Umbauphase

Einleitung zum Schwerpunkt

Städte sind Orte, an denen versucht wurde und wird, für gesellschaftliche Wert-, Ziel- und Herrschaftsvorstellungen eine adäquate räumliche Entsprechung zu finden. In diesem Schwerpunkt gehen die AutorInnen der Frage nach, was vom utopischen Moment einer linken Auseinandersetzung mit der Stadt geblieben ist. Diese Frage stellt sich bei Architektur und Städtebau nicht nur auf ästhetischer, sondern auch auf politischer Ebene. Heute wird zwar der Behauptung von der befreienden Wirkung der Postmoderne, die sich einer dogmatisch gewordenen Moderne widersetzt und einem sinnentleerten Funktionalismus die Vielfalt subjektiver Erzählungen, von Doppeldeutigkeiten und spielerischen Formen entgegenhält, kaum noch Beachtung geschenkt. Aber der mit dem postmodernen Versprechen einsetzende kulturelle Wandel besiegelte das Scheitern eines zentralen Merkmals der Moderne: der stadtplanerischen Utopie. Gescheitert sollten all jene Programme sein, welche die Veränderung des gesellschaftlichen Lebens durch die Veränderung von Räumen anstrebten. Vorbei war die Zeit der technisch-naturwissenschaftlichen Visionen, die einerseits die gerechte Verteilung des Mangels propagierten, andererseits aber auch von einem grenzenlosen Wachstum und Wohlstand im Kapitalismus ausgingen. Mit dem Ende des Sozialismus verhärtete sich dieser Bruch mit dem Denken radikaler gesellschaftlicher Veränderung. Gleichzeitig kamen verstärkt diejenigen Positionen zur Geltung, die die bestehende Gesellschaftsform als unabänderlich darstellten.

 Fredric Jameson und David Harvey wiesen bereits in den achtziger Jahren darauf hin, dass sich die spezifisch »kulturelle Logik« der Postmoderne zusammen mit dem Regime flexibler Akkumulation herausbildete. Dieses Regime zeichnet bis heute die Flexibilisierung der Arbeitsmärkte, der Arbeitsprozesse und der Waren- und Konsummuster aus. Harvey wies außerdem darauf hin, dass das Verständnis der Verschiebung urbaner Prozesse und von Urbanisierung überhaupt zentral für das Begreifen der historischen Geografie des Kapitalismus ist. »Das soll aber nicht bedeuten dass sich die Art der räumlichen Praxis als Derivat des Kapitalismus ergibt. Räumliche Gestaltungsweisen nehmen bestimmte Bedeutungen an, und diese Bedeutungen werden auf spezifische Weise in Raum und Bewegung umgesetzt und zwar vermittelt durch klassen- und geschlechtsspezifische oder andere gesellschaftliche Praktiken.« David Harvey, Flexible Akkumulation durch Urbanisierung. Reflexionen über »Postmodernismus« in amerikanischen Städten, in: An Architektur. Produktion und Gebrauch gebauter Umwelt, 16 (2006), 21. Die Veränderungen im urbanen Prozess, so das Argument, sind als Schlüssel zur Integration von politisch-ökonomischen Transformationen einerseits und kulturell-ästhetischen Trends anderseits zu begreifen.

Innerhalb dieses Spannungsverhältnisses beschreibt Roger Behrens die enge Verbindung zwischen ästhetischen und kulturellen Bewegungen und der wechselnden Art urbaner Erfahrung. Während die kapitalistische Stadt des neunzehnten Jahrhunderts die Stadt des Klassenkampfes im Übergang vom Absolutismus zur Moderne war, vollzog sich in der fordistischen Stadt die formale und strukturelle Durchkapitalisierung aller menschlichen Beziehungen durch das städtische Leben. Dieser Prozess ging dabei weit über die Architektur hinaus. Die Bedeutung der Verwandlung der Stadt in den für den Kapitalismus bestimmten Ort, so Behrens These, bleibt heute weitestgehend unsichtbar, schreibt sich jedoch in Charakter und Erscheinung des Alltags ein und zeigt sich in der konkreten Praxis städtischen Lebens. Eine Konsequenz der Unsichtbarkeit des kapitalistischen Wesens der Städte ist, dass heute lediglich die demokratische Legitimität der städtischen Entwicklung verhandelt wird, nicht aber die mögliche emanzipatorische Überschreitung der kapitalistischen Stadt. Und das, obwohl die Stadt ein sozialer Raum ist, der durch diskursive Verschiebungen zwischen der Privatsphäre und der Öffentlichkeit ohnehin im ständigen Wandel begriffen ist.

