfach mal, dass auch er von einer besseren Welt träumt, einer, in der es keine Reiche des Bösen mehr gibt, in der ein Amerika kultureller Diversität armutsfrei doch fleißig vor sich hin brummt. Unterstellen wir, dass er lieber Captain der Enterprise wäre, in einem 24. Jahrhundert, in dem es kein Geld geben muss, damit Menschen und Menschen mit Stirnhöckern gleichermaßen zufrieden ihrem Tagewerk nachgehen und dankbar sind, in der großen Familie einer friedensbringenden Militärmacht aufgehen zu dürfen. Unterstellen wir, dass es nicht nur den amerikanischen Traum gibt, sondern auch den amerikanischen Träumer, der das amerikanische Utopia erschafft, in dem wir Linken – geben wir es doch zu – uns auch ganz heimisch fühlen könnten.
Nicht nur das Zitat, auch dessen Urheber war also gut gewählt zum Auftakt des zweiten Out of this world-Kongress, der vom 31. Mai bis 2. Juni 2002 in Bremen stattfand. Damit hier nicht der Eindruck entsteht, die knapp hundert TeilnehmerInnen des Kongresses zu Utopie und Science Fiction wären glücklich im Zustand visionärer Verklärung entschwunden, sei jedoch gleich vorweg gesagt, das genau dieser Zustand hier zum Gegenstand treffender Kritik wurde – und das nicht nur seitens der Veranstalter.
 

Das revolutionäre Suspekt

Bei aller Berechtigung der Frage, wie weit linksradikale Theorie überhaupt über die Kritik des Bestehenden hinausweisen kann, hat sie sich doch das Interesse an der Beschaffenheit der Zukunft nicht ganz austreiben lassen, dass sie mit der Science Fiction teilt. Tatsächlich ist ja allein dieses Interesse auch noch nicht gleichbedeutend mit der Suche nach dem revolutionären Subjekt oder gar der perfekten Gesellschaftsform. Dieses Interesse teilen eher Leninismus und literarische Utopie, die nicht ohne Grund von der Science Fiction abzugrenzen ist, auch wenn beide gerne Welten bauen.
Die Frage, wie positiv linke Kritik sein kann, ohne entweder in totalitäre Ideologisierung oder konstruktive Teilhabe an der wertförmigen Vergesellschaftung zu betreiben war es letztlich, die auch die Hauptveranstaltung des Kongresses umtrieb. Verhandelt wurde sie anhand sowohl literarischer Beispiele, als auch an klassischen realpolitischen Nischenprojekten. Allen diesen Gegenständen war gemein, dass sie sich im Grenzfeld zwischen utopischer Projektion und realpolitischer Umsetzbarkeit bewegten. Wohlgemerkt ist mit dem Aufenthalt in diesem Kontinuum noch nicht radikale Gesellschaftskritik garantiert.
 

