»Und weil der Mensch ein Mensch ist…«

Über die Fallstricke des anthropologischen Revisionismus

Die zunehmende Deutungshoheit neurowissenschaftlicher und humangenetischer Ideologien auch im philosophischen akademischen Betrieb ist eine beunruhigende Tendenz, die für die Zukunft Schlimmes befürchten lässt. Noch ärger allerdings ist die Tatsache, dass diesen eugenischen Basisideologien kaum mit Kritik begegnet wird. Gibt es Reaktionen, dann bleiben diese zumeist entweder defensiv – das heißt, sie beharren vergeblich darauf, dass sich die Philosophie als Wissenschaft des Begriffs von Fachfremden gar nichts vorschreiben lassen brauche – oder sie treten mit der Naturwissenschaft in Konkurrenz und behaupten, ein viel kritischeres, moralischeres oder emanzipatorisches Menschenbild anbieten zu können. Eine dritte Variante, die postmoderne, beansprucht, jegliche Form von Menschenbild erfolgreich dekonstruiert zu haben, obwohl ihre historizistische Subjektkritik letztlich dem willkürlichen Zugriff einer ominösen Machtstruktur huldigt und damit wiederum das Individuum als bloßen Knotenpunkt im alles umspannenden Netz schicksalhafter Geworfenheit objektiviert. Die fundamentale Kritik jeder Anthropologie dagegen ist out, weil man es mit der Weigerung, sich positiv auf ein unveränderliches Wesen des Menschen festzulegen, im herrschaftsfreien Zwangsdiskurs der Universitäten nicht weit bringen kann. Weil die Motivation für diese Verweigerung nicht der unmittelbar nutzbar zu machende Erkenntnisfortschritt, sondern die Perpetuierung der Möglichkeit freier Vergesellschaftung ist, kann ein auf die praktische Anwendbarkeit von Philosophie erpichter Apparat diese Absage nur als Desertion anprangern und bestrafen.

Gleichwohl steht die Kritik der Anthropologie, wie sie etwa von Theodor W. Adorno und Jürgen Habermas an dem NS-Philosophen Arnold Gehlen geübt wurde, immer noch im Raum und lässt sich auch von denjenigen, die sich nach einer festen Grundlage für ihre politische Programmatik sehnen, nicht einfach ignorieren. Ausdruck des Verlangens, ein auf ewige Zeiten stabiles Fundament für gesellschaftstheoretische und politische Modelle zu gießen, sind die Ausführungen Felix Fiedlers in der Phase 2 und – gesamtgesellschaftlich etwas bedeutsamer – der jüngste Aufsatz des verdienten Utopie- und Faschismusforschers Richard Saage. Felix Fiedler, Inwiefern ist die Natur des Menschen gesellschaftlich?, in: Phase 2, Nr. 27 (2008), 7–10; Felix Fiedler, Ursprungsphilosophie, dialektisch, in: Phase 2, Nr. 29 (2008), 43–47; Richard Saage, Zur Aktualität der philosophischen Anthropologie, in: Zeitschrift für Politik, Nr. 2/2008, 123–146. Alle Zitate dieser Personen dort. Beide fordern übereinstimmend ein anthropologisches »Orientierungswissen«, an dem sich das Handeln der Menschen ausrichten soll. Das »biologische Wesen« des Menschen stellen sie sich gewissermaßen als Humus vor, aus dem das soziokulturelle Gehäuse organisch erwächst. Sinn der Feststellung der menschlichen Natur sei es, die »Grenzen und Möglichkeiten der technischen Selbstverfügung des Menschen« zu ermitteln, um »Zielvorgaben für den technologisch aufgerüsteten Neuen Menschen zu formulieren« (Saage) bzw. wie Fiedler zu fragen, »wie Spielräume entstehen, und wo sie enden«. Beiden geht es also darum, ein für allemal zu ergründen, was dem Menschen qua Natur möglich ist, was ihm zugemutet werden kann und was nicht. Saage spricht offen aus, dass die Suche nach dem wirklich-wirklichen Menschen »einer neuen anthropologischen Setzung« bedarf und räumt damit ein, die biologische Begrenzung des Menschen einzig per Dekret festlegen zu können. Diese Setzung besteht in dem »normativen Postulat der Wahrung seiner [des Menschen; PL/NM] Autonomie als moralisches Wesen«. Und Fiedler will, die »Zusammensetzung einer Natur, die nicht nur zu Geschichte, sondern auch zu Emanzipation fähig ist«, herausfinden, auch wenn er weiß, dass »die herrschaftskritischen, normativen Gehalte des Begriffs der »gesellschaftlichen Natur« in evolutionstheoretischer Perspektive als unbegründbar« erscheinen. Während sich Saage also um die Moral sorgt, die mit dem biologistischen Determinismus verschütt zu gehen droht, hat Fiedler die empirische Begründung der Möglichkeit des Kommunismus angesichts des naturalistischen Siegeszuges im Auge. Der Unterschied zwischen Saage und Fiedler besteht demnach einzig in ihrer Zielvorgabe. Einig sind sie sich darin, dass das Verhältnis der biologischen zur soziokulturellen Dimension der menschlichen Natur überhaupt adäquat bestimmbar ist, obwohl doch beide Sphären nicht einmal eindeutig voneinander abgrenzbar sind. Ist beispielsweise Hunger ein biologisches oder ein soziokulturelles Problem?