Bernhard Wernitznig analysiert die äußere Gestalt der Stadt seit Beginn der Industrialisierung in ähnlicher Weise. Er beschreibt jedoch das städtische Wechselverhältnis zwischen den Erfordernissen produktiver und sozialen Strukturen parallel zur Trennung der Menschen von den Bedingungen ihrer Reproduktion. Diese Trennung besteht einerseits zwischen den Produktionsmitteln und den ProduzentInnen, was den Ausgangspunkt von Entfremdungserfahrungen bildet. Sie ist aber auch die Folge der gelungenen Flucht aus personalen Abhängigkeitsbeziehungen und des Auswegs aus dem »Idiotismus des Landlebens«. Hieraus ergibt sich der historisch-ideologische Doppelcharakter der Stadt. Während sich die Liberalen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts fast durchweg vom Fortschritt und bürgerlicher Emanzipation begeistert zeigten, bildete sich aus der Erfahrung der Entfremdung gleichzeitig das Bild der Stadt als Moloch und Inbegriff der Dekadenz. Hieraus erklärt sich für Wernitznig die häufig ambivalente bis antiurbanistische Haltung des sozialistischen und linken Lagers des industriellen Zeitalters, das sich auch in den utopischen Stadtentwürfen niederschlägt.

Viele städtischer Sozialutopien eint das geschichtsphilosophische Motiv der Wiederkehr einer vergangenen, durch fehlgeleitete Zivilisationsprozesse verdrängten harmonischen Sozialordnung. Naldo Fischer verdeutlicht dies an den neuzeitlichen utopischen Entwürfen Città del sole und Phalanstère und zeigt, welche Gesellschafts- und Menschenbilder sich mit den utopischen Stadtentwürfen verbanden. Als paradigmatisch erweist sich, dass diese und folgende Entwürfe aus der Kritik urbaner Missstände hervorgingen und die frühen Versuche, Leben, Wohnen, Arbeiten und Wirtschaften im Zusammenhang mit Architektur und Stadtplanung zu denken, in der Stadtplanung der Moderne ihren Höhepunkt erlebten. Entscheidend sei also, dass die Idealstädte immer auch Bestandteil umfassender sozialräumlicher Rationalisierungsprozesse gewesen sind. Sie wurden von Einzelnen am Reißbrett entworfen, wobei die tatsächlichen Lebensbedingungen, Gewohnheiten und Bedürfnisse hinter den Vorstellungen des neuen Menschen einer besseren Welt verschwanden.

Freiheitsutopien realisierten sich vielerorts letztlich als Ordnungsregimes. Und das nicht nur, wenn reformfreundliche UnternehmerInnen, utopistische SozialistInnen, aufbegehrende ArbeiterInnen und sozialistische BürgermeisterInnen den freiwilligen Schulterschluss wagten, sondern auch, wenn im Namen der sozialistischen Idealstädte Versuche unternommen wurden, gesellschaftliche Umwälzungen und soziale Entwicklungen der Urbanisierung zu steuern. Insbesondere unter Stalin und dem Dogma des sozialistischen Realismus bestimmte die möglichst effektive Nutzung der Arbeitszeit und die Phrase des kollektiven Zusammenlebens die Planung von Städten und Wohngebieten. Das Dogma der Plan- und Herstellbarkeit »idealer Lebensumstände« fand in uniformen Siedlungskollektiven und im »sozialistischen Plattenbau« seine bauliche Umsetzung. Henning Schulze verdeutlicht dies in seinem Beitrag »Wohnfabrik« am Beispiel des »sozialistischen Städtebaus« in der DDR.