Das literarische Suspekt

Zu den literarischen Utopien lässt sich festhalten: Je perfekter, desto suspekter. Science-Fiction-Leser wissen, wie schnell noch die gutgemeinteste sozialistische Utopie in den Totalitarismus der einen großen Idee umschlägt. Gemein ist den allzu funktionierenden Utopien, dass gerade ihr hervorragendes Funktionieren darauf basiert, dass jeder ihrer Teilhaber ein Einsehen in die absolute Notwendigkeit des vorherrschenden Lebensstils hat. Notwendige Arbeit wird nicht nur erledigt, sondern als Erfüllung aufgefasst, die totale Unterordnung unter das Gemeinwesen wird allzu oft zum Nirvana des Diesseits stilisiert. In solchen Utopien können Konflikte nur von außen, durch Fremdkörper, eingebracht werden. Die Logik ihrer Austragung ist demgemäss eine der Eliminierung des verfälschenden Elements. Perfekte Utopien sind meistens jene, die ihre Lebensart nur gegen äußere Feinde verteidigen müssen, da sie keine inneren Widersprüche kennen. In diesem Sinne ist auch die Idealvorstellung der bürgerlichen Gesellschaft, in der jeder seine Selbstverwirklichung durch Arbeit erfährt, eine Utopie. Zwar kann ihr angestrebter Zustand des Ausgleichs niemals erreicht werden, dennoch kann die Verfolgung ihrer Utopie nur zur unerquicklichen Fortsetzung ihrer Realität führen. Als Antwort auf die perfekten Utopien, mögen sie auch gut gemeint sein, bleibt also nur höfliche Zurückweisung.
Glücklicherweise ist die widerspruchsfreie Utopie nicht gerade die verbreitetste Unterart der Science Fiction. Kein Wunder, schließlich ist sie tödlich langweilig. Entsprechend interessanter war auch die Auswahl der Romane, mit denen auf dem Kongress gearbeitet wurde: Ursula K. LeGuins Klassiker “Planet der Habenichtse” von 1974 ist definitiv Kind seiner Zeit und verhandelt durchaus ergiebig die Blockkonfrontation. LeGuins Kritik am Realsozialismus ist einfach und ergiebig, und ihr anarchistisches Utopia auf dem kargen Mond Anarres hat etwas von einer Hausbesetzergemeinschaft. Anarres ist in seinem Isolationismus und mit seinen sozialen Zwangsmechanismen sicher nicht perfekt, dennoch handelt es sich um ein positives Gegenbild zum Kapitalismus. Auffällig ist, dass wir es mit einer Utopie der Notwendigkeit zu tun haben: da der Mond Anarres im Prinzip Lebensfeindlich ist, basiert sie auf der vorrausgesetzten Einsicht aller in die Richtigkeit des eigenen Projekts. LeGuin schwankt zwischen der Versuchung, die perfekte Gesellschaft zu konstruieren und der notwendigen Selbstkritik dieser Gesellschaft. Was dabei leider auf der Strecke bleibt, ist die Kritik am Kapitalismus. Die beschränkt sich, auch bei der selbstkritischen Utopie, nämlich letztlich auf eine Gegenüberstellung seines Zustandes mit dem utopischen Zustand, ohne diese Zustände tatsächlich analysieren oder erklären zu können. Die Historizität geht damit insofern verloren, dass mit der Utopie eine Perspektive gesetzt wird, die scheinbar losgelöst von den Verhältnissen existiert, in denen sie entsteht, und die ja genau die kapitalistischen sind. Gerade “Planet der Habenichtse” kann seine historische Herkunft allerdings kaum verleugnen. Auch die selbstkritische Utopie scheint also kein geeignetes Instrument der Kritik der bürgerlichen Gesellschaft zu sein, zumindest, wenn Kritik als etwas verstanden wird, dass über eine reine Meinungsbekundung hinausgeht.

Durchaus als Fortentwicklung des LeGuinschen Ansatzes lässt sich Kim Stanley Robinsons Mars-Trilogie lesen, die während der 90er Jahre entstanden ist. In drei Bänden macht der Autor den Gesellschaftsbaukasten auf und bedient sich eklektizistisch bei Sozialismus, Anarchosyndikalismus und der Vorstellung von systemüberwindenden Reformen. Dabei vermeidet er angenehmerweise die Simplifizierung durch Isolationismus. Die Fortentwicklung der Erde wird mit der der utopischen Mars-Gesellschaft verwoben, so dass diese keinesfalls zum abgeschlossenen Universalprojekt werden kann. Dazu ist Robinsons Utopie eine der Entwicklung, die auf keinen logischen Endpunkt abzielt, sondern vom Bemühen gekennzeichnet ist, Zwangs- und Notverhältnisse zu minimieren. Freilich bedient auch er sich jedoch zumindest zu Beginn des literarischen Tricks der lebensfeindlichen Umgebung, die ein primäres Grundeinverständnis in das gemeinsame Projekt erzeugt. Insgesamt bietet Robinsons Trilogie durchaus Anknüpfungspunkte für linke Kritik an den herrschenden Verhältnissen: Problematisiert wird hier nicht nur, dass die Gesellschaft nicht einem bestimmten Ideal entspricht, sondern die Art und Weise, in der sie Zwang und Herrschaft produziert.
 

