In den Augen der Weltöffentlichkeit scheint es kurz vor dem großen Comeback zu stehen: das »gute« Amerika, Land der unbegrenzten Möglichkeiten und der großen humanistischen Ideale von Freiheit und Toleranz, Garant der weltweiten Sicherheit und des gesellschaftlichen und technologischen Fortschritts. Barack Hussein Obama hat das kleine Wunder bewirkt – er ist für Europa der prospektive Präsident der Herzen, der selbst so manchen No-Global zum Schwenken von Amerikafähnchen bringt. Auch eingefleischte Amerika-Hasser verbinden mit Obama die Hoffnung auf eine besonnene, multilaterale Außenpolitik, die noch dazu dem europäischen Profilierungsbedürfnis entgegenkäme, indem sie unter anderem Deutschland mehr »Verantwortung« im War on Terror abfordert. Die bislang brav antiamerikanische Friedensbewegung kann sich zum Ausgleich an Obamas Wunsch nach dem langfristigen weltweiten Atomwaffen-Ausstieg erfreuen. Sogar Antideutsche können sich damit beruhigen, dass Obama einen unnachgiebigen Kurs gegen den Iran ankündigt und sich auf seiner Welttournee klar an Israels Seite gestellt hat. Dass all die Hoffnungen, die sich um den Kandidat der Demokraten verdichten, wenig mit konkreten politischen Programmen und viel mit Projektion zu tun hat, versteht sich von selbst.
Während »Old Europe« also sehnsüchtig die symbolische Rehabilitierung der USA durch die Wahl des ersten afro-amerikanischen Präsidenten erwartet, schlägt man sich im Land der unbegrenzten Möglichkeiten selbst mit weitaus konkreteren politischen Problemen herum: Inzwischen hat bereits die zweite Schockwelle der Immobilienkrise die US-Finanzmärkte erschüttert, und es ist noch lange nicht gesagt, dass es die letzte war. Die Lage bedroht derzeit nicht nur Amerikas wirtschaftliche Weltmachtstellung, sondern auch den Lebensstil und das Selbstverständnis des US-amerikanischen Kleinbürgertums: Das Eigenheim, einst für breite Teile der Bevölkerung Ausweis der individuellen ökonomischen Sicherheit und Unabhängigkeit, wird zum Luxus. Die wahlentscheidenden Themen dürften insofern eher innenpolitischer Natur sein. Auch außenpolitisch wird die zukünftige Rolle der USA als Welt- und Handelsmacht Nr. 1 angesichts dieser Entwicklungen in Frage gestellt. Nicht selten schwingt dabei eine gewisse Häme angesichts der erwarteten Demütigung einer Nation mit, die nicht erst in den acht Jahren von Bushs Präsidentschaft nur zu gern der Hybris bezichtigt wurde.
Kurzum: Schon lange haben die USA der Weltöffentlichkeit nicht mehr so viel Anlass zu gleichzeitigem Hoffen und Bangen gegeben – die Versicherung zahlloser telegener PolitikspezialistInnen, dass man in Amerika »den Wechsel will«, tut das ihrige. Spätestens für 2009 wird mit einer Rundumüberholung des Modells Amerika gerechnet, und dass diese Überholung sich unter der Ägide Obamas vollziehen soll, ist für die meisten BeobachterInnen bereits ausgemachte Sache.
A more or less perfect union
Weitgehend unabhängig von der Frage nach dem Ausgang der Präsidentschaftswahlen im November beschäftigt dieser Schwerpunkt der Phase 2 sich mit dem »Projekt USA« und versucht dabei, jenseits der üblichen Projektionen einen Blick auf die konkrete Verfasstheit der US-amerikanischen Gesellschaft sowie deren Verhältnis zum Idealmodell »Amerika« zu werfen. Denn ganz egal, wie sich Regierungswechsel und ökonomische Krise in nächster Zeit auf die USA und ihre Rolle in der Welt auswirken werden, ist doch nicht von einem grundlegenden Bruch im amerikanischen Selbstverständnis auszugehen. Fundament einer Einschätzung aktueller gesellschaftlicher Veränderungen in den USA bleibt zuallererst ihre Rückführung auf die traditionelle Beschaffenheit der ersten bürgerlichen Demokratie der Welt.