Beide scheint zu bekümmern, dass der Bezug auf das Wesen des Menschen in gewissen Kreisen, die sich direkt oder indirekt auf die Kritik der Anthropologie beziehen, wie sie durch die Vertreter der Kritischen Theorie geleistet wurde, noch immer als anrüchig gilt. Um sich den dort formulierten Einwänden nicht aussetzen zu müssen, grenzen sie sich von der so genannten »naiven«, »aufgeklärten« oder »dualistischen« Anthropologie ab, um im gleichen Atemzug eine»nicht-dualistische« einzufordern. Diese gehe wahlweise vom »tatsächlichen Natursubstrat« (Fiedler) respektive vom »biologischen Wesen« (Saage) aus, habe aber die abstrakte Entgegensetzung von Natur und Kultur – also ein Konzept, das ihnen in Form von Moral und Politik selbst vorschwebt – zu problematisieren. Beide reiben sich an den angeblich dualistischen Konzepten der Aufklärung, die strikt dichotomisch Natur als das Andere definiert hätten. Ungeachtet dessen, dass diese Einschätzung viel zu holzschnittartig ist, um dem aufgeklärten Menschenbild gerecht zu werden, geben sich Fiedler und Saage alle Mittel aus der Hand, um die schlechte Spaltung von Natur und Kultur theoretisch überwinden zu können. Diese könnte nur gelingen, wenn Natur und Kultur nicht einfach entgegengesetzt, sondern auf eine Weise dialektisch miteinander vermittelt würden, dass sie als selbständige und isolierte Pole in dieser vermittelten Einheit aufgehoben wären. Eine solche Konzeption von Zivilisation ist die Psychoanalyse in der geschichtsphilosophischen Lesart der Kritischen Theorie.

Doch gerade die Psychoanalyse wird von Fiedler und Saage selbst noch der vermeintlich so dualistischen Aufklärung zugeschlagen. Alternativ wird versucht, Natur und Kultur mit dem theoretischen Instrumentarium der vermeintlich Kritischen Psychologie Holzkamps (Fiedler) bzw. der Philosophische Anthropologie (Saage) begrifflich zur Einheit zu bringen. Dieser Versuch scheitert gerade deshalb grandios, weil Vermittlung nicht als alltagspraktische, jedes Individuum notwendig einbeziehende Form des gesellschaftlichen Stoffwechsels mit der Natur begriffen wird, sondern als äußerliche Beschreibung einer empirisch wahrnehmbaren Relation. Während Felix Fiedler demgemäß eine »kategoriale Unterscheidung« zwischen Natur und Kultur einfordert und damit den Dualismus unfreiwillig wesentlich starrer fasst als alle Aufklärungsphilosophie es jemals getan hat, müht sich Saage sichtbar ab, die beiden Begriffe mit Gewalt zusammen zu klatschen, was jedoch misslingt. Resultat dieser Anstrengungen sind unbrauchbare, weil das Verhältnis von Natur und Kultur verunklärende Chiffren wie »Zusammenspiel«, »Verkettung« oder »Verklammerung« (Saage) auf der einen, absurde und kraftmeierische Vorwürfe an die Kritische Theorie, sie sei »pseudomaterialistisch«, »fragwürdig«, »ideologisch« (Fiedler) auf der anderen Seite. Weder Fiedler noch Saage haben einen synthetisierenden Begriff anzubieten. Stattdessen wird einfach beliebig gesetzt, was man sich als Ergebnis wünscht. Weil Saage sich als Resultat seiner Untersuchungen ein moralisches Wesen wünscht, muss die philosophische Anthropologie erweisen, dass der Mensch ein solches Wesen ist und es naturgemäß auch bleiben soll. Fiedler hingegen möchte zeigen, dass der Mensch zum Kommunismus prädestiniert ist, weil er ein gesellschaftliches Wesen sei. So wird das zu Beweisende als Beweis ausgegeben und als sein Wesen in die Natur des Menschen versenkt. Eine Überwindung des so verfemten Dualismus ist das nicht, sondern Ideologie. Schließlich ist das der Name für ein Denken, das gesellschaftliche Eigenschaften naturalisiert, anstatt sie aus den Formen sozialen Zusammenlebens zu extrapolieren. Einer solchen Denkweise wäre mit materialistischer Ideologiekritik zu Leibe zu rücken, aber weder Felix Fiedler, der immerhin in einer linksradikalen Zeitschrift veröffentlicht, noch gar Richard Saage setzen sich mit den berühmt-berüchtigten »theologischen Mucken« und »metaphysischen Spitzfindigkeiten« und der daraus folgenden Kritik des verdinglichenden Alltagsbewusstseins der Warenmonaden auseinander.

