»Die Natur muß weg« – unter diesem Titel versammelte Ausgabe 27 der Phase 2 eine Reihe von Beiträgen zur Kritik des Naturbegriffs der bürgerlichen Epoche. Abgeschafft gehöre die(se) Natur, weil sie »in ihrer Heraussetzung als das Andere der Gesellschaft« immer wieder »zur ›natürlichen‹ Legitimationsgrundlage der herrschenden Verhältnisse« werde.Schwerpunkteinleitung, in: Phase 2.27, 6. Die ideologische Funktion dieses Naturbegriffs erschöpft sich offenbar nicht in ein paar konkreten Bestimmungen darüber, was Natur sei und was nicht. Es geht eher um die Figur der Entgegensetzung als solcher (von Natur und ihrem Anderen: Kultur oder Entfremdung, Unnatur). Sie bildet eine bewegliche Skala, über die sich immer wieder neue Ein- und Ausschlüsse konstruieren lassen. In einer säkularen Welt wird auf diese Weise Legitimität produziert und reklamiert. Etwas soll sein und darf gelten, weil es der Natur entspricht – oder gerade umgekehrt: Etwas soll nicht sein, weil es bloße Naturverfallenheit wäre. Solche Setzungen sind in der Regel nicht einfach strategische Positionen, sondern objektive Gedankenformen: normative Zuschreibungen, die in einer bestimmten historischen Konstellation und von einem bestimmten sozialen Ort aus selbstevident sind – obwohl sie nichts mit irgendeinem tatsächlichen Natursubstrat zu tun haben. Die Geschichte der Lohnarbeit, der Geschlechterverhältnisse und des Rassismus ist voller solcher Essentialismen. Was jeweils als Natur gilt, bezeichnet das Ende von Politik und Verhandlung, und den Beginn von Entmündigung und Gewalt. Die Krisendynamik der kapitalistischen Produktionsweise sorgt dafür, dass sich diese Grenze immer wieder verschiebt, dass Gewalt aber nicht verschwindet.
Es scheint also problematisch, emanzipatorische Politik irgendwie an einen bestimmten Begriff der menschlichen Natur zu knüpfen. Der Parteisozialismus hat den Menschen ein Jahrhundert lang als ein Tierchen entworfen, das arbeitend sein Wesen verwirklicht. Und herausgekommen ist wieder nur Zwang. Daher die Attraktivität dekonstruktivistischer, anti-essentialistischer bzw. anti-naturalistischer Kritiken. Sie berufen sich gerade nicht auf ein bestimmtes ›Wesen‹, eine bestimmte ›Natur‹ des Menschen. Im Mittelpunkt steht der Versuch, das Macht- und Gewaltförmige – und insofern prinzipiell Kontingente – diskursiver Zuschreibungen und performativen Praxen herauszuarbeiten. Allerdings gerät in dieser Perspektive etwas außer Reichweite, warum eigentlich ständig Ein- und Ausschlüsse produziert werden müssen, wie Spielräume entstehen, und wo sie enden. Schon die Frage scheint verdächtig, weil sie in all den heterogenen Praxen so etwas wie ein systematisches Zentrum unterstellt, ein grundlegendes antagonistisches Prinzip.