Eine historische Darstellung der Herausbildung eines spezifisch US-amerikanischen Demokratiebegriffs unternimmt Sebastian Voigt in seinem Artikel »A More Perfect Union«. Voigt geht davon aus, dass das amerikanische Demokratieverständnis bereits vor der Revolution in einer gesellschaftlichen Praxis religiöser Toleranz angelegt war und die Ausnahme Amerikas darin besteht, dass die USA von allen demokratischen Staaten der einzige war, der direkt aus einer demokratischen Praxis erwachsen ist. Das führt zu einem einschließenden Staatsbürgerschaftsbegriff, der im Prinzip ein hohes Maß an gesellschaftlicher Teilhabe für die einzelnen Individuen vorsieht. Dass die Durchsetzungsgeschichte der amerikanischen Demokratie auch heute noch nicht an ihrem Ende angelangt ist, versteht sich von selbst – entscheidend ist in Voigts Augen allerdings, dass bereits in der Verfassung ein emanzipatorisch wirkendes Ideal angelegt ist. So sieht Voigt auch in den anstehenden Präsidentschaftswahlen Aushandlungsprozesse am Werk, die hin zu einem pluraleren und demokratischeren Amerika weisen.
William Hiscott gibt in seinem Artikel »Chaos und Kalkül« einen Überblick über die wichtigsten Eckpunkte, die die gesellschaftliche Wirklichkeit der USA prägen. Er kommt zu dem Schluss, dass es vor allem die Migrationsbewegungen von Süden nach Norden sind, die die Gesellschaft der USA derzeit transformieren und dass die Politik die gesellschaftlichen Veränderungen eher nachholend quittiert. Während Hiscott davon ausgeht, dass rassistische und sexistische Diskriminierung durch politische Maßnahmen durchaus zurückgedrängt werden konnte, sieht er die sich vertiefende Kluft zwischen Arm und Reich als eigentliche Trennlinie innerhalb der US-amerikanischen Gesellschaft. Der Artikel schließt mit einem Blick auf das Wahlsystem und stellt fest, dass die große US-amerikanische Politik letztlich nur begrenzten Einfluss auf diese gesellschaftlichen Widersprüche nehmen kann. Die starke Verwurzelung der US-Politik in traditioneller Lobbyarbeit führt dazu, dass die Gesellschaft eher ein »organisiertes Chaos« darstellt – was nicht unbedingt die schlechteste Alternative ist.
Manifest Destiny
Dem bereits angesprochenen inklusiven Prinzip der amerikanischen Demokratieentspricht auch der Stil linker Kritik in den USA: Als Bewegung konnte der Kommunismus hier kaum Fuß fassen. Linke Kritik an den USA in den USA bezieht sich für gewöhnlich auf das amerikanische Glücksversprechen. Damit hat sie kaum Anlass, sich einer radikal antinationalen Rhetorik zu bedienen. Keinem US-amerikanischen Antikriegs-Demonstranten käme es wohl in den Sinn, Amerika abschaffen zu wollen. Im Vordergrund steht zumeist – wie beispielsweise auch in der Civil-Rights-Bewegung – die gerechtere Teilhabe am Projekt Amerika.