Dass sich Marx mit der Frage, »wie denn der vergesellschaftungsfähige Mensch in die Welt gekommen ist« (Fiedler) und wie sein natürliches Wesen empirisch zu bestimmen sei, gar nicht erst aufhielt, bemerkt auch Fiedler. Auf die Gründe für diese Enthaltsamkeit reflektiert er dagegen nicht, sonst wäre ihm unter Umständen aufgefallen, dass diese mit dem Bilderverbot – also der Unmöglichkeit, eine Aussage darüber zu treffen, wie der Kommunismus im Einzelnen aussehen wird – korrespondiert, dem Marx trotz seiner Kritik des Judentums recht treu folgte. Es gilt, weil jeder Verstoß gegen dieses Verbot unweigerlich dazu führt, das Bestehende festzuklopfen und Möglichkeiten der Überwindung autoritär zu beschneiden. Genau aus diesem Grund sind positive Aussagen über das Leben im Kommunismus bei Marx äußerst spärlich gesät und tauchen im Spätwerk ohnehin kaum noch auf. Nichtsdestotrotz ging auch Marx davon aus, dass es Begierden gibt, »welche unter allen Verhältnissen existieren« und solche, »die ihren Ursprung nur einer bestimmten Gesellschaftsform […] verdanken«. Im Gegensatz zu Fiedler und Saage machte sich Marx aber nicht daran, das Verhältnis von biologisch-fixen und geschichtlich-veränderbaren Begierden auszuloten, sondern bestand darauf, dass sich diese Frage nur experimentell, durch die Revolutionierung der Verhältnisse, klären lasse.

Auch Saage will von solcher Abstinenz nichts wissen. Zwar gibt sich die philosophische Anthropologie auf den Spuren Max Schelers, Arnold Gehlens und Helmuth Plessners, denen Saage folgt, wesentlich skeptischer als Fiedler. Sie meint den Fallstricken einer Anthropologie, die den Menschen als ein reiches, z.B. »gesellschaftliches Wesen« bestimmt, zu entkommen, indem sie ihn als ein Mängelwesen fasst. Der Status des Menschen in der Welt sei durch seine mangelhafte Ausstattung, seine Instinktarmut, die geringe Spezialisierung seiner Organe usw. stets prekär. Diese Notlage mache es erforderlich, dass sich der Mensch ein soziokulturelles Gerüst baue, um seine Mängel auszugleichen. Die Kultur ist diesem Verständnis nach natürlich und gerade deshalb eine zweite Natur. Im Zusammenspiel der ersten mit der zweiten Natur sei nun wiederum der moralische Kern des Menschen begründet, der durch Eingriffe in die erste Natur von Hypertrophie bedroht sei. Da die Moral ins Zentrum der Betrachtungen gerückt wird, diese aber nur eine Dimension der Vermittlung von Gesellschaft und Individuum bezeichnet und zudem völlig abstrakt bleibt, bietet sie Saage ebenfalls die Möglichkeit, von den konkreten Verhältnissen zu abstrahieren.