Materialistische Kritik hat dieses Zentrum stets als Herrschaft/Ausbeutung bestimmt, als ausschließende Aneignung des gesellschaftlichen Mehrprodukts. Dass diese Perspektive trotz ihrer eigenen unrühmlichen Geschichte autoritärer und essentialistischer Zuschreibungen noch produktiv gemacht werden kann, verdankt sich im Wesentlichen der Kritischen Theorie. Denn deren Materialismus konkretisierte sich ideologiekritisch gerade gegen essentialistische Menschenbilder, d.h. gegen die ›Naturalisierung‹ gesellschaftlicher Herrschaft in philosophischen, soziologischen und politischen Konzepten. Materialismus tritt hier nicht als Wesensschau auf, sondern als Konstitutionskritik. Zugleich bezog die Kritische Theorie jene kulturelle Diffusion von Herrschaft systematisch auf die übergreifenden Reproduktionsbedingungen der Gattung. Insbesondere Max Horkheimer, Theodor W. Adorno und Herbert Marcuse hatten ihre Herrschaftskritik im Zusammenhang einer zivilisationsgeschichtlich ausgelegten Dialektik der Entfremdung von und Versöhnung mit ›Natur‹, der ›äußeren‹ wie der ›inneren‹, begründet. Der Naturbegriff bildet damit die systematische Klammer ihrer materialen Sozialphilosophie, ihrer Subjekt- und Erkenntniskritik sowie ihrer ästhetischen Reflexionen.
Mehrere Beiträge der vorletzten Ausgabe haben diese Naturkonzeption in Anspruch genommen.Gerhard Scheit, Rettung der Natur, 11–14; Roger Behrens, Physik und Metaphysik, 30; Antonia Schmid, Signifikante Andersheit, 38; in früheren Ausgaben Dirk Lehmann, Entfremdung und Verdinglichung, in: Phase 2.22, 39–42. Doch gerade die Konzeptualisierung von Natur ist die Achillesferse der Kritischen Theorie. Ihre höchst eigenen dualistischen und essentialistischen Prämissen kompromittieren jene rigorose wie nuancierte Herrschaftskritik, die die Frankfurter Schule zu einem unverzichtbaren Referenzpunkt der radikalen Linken macht. Die folgende Diskussion dieser Prämissen hat einen ziemlich aktuellen Fluchtpunkt: die Kritik der gegenwärtigen human- und neurowissenschaftlichen Ideologie. Es ist für eine linke Wissenschaftskritik einfach nicht mehr hinreichend, allgemein auf die ›historische‹ oder ›gesellschaftliche‹ Konstituiertheit des Menschen zu verweisen. Denn seit dem Untergang der sozialistischen Systemalternative hat die bürgerliche Anthropologie ihr Bild der Natur des Menschen historisiert und gesellschaftlich situiert. Eine bestimmte Kritik dieser Zuschreibungen führt über die Frage nach der menschlichen Natur als gattungsallgemeinem Substrat; auf die Zusammensetzung einer Natur, die nicht nur zu Geschichte, sondern auch zu Emanzipation fähig ist. Und dadurch werden bislang vernachlässigbare Prämissen der Kritischen Theorie zur menschlichen Natur erneut problematisch.
Der Systemcharakter des kritisch-theoretischen Naturbegriffs zeigt sich immer dort, wo Ideologie- und Subjektkritik mit Hypothesen zur Entfremdung ›instrumenteller Rationalität‹ aus ursprünglicher Naturverfallenheit kurzgeschlossen werden. Diese ›naturgeschichtliche‹ Ableitung führt bei Adorno – immanent schlüssig – auf eine Kritik des begrifflichen, ›identifizierenden‹ Denkens als solchem, und in Abgrenzung dazu auf den Begriff und die erkenntniskritische Emphase des »Nichtidentischen«. Ebenso konsequent gruppiert sich Adornos Ästhetik um das Motiv einer prekären »Versöhnung« bzw. »Restitution« der Natur im »authentischen Kunstwerk«.Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Gesammelte Schriften (GS) 7, 100, 104.