Innerhalb dieses Spektrums ist das seit 1954 bestehende Magazin Dissent ein Projekt, das die übrige amerikanische Linke nicht von der Kritik ausgenommen hat. Dissent gehörte zu den frühesten Kritikern von linkem Antisemitismus in den USA und nahm auch Impulse aus Marxismus und kritischer Theorie auf. Robert Zwarg stellt in seinem Artikel die Geschichte des Magazins und seinen Anteil an linken Debatten in den USA dar. Anschließend folgt ein Interview mit dem Dissent-Herausgeber Mitchell Cohen. Die Mischung von klassisch sozialdemokratischen Positionen und radikalen theoretischen Ansätzen mag für eine deutsche Linke befremdlich erscheinen – sie repräsentiert jedoch die besondere Lage einer US-amerikanischen Linken, die sich als Teil eines fortgesetzten emanzipatorischen Projekts namens »Amerika« begreift. Insofern konzentriert sich die Linke in den USA auch weitaus mehr auf das Eingreifen in konkrete gesellschaftliche Konflikte.
Carl Melchers spricht dagegen eher die Schattenseiten eines Amerika an, das sich als emanzipatorisches Projekt versteht: In »Die amerikanische Weltrevolution« problematisiert er das US-Sendungsbewusstsein. Melchers zufolge haben die verschiedenen Regierungen der USA das jeweilige Eigeninteresse tendenziell mit dem Menschheitsinteresse gleichgesetzt. Das Grundparadigma der USA sei ein expansionistisches, die isolationistische Gegenbewegung dagegen vor allem der Versuch, in den Zeiten relativer Schwäche die eigenen Pfründe zu sichern. Als gemeinsame Grundlage der oberflächlich entgegengesetzten außenpolitischen Prinzipien sieht Melchers die »Open Door Policy«, also den Versuch, sich als Handelsmacht prinzipiell den Zugang in alle Teile der Welt zu wahren. Die US-amerikanische Außenpolitik ist zugleich ein Wechselspiel zwischen Pragmatismus und dem Selbstverständnis als »auserwählte Nation« mit zivilisatorischer Mission. Die Rede von Menschenrechten zur Begründung militärischer Einsätze ist insofern nicht als reine Rhetorik zu verstehen. Ohnehin geht es nicht um die Frage nach rhetorischem Deckmantel einerseits und handfester politischer Interessenpolitik andererseits, sondern darum, zu begreifen, wie missionarisches Sendungsbewusstsein mit der Durchsetzung außenpolitischer Interessen einhergeht. Aus diesem Verhältnis entwickelt sich eine Dynamik von internationalen Rechtsvorstellungen und Machtpolitik, die aus dem Emanzipationsprojekt USA eine höchst fragwürdige Unternehmung macht. Diese Problematik gilt es zu erörtern, ohne dabei ins antiamerikanische Ressentiment zu verfallen.
This land is made for you and me
Dennoch ist das US-amerikanische Staatsmodell insofern den meisten europäischen vorzuziehen, als ihm eine prinzipiell politische und damit wenigstens potentiell inklusive Gesellschaftsvorstellung zugrunde liegt. Ganz egal, ob man die USA nun als Melting Pot oder als multikulturelle Gesellschaft versteht, gründet sie in keinem Fall auf einem essentialisierten Staatsbürgerschaftsverständnis. Die USA sind überwiegend eine Nation von EinwanderInnen. Das Freiheits- und Toleranzideal geriet und gerät angesichts dieser Situation allerdings ständig in Widerspruch mit einer gesellschaftlichen Situation, in der rassistische Diskriminierung nach wie vor Teil des Alltags und die Steuerung der Einwanderung immer wieder Gegenstand politischer Debatten und Maßnahmen sind. Der Artikel der Phase 2 Leipzig stellt die Geschichte der USA als Einwanderungsland dar und geht dabei insbesondere auf diese Widersprüche ein. Die gesellschaftliche Entwicklung, so die Phase 2 Leipzig, geht gegen alle Widerstände dahin, dass die Vormachtstellung des »weißen« Amerika schon rein demographisch erodieren wird – ein Aspekt, der auch in Hiscotts Artikel erörtert wird. Einer der Gründe für Obamas Medienerfolg dürfte darin bestehen, dass er sich erfolgreich als Symbolfigur für die Verwischung herkömmlicher »Race«-Kategorien inszeniert. Wie kaum eine andere große Politikerfigur steht Obama mit seiner internationalen Biographie und seiner Abstammung symbolisch für ein kosmopolitisches, postrassistisches Amerika.