Für Fiedler ist die Anthropologie die Vorbemerkung zu einer Untersuchung sozialer Herrschaft, die bei ihm deshalb bis auf knappe Andeutungen selbst kein Thema ist. Erst wenn erwiesen sei, dass die Beherrschung der Natur nichts mit der gesellschaftlichen Herrschaft zu tun hat, beide feinsäuberlich, nämlich kategorial, voneinander getrennt sind, werde es möglich, soziale Herrschaft richtig zu erfassen. Es komme zunächst darauf an, »die naturhistorische Möglichkeitsbedingung seiner [des Menschen, NM/PL] noch in ihrem Scheitern offensichtlichen Fähigkeit zur erfahrungsgeleiteten Selbstbestimmung in gesellschaftlicher und universaler Perspektive« zu beweisen. Wenn sich jedoch mit der »spezifischen Fähigkeit funktionsteiliger und vorsorgender Daseinsicherung« sowohl das Scheitern als auch der Kommunismus als Produkte »erfahrungsgeleiteter Selbstbestimmung« erklären lassen, was ist dann gewonnen? Wenn gar das Scheitern noch als von der Gattung gewolltes Ergebnis aufgefasst wird, also davon ausgegangen werden muss, dass die Menschheit auch ihren Untergang wollen kann, wird es möglich, sowohl den Kommunismus als auch das Scheitern der menschlichen Entwicklung als das Produkt der gleichen Voraussetzungen zu beschreiben, womit der Aussagewert einer solchen Anthropologie gen Null tendiert. Die Fokussierung auf die Natur des Menschen scheint die Kritik der Gesellschaft entbehrlich zu machen. Da stets nur der Mensch und seine Natur thematisiert werden, aber nie von den gesellschaftlichen Verhältnissen, in denen die Menschen leben, die Rede ist, werden die mit der Natur begründete ›Moral‹ oder die gesellschaftliche ›Natur‹ des Menschen zu Formeln, die alles und nichts erklären. Fiedler und Saage thematisieren die

naturwissenschaftlichen Menschenbilder, die das Wissen zur Verfügung über die Natur des Menschen bereitzustellen behaupten, als vom gesellschaftlichen Zusammenhang, dessen Teil diese Wissenschaften sind, unberührte. So wird die Technik, die es erlaubt, in die erste Natur einzugreifen, von diesen Verhältnissen vollständig isoliert.

Das Problem, das zum Scheitern des Versuchs führt, eine tragfähige Anthropologie zu konstruieren, liegt bereits im ideologischen, streng positivistisch gedachten Begriff der Natur. In kritischer Absicht wäre Natur als die vom Menschen mit der Totalisierung des Werts zunehmend verschwindende, noch nicht beherrschte Sphäre des unerhellt Unmittelbaren zu begreifen. Natur ist der Überrest des Heteronomen, das allerdings als solches heute nur noch im Widerspruch zur kapitalistischen Totalität existieren kann. Das Kapital, das sich alle Natur einzuverleiben und zum bloßen Rohmaterial seiner Akkumulationsmaschinerie zu verwandeln trachtet, negiert permanent das mit ihm nicht identische, indem es Natur einzig als Objekt zu fassen im Stande ist. Dass etwa Fiedler diesen verdinglichenden Zug des Kapitals selbst naturalisiert, indem er kategorial zwischen »Naturaneignung und ihrer gesellschaftlichen Organisation« unterscheidet, spricht eine deutliche Sprache. Er zieht sich vollständig auf die objektive Gültigkeit der Naturwissenschaften zurück, deren »Sätze und Hypothesen« sich an »rein technisch-praktischen Kriterien der zweckmäßigen Aneignung und Umformung eines objektiv strukturierten und deshalb regelhaft manipulierbaren Natursubstrats« bewährten, und vergibt sich so die Chance, der Natur anders denn als zuzurichtendes Material gewahr zu werden.