Das verkörperte Suspekt

Gewissermaßen zum Gegenlesen präsentierte das Podium am Freitagabend auch zwei Vertreter realexistierender Utopismen. Während die Nachrichten aus Christiania, einer Kooperation in Dänemark mit lokaler Währung, eher ernüchternd ausfiel, ließen zumindest die Fürsprecher der GPL(General Public License)-Gesellschaft vom Netzwerk Oekonux Grund zur Hoffnung. Christiania, dem fleischgewordenen Hippie-Traum, ist sicher durchaus ein friedfertig-spießiger Charme zuzutrauen. Es gibt auch kaum Gründe, ein Projekt abzulehnen, dass sich mit der Lokalisierung von Waren- und Geldströmen beschäftigt, indem es Lokalgeld herausgibt (Sieht man mal von dem Verdacht des strukturellen Antisemitismus ab, der das Feindbild Großkapital bekanntermaßen teilt und die Lokalisierung von Wirtschaft ebenso gern hat wie konkrete Arbeit und ihren Wert). Modellcharakter kann es jedoch schon deshalb nicht haben, weil es bereits als Nische innerhalb des realexistierenden Kapitalismus angelegt ist und seine Grundstrukturen im kleineren Maßstab nachvollzieht. Das mag netter und überschaubarer sein, anders ist es nicht. Besonders deutlich wird das daran, dass Christiania sich seine Lokalwährung durch Pfund decken lässt. Das ist notwendig und gut so, da es gewährleistet, dass das Projekt jederzeit zum gleichen Preis wieder verlassen werden kann. Mehr als Selbstverwirklichung ist damit jedoch nicht drin. Konkrete Entzwanglichung also, die jedoch gerade an den spezifischen Zwängen des Kapitalismus mit Haut und Haaren hängt.
Die Vorstellung einer GPL-Gesellschaft basiert auf der aktuellen Entwicklung freier Software. Freie Software wird ohne Bezahlung hergestellt und entsprechend gratis vertrieben. Da die Programmierer freier Software problemorientiert arbeiten, sind die entsprechenden Produkte meistens von überdurchschnittlich hoher Qualität. Den GPL-Fans von Oekonux muss man mit Sicherheit einräumen, dass sie einen Typ immaterieller Arbeit geortet haben, der sich der wertförmigen Vergesellschaftung tatsächlich ein Stück weit zu entziehen scheint. Die Schlussfolgerung, dass Free Software zur Keimzelle einer neuen Gesellschaft werden könne, in der Produktion und Konsumtion allein auf Kreativem Drang und Bedürfnis beruhen erscheint jedoch mehr als nur etwas überhöht. Mag Free Software auch mittlerweile eine bedeutende Größe auf dem Informationsmarkt sein, ist sie letztlich trotzdem genau das: Eine Größe auf dem Informationsmarkt. Dieser Markt wird jedoch weiterhin auch auf der Beschränktheit von Zugriff beruhen und darauf, das Informationszugriff bezahlt wird. Ganz abgesehen davon ist die postulierte Informatisierung von Produktionsprozessen zwar Tatsache. Fraglich ist aber doch, ob durch diese Informatisierung auch die beliebig verfielfältig- und verschickbare Qualität von Bits und Bytes auf andere Warenformen übertragbar wird. Genau diese Qualität gibt jedoch den Ausschlag für die Entwicklung von Free Software. Letztlich gilt auch hier, dass die GPL-Gesellschaft eine (wenn auch nicht geographisch abgegrenzte) Nische innerhalb des Kapitalismus darstellt, die ohne sein Funktionieren ebenfalls zusammenbrechen würde. Neu ist tatsächlich, dass im Bereich der Free Software Gebrauchswerte geschaffen werden, wie sie der Kapitalismus sonst nur im Rahmen von Arbeit hervorbringt.
Auch wenn Free Software nicht gerade die Keimzelle der neuen Gesellschaft ist, bietet sie doch einen weit brauchbareren Standpunkt für die Kritik des bestehenden als Christiania: Die Feststellung, dass in gewissen Bereichen weitgehend zwangsfreie Produktion von Gütern und kostenfreie Befriedigung von Bedürfnissen möglich ist erlaubt die Frage, warum es nicht überall so sein kann. Eine Untersuchung des Kapitalismus auf diese Frage hin fördert die Strukturen zutage, die Gegenstand der Kritik sein müssen.
 