Anlass und Zielstellung dieser Revision des Historischen Materialismus wurden von Horkheimer und Adorno selbst benannt: Durch eine Reflexion auf anthropologische Dimensionen und psychologische Vermittlungswege gesellschaftlicher Herrschaft sollte erklärlich werden, weshalb die einst greifbare Chance revolutionärer Emanzipation umschlagen konnte in den weltweiten Triumph ideologisch massenintegrativer Herrschaftssysteme. Gemessen an der verflossenen menschheitsgeschichtlichen Emanzipationschance erschienen Faschismus, Parteisozialismus und der kulturindustriell abgefederte ›Monopolkapitalismus‹ der USA nurmehr als Varianten einer fatalen zivilisationsgeschichtlichen Tendenz verdinglichten Bewusstseins. Theoretisch erforderte dieser Perspektivwechsel, verdinglichtes Bewusstsein nicht länger – mit Lukács – aus dem spezifisch kapitalistischen, tauschwertvermittelten Klassenantagonismus zu rekonstruieren. Es musste ein die politischen Systemgrenzen übergreifenden Ableitungszusammenhang konstruiert werden: die naturgeschichtliche Rekonstruktion instrumenteller Vernunft als Entfremdung. Sie wird gefasst in der Formel, »Naturbeherrschung« schließe »Menschenbeherrschung ein«.Max Horkheimer, Kritik der instrumentellen Vernunft (1947/1967), Frankfurt/Main 1985, 94. Diese anthropologisch kaum haltbare Konstruktion bot der zweiten Generation der Frankfurter Schule eine willkommene Gelegenheit, die trotz allem kommunistische Versöhnungsperspektive der Kritischen Theorie bereits auf der Ebene höchster Kategorien in Frage zu stellen. So hat Jürgen Habermas völlig zu Recht auf den idealistischen Zug einer Ableitung sozialer Herrschaft aus »Bewußtseinsstrukturen« instrumenteller Vernunft sowie auf den bloß metaphorischen Charakter des Begriffs ›Naturbeherrschung‹ hingewiesen.Jürgen Habermas, Theorie des Kommunikativen Handelns, Frankfurt/Main 1981, Kap. 5, insb. 506ff.
Konkretisierung des HistoMat?
Die 1944 erstveröffentlichte Dialektik der Aufklärung steht im Mittelpunkt der ideologiekritischen Naturkonzeption Horkheimers und Adornos. Ihre früheren Versuche, eine zur Weltanschauung herabgesunkene ›materialistische Geschichtsauffassung‹ grundbegrifflich, methodologisch und empirisch (sozialpsychologisch) zu renovieren, münden hier in eine Neubestimmung der kategorialen Struktur des HistoMat selbst. Denn erst in der Dialektik der Aufklärung wird das Verhängnis der Herrschaft nicht mehr nur über einen gesellschaftlichen Widerspruch abgeleitet, sondern in einem systematischen Entwurf dialektischer Anthropologie auf die gattungsgeschichtlichen Bedingungen der Überwindung ursprünglicher Naturverfallenheit zurückgeführt. Diese fragwürdige Neuinterpretation des HistoMat steht noch ganz in der Tradition dichotomer Grundbegriffe der klassischen deutschen Philosophie. Noch Hegels dialektische Figur der weltgeschichtlichen Verwirklichung des Absoluten gewinnt ihre Dynamik aus dem tragenden Dualismus von Natur/Sinnlichkeit und Geist/Vernunft. Dieser Dualismus wird in der Kritischen Theorie nicht als solcher kritisiert, sondern mit Hilfe psychoanalytischer Konfliktmodelle pseudomaterialistisch in eine Dialektik von Natur/Trieb und Kultur als sublimierter Natur transformiert. Damit rekurriert die Kritischen Theorie wie einst die Psychoanalyse in aufklärerischer Intention auf ein Basisideologem bürgerlicher Herrschaft: die Unvermeidbarkeit von Zwang bzw. Selbstzwang. Wie die Psychoanalyse reproduziert sie dabei ein entsprechend ideologisches, pseudonaturalistisch disqualifiziertes Bild der menschlichen Natur als ursprünglich impulsgesteuert und asozial.