Derart der wissenschaftlichen Denkform verhaftet, kann von einer Kritik des Fetischismus natürlich keine Rede mehr sein. Die Welt liegt vor uns ausgebreitet wie ein offenes Buch, die Nebelschleier der Warenform sind ins Zauberreich des Mystizismus verbannt, die mit der Realität nichts und mit dem Bewusstsein des philosophierenden Weltverbesserers erst recht nichts zu tun haben. Herrschaft über die Natur wird aufgelöst in eine ewige Daseinsbestimmung des Menschen, der eigene Leib in ein unbelebtes Instrument zur Ausbeutung der stofflichen Mannigfaltigkeit des Planeten verwandelt. Die unabtrennbare Verbundenheit mit der Natur, die keineswegs ein »Ursprungsmythos« ist, sondern den realen Anfang einer jeden Triebgeschichte bildet, wird geleugnet, das Individuum im Anflug kollektivistischer Anmaßung in die soziale Form des zoon politikon gepresst. Wenn Fiedler die Vorstellung einer »im Anfang nahezu strukturlosen, reaktiv-mimetischen Naturverfallenheit eines in seinem Denken und Fühlen noch völlig amorphen Wesens« allen Ernstes der Kritische Theorie als »trickreiches dialektisches Ursprungsmodell« vorwirft, dann muss man annehmen, er habe noch niemals ein noch völlig auf die unmittelbare Triebbefriedigung fixiertes Baby beim Lärmen und Krakeelen beobachtet. Dass gerade der sich soviel auf seine »empiriebasierte Konstitutionsanalyse« einbildende Fiedler sich dem allzu Offensichtlichen verschließt und so tut, als käme ein Individuum als fertiges gesellschaftliches Naturwesen zur Welt, ist eine Ironie für sich. Leider ist dieses Manko folgenreich. Fiedler nämlich abstrahiert ununterbrochen vom Individuum, weil dieses aus seiner Perspektive nur als Rädchen im Funktionszusammenhang »kollektiver Daseinssicherung« in Betracht kommt. Die Psychoanalyse, die strikt vom Individuum ausgeht und zu Recht skeptisch gegenüber jeder Soziologisierung ihrer Erkenntnisse ist, kann er da nicht brauchen. Sie sei – wie die Kritische Theorie – »pseudomaterialistisch« und dem »Basisideologem bürgerlicher Herrschaft« verhangen. An deren Stelle setzt er eine für seine Belange nützlichere Wissenschaft der Psyche – die bereits erwähnte »Kritische Psychologie«. Diese sagt, in Gestalt ihres Begründers Klaus Holzkamp, der Einzelne könne »nur im Zusammenschluss mit anderen, als Teilmoment eines gesellschaftlichen Subjekts seine eigenen Lebensumstände mitbestimmen, also zum individuellen Subjekt werden«. Das therapeutische Ziel der Kritischen Psychologie ist jedoch nicht wie bei der Psychoanalyse, die Menschen als selbst bestimmte Subjekte zu entlassen, sondern die »Überschreitung der Individualität«. Damit forciert sie in sozialistischem Duktus eine Kollektivierung, in der das Individuum nicht aufgehoben ist, sondern untergeht.

Die autoritäre Verfügung über den Menschen, das Antriebsmoment jeder Anthropologie, negiert das Individuum, weil es ihr um den Menschen geht. Die Sehnsüchte des Individuums, seine Wünsche und Begehren, werden von der Anthropologie als nichtswürdige Illusionen behandelt, die Propagierung des Verzichts ist ihr praktisches Programm. »Und weil der Mensch ein Mensch ist«, verkündet ein Gassenhauer der Arbeiterbewegung, »d’rum braucht er was zu Essen, bitte sehr!« Der vernünftige Einwand, angesichts des Standes der Produktivkräfte bräuchte kein Mensch mehr hungern, verwandelt sich unter der Hand in eine Verherrlichung von Demut und Askese, wenn die Wirklichkeit nicht mehr ins Verhältnis zur Möglichkeit, sondern zur Norm gesetzt wird. Freilich, um die Auslotung jener Möglichkeiten ist es Fiedler zu tun. Indem er aber eine natürliche Basis zugrunde legt, beschränkt er – ganz fixiert auf das Bestehende – eben jene Optionen auf das ohnehin schon Herrschende. So bleibt nur die Sorge um die »Daseinssicherung« übrig, menschliche Existenz wird auf die tierische reduziert. Die bestehende Not des Einzelnen wird so theoretisch verlängert.

~ Von Niklaas Machunsky und Philipp Lenhard. Die Autoren sind Redakteure der Prodomo – Zeitschrift in eigener Sache und beschäftigen sich in ihrer Freizeit mit Unterbewusstsein und critical string theory.