Die suspekte Utopie

Wieder bei der Science Fiction angelangt stellt sich die Frage nach der Produktion kritikprovozierender Texte beziehungsweise der Produktion entsprechender Lesarten. Wenn die Relevanz der Science Fiction darin liegt, Kritik an den bestehenden Verhältnissen hervorbringen zu können, die über ein bloßes Gegenüberstellen von Gesellschaftsformen hinausgeht, sondern stattdessen in die Tiefe reicht, sollte sie sich dann überhaupt der Utopie befleißigen? Kann die Utopie letztlich mehr behandeln als die Ausdrucksseite der Gesellschaft? Der SF-Autor Marcus Hammerschmitt äußerte sich auf dem Kongress dahingehend, dass es Aufgabe der Science Fiction sei, die Verhältnisse “zur Kenntlichkeit zu entstellen”. Damit wäre sie ein satirisches Projekt, eine Form der Überspitzung von Wirklichkeit. Auch die Satire übt sich jedoch kaum im über die Verhältnisse hinausweisen, sie kritisiert die Gesellschaft viel eher an ihrem eigenen Ideal und trägt oft die gute Hoffnung unter dem Herzen, sie möge diesem Ideal doch eines Tages entsprechen. Sie ist insofern nicht zu verwechseln mit der Dystopie, die der Utopie am nächsten steht, da sie ebenfalls die reine Herrschaft einer bestimmten Idee beschreibt. Demgemäss sind Utopie und Dystopie zuweilen auch recht schwer voneinander zu unterscheiden.
Das “Entstellen” ließe sich aber auch als Dislokation lesen, und hierin wird die Science Fiction als Träger von Kritik am wirksamsten: Indem sie bekannte Grundannahmen über die Gesellschaft in unbekannte Gefilde verlagert, oder aber umgekehrt durch das Entfernen oder Verzerren von Grundannahmen die Gesellschaft zu einer uns unbekannten macht. Eine solche literarische Praxis macht, wenn sie gelingt, die Kontingenz des kapitalistischen Zusammenhangs deutlich und stellt seine überhistorische Schlüssigkeit damit in Frage. So gesehen steht die radikale Kritik in der Science Fiction dem Dekonstruktivismus nahe: An keinem anderen literarischen Ort lassen sich die Kategorien Arbeit, Wert und Geschlecht so anschaulich und radikal in Frage stellen (Wer´s nicht glaubt, sollte sich Bücher wie “Trouble on Triton” von Samuel Delany oder “The Female Man” von Joanna Russ vornehmen). Im luftleeren Space macht so ein Unterfangen jedoch recht wenig Sinn. Michel Focault etwas entstellend, möchte ich deshalb die Heterotopie als zentralen literarischen Raum der radikalen Kritik ins Feld führen: Focault bezeichnet mit diesem Begriff die wirklichen Orte in der Gesellschaft, die speziellen Regelsystemen unterliegen, durch die allgemeingültige Regelsysteme teilweise außerkraftgesetzt werden. Irrenhäuser können in diesem Sinne ebenso heterotope Räume sein wie Expeditionsschiffe. Die literarischen Räume in der Science Fiction, die radikale Kritik anregen, gleichen solchen heterotopen Räumen. Ein Merkmal solcher literarischen Orte ist, dass sie nicht nur um ihrer selbst willen, als Gesellschaftsgemälde, gebaut werden, sondern die Orte sind, die Konflikte hervorbringen. Um sinngemäß nochmals Marcus Hammerschmitt zu zitieren: In der Science Fiction ist die fiktive Gesellschaft nicht Selbstzweck, sondern Bühne für den Konflikt.
Und der Konflikt ist es schließlich, für den wir uns interessieren.
 

Das Post Suspektum

“There´s no need to get upset. You´re making no decisions here,” wusste Ditlev Nissen aus Christiania präventiv und trefflich anzumerken. Freilich sollte diese Zustimmung nicht als eine Behauptung der Irrelevanz des Kongresses ausgelegt werden. Die Beiträge zu Utopie, Hollywoodschem Antifeminismus und natürlich Star Trek waren allesamt so unterhaltend und erhellend wie die Diskussionen ergiebig. Was durchaus eine Menge damit zu tun haben könnte, um die eigen Marginalität zu wissen. Zweifelsohne eine Erkenntnis, die man manch anderem linken Kongress im Geiste der Entspannung und Kreativität nur wünschen kann.

 

Links:

www.outofthisworld.de


www.oekonux.de


www.starzeck.de



 

Materialien:

Petra Mayerhofer und Christoph Spehr (Hg.): Out of this world, Tagungsband zum ersten ootw-Kongress 2000, Argument Verlag, ca. 17,90 €
“Orange Book”, reader mit weiterführenden Materialien zum ersten ootw-Kongress, 10 € incl. Porto, Order: kongress@outofthisworld.de
alaska Nr. 233 zum ersten ootw-Kongress, 3 € incl Porto, Order: alaska@outofthisworld.de

 

weitere genannte Literatur:

Delany, Samuel R.: Trouble on Triton. Roman. Wesleyan University Press.
LeGuin, Ursula K.: Planet der Habenichtse. Roman. Argument Social Fantasies
Robinson, Kim Stanley: Roter Mars. Grüner Mars. Blauer Mars. 3 Romane. Heyne
Russ, Joanna : Eine Weile entfernt (The female man). Roman. Argument Social Fantasies

Phase 2 Berlin