Horkheimer, seit 1931 Leiter des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, fokussierte dessen Arbeit auf die »tieferliegenden psychischen Faktoren«, jene »das Bewußtsein verfälschende Triebmotorik«, die in Zeiten ökonomischer Krise den Pakt von Herrschenden und Beherrschten erklärlich machen sollten.Max Horkheimer, Geschichte und Psychologie. In: Ders., GS 3, Frankfurt/Main 1988, 57. Die historische Wandelbarkeit von Individualitätsformen und psychischen Reaktionsweisen sei unter dem orthodoxen Schema einer ›Dialektik von Basis und Überbau‹ nicht zu erfassen. Gegen solche »ökonomistische[n] Vorurteile«Ebd., 64f. beruft sich Horkheimer auf Freuds Modelle konfliktvermittelter Charakterbildung (Triebverzicht, Introjektion, Sublimation, Regression etc.). Sie schienen die subjektiven Vermittlungswege gesellschaftlicher Autoritarisierung differenziert zu erschließen. Ansatzpunkt für eine materialistische Reinterpretation der Psychoanalyse war die von der Freud zwar benannte, aber nicht politisierte Differenz zwischen dem »durch Natur« gegenüber dem »durch gesellschaftliche Verhältnisse erzwungenen Triebverzicht«.Max Horkheimer, Materialismus und Metaphysik, GS 3, 83. Letzterer soll und würde einst durch eine transparente und solidarische Reproduktionsordnung überwunden werden, so dass sich wenigstens »der ökonomische Mechanismus« nicht länger »blind und damit als beherrschende Naturmacht« auswirkt.Ders., Philosophische Anthropologie, GS 3, 252.
Auch Adorno wandte sich Anfang der dreißiger Jahre im Namen einer ›materialistischen Dialektik‹ gegen überhistorische Kategorien der Philosophie.Theodor W. Adorno, Naturgeschichte, GS 1, Frankfurt/Main 1997, 365. Gegen den Idealismus ahistorischer Allgemeinbegriffe reklamiert er das unauflösliche Zusammenfallen von Natur und Geschichte in jeder »konkreten historischen Faktizität«, so dass »konkrete Geschichte […] als Natur auszulegen und die Natur im Zeichen der Geschichte dialektisch zu machen« sei. Dialektik erfasse die unauflösliche geschichtliche Potentialität, und bewahre damit zugleich das »Moment der Versöhnung, das prinzipielle Hinausgehen über den Naturzusammenhang« des Schicksals. Die immer wieder zitierte Sentenz, es sei »in Wahrheit die zweite Natur die erste«, kondensiert diesen materialistischen Entwurf zur Unkenntlichkeit.Ebd., 357, 360, 363f. Sie verunklärt die spezifische Natur des Zwangs, der Gesellschaft zum Schicksal macht.
Horkheimers programmatische Texte der folgenden Jahre differenzieren zwar prinzipiell zwischen den Prinzipien von Naturaneignung und gesellschaftlicher Herrschaft. Doch bereits die Art und Weise ihrer Historisierung verschiebt das theoretische Gewicht in Richtung des später zivilisationsgeschichtlich verallgemeinerten Entfremdungsmodells der Dialektik der Aufklärung. Eine historische Rekonstruktion sozialer, psychologischer oder logischer Formen ist eben nicht schon dann konkret, wenn global die historische Wandelbarkeit von Mensch und Gesellschaft vorausgesetzt wird. Entscheidend ist, ob die den historischen Konstitutionsprozeß ermöglichenden und tragenden Qualitäten von Subjekt und Objekt – Mensch/Gesellschaft und Natur – ihrer wirklichen Bestimmtheit gemäß kategorial zur Geltung kommen.Unter diesem Aspekt bleibt Adornos Dekonstruktion logischer und psychologischer Formen in seiner Metakritik der Erkenntnistheorie ebenso abstrakt wie Horkheimers historische Wissenschaftskritik in Traditionelle und kritische Theorie (beide 1937).