Die Ideen im Geiste der totalen Planbarkeit einer besseren Welt durch Städtebau und Architektur sind zu einem erheblichen Teil in der westlichen Moderne – in der zonierten, funktionalen, durchgrünten Stadt – aufgegangen. Architektonische Avantgardebewegungen wie das Bauhaus und die »Neue Sachlichkeit« mit ihrem Ideal des Funktionalismus und des »Neuen Menschen« erwiesen sich mehrheitlich als wenig revolutionär. Vielmehr waren sie Teil der Rationalisierung von Arbeit und Leben in der bürgerlichen, kapitalistischen Gesellschaft. An diese Tradition konnten die staatlichen Wiederaufbauprogramme nach dem Zweiten Weltkrieg anknüpfen. Der Beitrag von Jennifer Stange zeigt am Beispiel des Wiederaufbaus in den Bundesrepublik nach 1945, wie die modernistische Illusion einer sozial befriedeten kapitalistischen Gesellschaft ihre bauliche und räumliche Entsprechung fand und zum Synonym des demokratischen Wiederaufbaus wurden. Aus einer linken Perspektive richtete sich die Kritik vor allem gegen die Tendenz, die Menschen für unmündig und unfähig zu erklären, die Gestaltung der eignen Umwelt selbst in die Hand zu nehmen und die eigenen Lebensverhältnisse mitzubestimmen. Hierzu gesellte sich in den achtziger Jahren ein neuer ideologischer Geist, der den totalitären Zugriff der Moderne für die Zerstörung der alten Städte in den Nachkriegsjahren verantwortlich machte. Der Abriss und Neubau der Innenstädte in den Nachkriegsjahren habe den öffentlichen Raum in ein städtisches Niemandsland verwandelt.

Der neue Sinn für das Städtische, der sich durch die ausschließliche Parteinahme für die Gestalt der alten, gewachsenen, nicht planbaren Stadt des 19. oder frühen 20. Jahrhunderts auszeichnet, verband sich nicht selten mit einer heute als neoliberal beschriebenen Stadtpolitik. Georg Spoo beschreibt in seinem Artikel »Die Stadt im neoliberalen Kapitalismus« das scheinbar neue Regime der Kapitalakkumulation, das auf einen weitgehenden Rückzug des Staates und eine verstärkte Unterwerfung gesellschaftlicher Belange unter die Kräfte des Marktes setzt. Durch es wird erneut ein großer Teil der städtischen Prozesse der Ökonomie unterworfen. Die Parzellierung, die Spaltung der Stadt in mehr oder weniger akkumulationsrelevante Räume ist die gegenwärtige Folge dieser neusten Entwicklung. Spoo weist in diesem Zusammenhang besonders auf die tendenzielle Aufhebung der Unterscheidung von öffentlichem und privatem Raum hin. Indem öffentliche Räume zunehmend privatisiert werden, werden sie neuen Kontroll- und Regulationsmodi unterworfen.