Neben dem inhärenten Antiessentialismus des US-amerikanischen Nationsbegriffs ist immer auch eine religiöse Dimension entscheidend für das amerikanische Selbstverständnis gewesen. Die Exodus-Metapher ist der amerikanischen Nationswerdung selbst eingeschrieben. Die Regierungszeit Bushs steht in der öffentlichen Wahrnehmung gemeinhin für die fundamentalistische Ausprägung des protestantisch-konservativen Amerika, und diverse Debatten über Kreationismus an US-amerikanischen Schulen haben das Bild der religiös-reaktionären Hillbillies weiter befestigt. Richard Gebhart stellt in seinem Artikel dagegen klar, dass christlich-fundamentalistische Kräfte in den USA zwar durchaus wichtig sind, aber niemals die bestimmende gesellschaftliche Rolle innehatten und derzeit sogar auf dem Rückzug sind. Die Durchwirkung der amerikanischen Politik mit religiösen Motiven ist nicht etwa als ständige Einflussnahme religiöser Kräfte zu verstehen, sondern verweist auf den besonderen Charakter eines US-amerikanischen Selbstverständnisses, das einerseits aus einer vorwiegend stark religiösen Siedlerbewegung hervorgegangen ist, dem aber andererseits die strikte Trennung von Staat und Religion zugrunde liegt. Die sich daraus ergebende Spannung ist bis heute wirkungsvolles Antidot gegen das von vielen Amerikafeinden an die Wand gemalte Gespenst eines christlich-fundamentalistischen Regimes. Interessanterweise ist es auch in Bezug auf die Religion einmal mehr der liberale Kandidat Obama, der als überzeugenderer Mann des Glaubens erscheint als sein konservativer Rivale McCain.
Zusammengenommen ergeben die verschiedenen Artikel dieses Schwerpunkts ein Bild der historischen Gewordenheit einer Gesellschaft, die auf dem Versuch einer Freisetzung von Menschen aus Herrschaftsverhältnissen gegründet ist. Umso interessanter ist die Frage nach dem gesellschaftlichen Wandel, den die USA angesichts der derzeitigen politischen und ökonomischen Krisen durchmachen. Klassisch autoritäre Krisenverwaltung tendiert dahin, gesellschaftliche Konflikte zu überdecken. Das steht freilich den Traditionen des US-amerikanischen Demokratieverständnisses entgegen, das von ständigen Aushandlungsprozessen zwischen gesellschaftlichen Interessengruppen ausgeht. Der für die USA typische Lobbyismus ist insofern nicht nur Ausdruck von Korruption und rücksichtsloser Machtpolitik, sondern gleichzeitig Garant einer pluralen Gesellschaft, in der widerstreitende Interessen sichtbar ausgetragen werden. Ein solcher Pluralismus setzt jedoch ein gewisses Vertrauen in die Möglichkeit, eigene Interessen überhaupt wirksam zu vertreten, voraus, und dieses Vertrauen dürfte angesichts der zunehmend desolaten Lage weiter Bevölkerungsteile im Schwinden begriffen sein. Dass Obama mit der Parole »Yes we can!« Begeisterungsstürme auslösen kann, liegt wohl vor allem daran, dass die Frage »Can we?« im Raum steht.
Letztlich führt das zu dem nicht weiter überraschenden Schluss, dass der amerikanische Traum zwar entscheidende Befreiungsmomente des Kapitalismus formuliert, aber zugleich in der weit weniger idealtypischen gesellschaftlichen Wirklichkeit des Kapitalismus verfangen bleibt. Insofern verweist er auf emanzipatorische Standards, hinter die eine linke Kritik nicht zurückfallen darf – ihr ultimativer Fluchtpunkt kann er allerdings nicht sein.
PHASE 2 BERLIN