Horkheimers schulbildender Aufsatz über Traditionelle und Kritische Theorie problematisiert zunächst die ahistorische Übertragung naturwissenschaftlicher Theoriestandards auf »die Wissenschaften von Mensch und Gesellschaft«, betont aber sogleich, dass auch naturwissenschaftliche Paradigmen »von der jeweiligen gesellschaftlichen Situation« abhängen.Max Horkheimer, Traditionelle und kritische Theorie, GS 4, 164, 169. Kritische Theorie weiß um diese Historizität und Gesellschaftsbezogenheit aller Theorie bzw. Wissenschaft, während traditionelle wissenschaftliche Systeme ihre geschichtlichen Entstehungs-, Geltungs- und Anwendungsbedingungen unreflektiert lassen, und sie so blind reproduzierten. Doch diese übergreifende historische Wissenschaftskritik nivelliert eine für den Naturbegriff entscheidende Differenz zwischen Naturwissenschaften und Sozialwissenschaften – sachlich also zwischen Naturaneignung und ihrer herrschaftlichen Organisation. Horkheimer streift diese Differenz zwar thematisch, verfehlt sie aber kategorial: Die Bewährung naturwissenschaftlicher Sätze und Hypothesen unterliegt gerade nicht formationsspezifischen, sondern rein technisch-praktischen Kriterien der zweckmäßigen Aneignung und Umformung eines objektiv strukturierten und deshalb regelhaft manipulierbaren Natursubstrats. Deshalb ist das von Horkheimer als ahistorisch verworfene wissenschaftstheoretische Kriterium der »Zweckmäßigkeit« in den technischen Naturwissenschaften unproblematisch und legitim.Ebd., 170f. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass die technischen Mittel und sozialen Bedingungen dieses Stoffwechsels mit der Natur selbst historisch sind, oder dass die technische Struktur von Maschinen im Kapitalismus formationsspezifische Produktivitätsimperative inkarniert. Horkheimers Argument, auf den »höheren Stufen der Zivilisation« sei »real« gar nicht zu unterscheiden, »was davon der unbewußten Natur, [und] was der gesellschaftlichen Praxis angehört«, verfehlt das Problem. Denn gefordert ist keine gegenständliche Unterscheidung, sondern eine sachgemäß kategoriale. Ohne eine solche Unterscheidung ist Horkheimer zu einer abstrakten Historisierung der Natur gezwungen: »Auch bloße Natur« sei »keine überhistorische Kategorie«, Natur sei vielmehr der »Inbegriff der jeweils noch unbeherrschten Faktoren, mit denen die Gesellschaft es zu tun hat«.Ebd., 181.
Das Ursprungskonstrukt der »Dialektik der Aufklärung«
Diese kategoriale Entdifferenzierung von konstitutiven (natürlichen) gegenüber historisch-plastischen Bestimmungsmomenten bzw. Strukturbegriffen gesellschaftlicher Reproduktion wird theoretisch fatal, sobald auf ihrer Grundlage das Ausbleiben einer materiell längst möglichen Emanzipation erklärt werden soll. Die Frage, warum »die auf Kampf und Unterdrückung beruhenden Kulturformen« nicht längst durch einen »einheitlichen, selbstbewußten Willen« ersetzt werdenEbd., bedarf dann in letzter Instanz einer naturalistischen Antwort. Diese systematische Konsequenz zieht die Dialektik der Aufklärung. Sie knüpft dabei an zivilisationsgeschichtliche Ursprungskonstrukte der Psychoanalyse an, modifiziert diese aber entscheidend. In früheren Arbeiten des Instituts für Sozialforschung, etwa den Studien über Autorität und Familie (1936), wurde die Entstehung und Reproduktion der herrschaftskonformen, ›autoritär-masochistischen‹ Charakterstruktur noch im Rahmen