Spoos Beitrag ist hinzuzufügen, dass sich die Sanktionierung des Zugangs zu (ehemals) öffentlichen Orten nicht nur durch marktorientierte Vorgaben vollzieht, sondern auch staatlich erfolgen kann. Ein Beispiel dafür bieten die jüngsten Verschärfungen des sächsischen Versammlungsrechts. Indem gezielt bestimmte Orte zu Sperrzonen erklärt werden, wird jetzt nach politischen Maßgaben entschieden, wer wo eine Versammlung abhalten darf. Diese enorme Einschränkung der als demokratisches Grundrecht geltenden Meinungsfreiheit wird durch die bewusste Entpolitisierung des öffentlichen Raums umgesetzt. Jesko Fezer kritisiert in seinem Beitrag eine solche Entpolitisierung der Städte, die auch durch Ansätze des so genannten »Post-Planning« vorangetrieben wird. Der berechtigten Kritik an den totalitären Verfestigungen der Moderne folgt, laut Fezer, oft die vollkommene Ablehnung jeder politischen Perspektive auf die Stadt. Paradoxerweise verbindet sich dabei eine herrschaftskritische Haltung, die die Top-Down-Logik der totalen Planbarkeit und ihren Anspruch der Normierung und Reglementierung des Alltagslebens ablehnt, mit einer selbstgefälligen, unpolitischen Haltung gegenüber den Verfahren des Entwerfens. Das kommt der Vorherrschaft des Marktes entgegen. Die Stadt wird als das »Unplanbare« betrachtet, das von »GestalterInnen« lediglich beobachtet aber kaum beeinflusst, geschweige denn tatsächlich gestaltet werden kann. Fezer betont die Notwendigkeit einer ideologiekritische Perspektive auf Architektur und Stadtplanung und konstatiert, dass es eines neuen Designs der Stadt bedarf, weil Städte ohnehin prinzipiell gestaltet sind. Ohne die Definition von Kriterien, die der gesamtgesellschaftlichen Planung zukünftiger Lebensformen zugrunde liegen könnten, gilt es, die historischen Realitäten zu entmystifizieren, die hinter den vereinfachenden Begriffen von Design, Architektur und Stadt liegen.

In Hinblick auf linke und alternative Stadtpolitik stellt sich gegenwärtig die Frage, welche Rolle die Stadt bei der Umwälzung sozialer Verhältnisse noch spielen kann und soll. Heutige linke Politikansätze von Freiraumdebatten bis zur Kritik an Gentrifizierungsprozessen sind im Unterschied zu den Häuserkämpfen der siebziger Jahre nur noch schwer von gegenwärtigen administrativen Maßnahmen der »behutsamen« Stadterneuerung zu unterscheiden. Luca Bublik zeichnet kritisch die Entwicklung linker Stadtpolitik in Deutschland nach und fordert, dass linke Stadtpolitik über individuelle Lösungen von Wohnproblemen oder partikularer Selbstverwaltung im Kiez oder Künstlerviertel hinausweisen müsse.

Im Interview bekräftigt Peter Marcuse die latente Möglichkeit eines radikalen emanzipativen gesellschaftlichen Wandels. Nach wie vor funktioniert die Stadt als Aushandlungsfeld gesellschaftlicher Konflikte. Diese Möglichkeit wahrzunehmen und gleichzeitig die Option einer gegenwärtigen politischen Praxis zu entwickeln, fordert Marcuse mit Anderen unter dem politischen Schlagwort vom »Recht auf (die) Stadt – Right To The City«.

Diese Parole ist mittlerweile auch in Deutschland angelangt. Allerdings war eine politisch-strategische Banalisierung und Verwässerung des ursprünglich von Lefebvre stammenden Konzepts die Folge, wie im Beitrag von Marcelo Lopes de Souza deutlich wird. Nicht für Mitgestaltungshoffnungen, sondern nur für das Recht auf ein ganz anderes Leben im Rahmen einer gerechten Gesellschaft lohne es sich zu streiten.

Die vorliegenden Beiträge des Schwerpunkts über Architektur und Städtebau zeigen zumindest im Ansatz, dass eine Kritik der konkret »realisierten« Ideologie der Architektur über sie hinaus weisen muss, um ihrer spezifisch politischen Dimension gerecht zu werden. Die Auseinandersetzungen mit frühen Stadtutopien und ihrer teilweisen Aufnahme, Veränderung und Umsetzung in der Moderne, machen deutlich, wie sinnlos rein architektonische oder planerische Alternativen nicht nur unter den gegebenen Verhältnissen sind und sein müssen. Die traditionelle linke Stadtpolitik bietet nur selten Strategien, die über das »Machbare« auf lokaler und regionaler Ebene hinaus zielen. Dadurch führt sie zu einer Politik der Anpassung und Unterordnung. Die Frage, welchen Status die Stadt in einer radikalen linken Praxis einnehmen soll, steht also weiterhin im Raum. Dennoch, und hierfür stehen die im Heft vorgestellten radikalen Ansätze der Auseinandersetzung mit Stadt, ist die Kritik nur eine Variante des politischen Handelns.