Umwege kosmopolitischen Erinnerns

Hatte Natan Sznaider vor einigen Jahren in Erinnerung im globalen Zeitalter. Der Holocaust noch aufzuzeigen versucht, wie der Holocaust zu einem universalen »Gedächtniscontainer« wurde, geht er nun in Gedächtnisraum Europa. Die Visionen eines europäischen Kosmopolitismus – Eine jüdische Perspektive den umgekehrten Weg.

Er versucht in seinem Text Konzepte eines europäischen Kosmopolitismus Beck’scher Prägung mit jüdischen Erfahrungswelten zu füllen. Diese gelte es in mehrfacher Hinsicht fruchtbar zu machen, da in ihnen »Universalismus und Partikularismus, das Allgemeine und das Besondere keine sich gegenseitig ausschließenden Begriffe mehr sein, sondern gelebte Praxis«. Die zu erinnernde europäische jüdische Kultur vor der Vernichtung zeichnete sich vor allem durch Mehrsprachigkeit und kulturellen Pluralismus aus. Eine Spannung von Partikularem und Universalem ergab sich aus dem Versuch, partikular-jüdische Lebensformen und Traditionen mit den Interessen der sie umgebenden nationalstaatlichen Gesellschaften zu verbinden und eine politisch universelle Perspektive jenseits nationalstaatlicher Organisationsformen zu entwickeln. In den Diskussionen jüdischer Intellektueller wie Hannah Arendt, Salo Baron und Gershom Scholem nach dem Holocaust erhielten diese Fragen neue Virulenz: Wie und vor allem wo konnte die Spannung zwischen Universalem und Partikularem nach der Katastrophe weitergelebt werden? Und wie sollte der Vernichtung als einem, wie Hannah Arendt es beschrieb, am jüdischen Volk begangenem Menschheitsverbrechen gedacht werden?

Anhand einer Topographie des Nachkriegseuropas versucht Sznaider die parallel laufenden Debatten über einen »lebensnotwendigen Kosmopolitismus nach der jüdischen Katastrophe« und das Entstehen eines »kosmopolitischen Europas auf den Trümmern des Zweiten Weltkrieges« engzuführen. Dabei gelingt es ihm eindrücklich herauszuarbeiten, wie in den von europäischen Intellektuellen abgehaltenen Nachkriegskonferenzen (zum »Europäischen Geist« in Genf 1946 oder dem kurz darauf stattfindenden PEN-Kongress), den Nürnberger Prozessen, die die Rechtskategorie des »Verbrechens gegen die Menschlichkeit« prägten oder in der Diskussion der Schuldfrage ohne Bezug auf die »jüdische Katastrophe« Vergangenheit bewältigt und direkt in die Vision eines kosmopolitischen Europa überführt wurde.

Sznaiders Versuch, diese visionäre Theorie des europäischen Kosmopolitismus um einen »anamnetisch gesättigten Kosmopolitismus« aus jüdischer Perspektive zu ergänzen, kreist vor allem um die in der unmittelbaren Nachkriegszeit gegründete »Jewish Cultural Reconstruction« (JCR). Diese maßgeblich von dem New Yorker Historiker Salo Baron ins Leben gerufene Organisation hatte es sich zur Aufgabe gemacht, die europaweit geraubten jüdischen Kulturgüter, die nach der Ermordung ihrer BesitzerInnen erbenlos geworden waren, zu inventarisieren, zu verwalten und aus Europa herauszubringen. Hannah Arendt arbeitete hier als Forschungsleiterin und Geschäftsführerin. Der Verbleib jüdischen Kulturbesitzes in Europa hing eng mit der Frage nach den Möglichkeiten der Konstitution des jüdischen Kollektivs als legaler Körperschaft jenseits staatlicher Vertretung zusammen. Die JCR sprengte somit zunächst den damaligen völkerrechtlichen Rahmen sowie die Annahme eines territorial definierten Kulturbesitzes.

Sznaider stellt diese unmittelbar praktische Arbeit an einem jüdischen materiellen Gedächtnis in Zusammenhang mit Arendts Texten zu jüdischer Politik, in denen sie einen Raum beschreibt, »der zwischen partikularer Zugehörigkeit zur politischen Gemeinschaft und der Universalität der Menschenrechte liegt«. Doch dieser Raum konnte für Arendt nicht Europa sein.

Unverständlich bleibt, wieso Sznaider trotz der offenkundigen, wenn auch melancholischen Absage, die Arendt und Scholem in ihrer Arbeit am jüdischen Kulturbesitz, einem Wiederaufleben jüdischen Lebens in Europa erteilten, den Wunsch nach einem europäisch-jüdischen Kosmopolitismus unterstellt. Die Katastrophe hätte hier, so Sznaider, im Widerspruch zu den vorhergehenden Beschreibungen jüdischer Lebenswelten, einen kosmopolitischen Akteur geschaffen.

In Sznaiders überblicksartiger Darstellung wird schon allein anhand der hier entworfenen räumlichen Zusammenhänge anschaulich, wie ein europäischer und ein jüdischer »Erinnerungsraum« auseinander drifteten. Schließlich hatte ein jüdischer Erinnerungsraum nach dem Holocaust auch Orte wie New York und Jerusalem zu umfassen und speiste sich ebenso aus vergangenen jüdischen Lebenswelten jenseits des »Eisernen Vorhangs«. Sznaiders Forderung, sich in der aktuellen Debatte um ein europäisches Gedächtnis dieser historischen Dimension bewusst zu sein, ist richtig.

Offen bleibt jedoch die Frage, was mit der Forderung nach dem Aufbau eines »realistischen Kosmopolitismus«, der sich der jüdischen Vergangenheit stellt, für das heutige Europa gemeint sein soll. Denn gerade die von Sznaider beschriebene Nachkriegssituation für Juden und Jüdinnen als Überlebende ist zu spezifisch, die daraus folgenden Bemühungen der JCR und die Reflektionen einer jüdischen Politik unmittelbare Folge des Scheitern der Emanzipation, als dass sie heutigen Europadebatten als Vorbild dienen könnten.

Natan Sznaider: Gedächtnisraum Europa. Die Visionen eines europäischen Kosmopolitismus. Eine jüdische Perspektive, transcript Verlag, Bielefeld 2008, 156 S., € 16,80.

ANNA POLLMANN