einer epochen- und klassenspezifisch konkretisierten Theorie der Ich- und Über-Ich-Bildung rekonstruiert. Die Dialektik der Aufklärung verfährt nun umgekehrt. Sie rekonstruiert eine epochen- und klassenübergreifende heteronome Tendenz des Zivilisationsprozesses als dialektische Naturgeschichte instrumenteller Vernunft. Sie muß dabei tiefer ansetzen als Freud, der den Ursprung der Zivilisation in einem kontingenten sozialen Gewaltakt verortet hatte.Ein eifersüchtiger Urvater monopolisiert alle Weibchen und unterwirft bzw. vertreibt die Söhne; diese entwickeln aufgrund zielgehemmter Sexualstrebungen Bindungen untereinander, töten gemeinsam den übermächtigen und zugleich bewunderten Monopolisten, restaurieren aber seine versagende Autorität als Gewissensinstanz, die zur »Verteilung der Libido […] auf kulturelle Zwecke« befähigt. Totem und Tabu (1912/13); Massenpsychologie und Ich-Analyse (1921); Das Unbehagen in der Kultur (1930). Studienausgabe, Frankfurt 2000, insb. 114ff., 233, 426ff. Die zentrale These, dass »jeder Versuch, den Naturzwang zu brechen, indem Natur gebrochen wird, nur um so tiefer in den Naturzwang« zurückführeMax Horkheimer/Theordor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Frankfurt/Main 1988, 17. Vgl. 235., muß irgendwie aus einer ursprünglichen Entfremdung ›des Menschen‹ gegenüber ›der Natur‹ abgeleitet werden. Dazu entwirft die Dialektik der Aufklärung eine Reihe trickreicher dialektischer Ursprungsmodelle. Die spekulative Prämisse ursprünglicher ›Ungeschiedenheit‹ von Mensch und Natur expliziert sie anthropologisch meist im Sinne einer im Anfang nahezu strukturlosen, reaktiv-mimetischen Naturverfallenheit eines in seinem Denken und Fühlen noch völlig amorphen Wesens.Ebd., 21f., 58ff., 189. Weitreichender: 196ff., 204. Damit hier überhaupt eine Entwicklung einsetzen kann, bedarf es eines Impulses, der nicht vom Menschen selbst herrührt, und der heteronom genug ist, dessen Zivilisationsgeschichte grundlegend zu belasten. Deshalb konstruiert die Dialektik der Aufklärung den Ursprung des zivilisatorischen Fatums als Projektion eines ursprünglichen Schreckens der Natur in die Zivilisation: Der »Ruf des Schreckens«, »Ausdruck« einer ursprünglichen »Angst« des mimetisch befangenen und schutzlosen Menschen vor dem »Unbekannten« der Natur, werde – man weiß nicht wie – zur »Erklärung« vergeistigt, und durch diese Verdopplung als beseeltes ausgesprochen. Von hier aus entspinnt sich angeblich die zivilisationsgeschichtliche Dialektik der Selbsterhaltung, der erweiterten Reproduktion und Totalisierung von Zwang und Selbstzwang im Prozeß der »Unterwerfung« von Natur. Denn jene Verdopplung/Beseelung gilt als erster Schritt aus einem ursprünglich »fluktuierenden Zusammenhang mit der Natur« bzw. einer »mimetischen Daseinsweise«Ebd., 58, 189., als Ursprung heteronom objektivierenden Denkens, das die Vielfalt ursprünglicher »Qualitäten« und Beziehungen immer weitergehender »eliminier[e]«, und sich gleichursprünglich zum Organ des listigen Betrugs und der Herrschaft entwickle.Ebd., 16, 43, 54ff., 202. Diese forcierte Ursprungskonstruktion ist ganz darauf ausgerichtet, den Vorrang der heteronomen Natur herauszustellen. So werde bei jener ursprünglichen Beseelung der Natur »nicht die Seele […] in die Natur verlegt; […] der bewegende Geist […] ist keine Projektion, sondern das Echo der realen Übermacht der Natur in den schwachen Seelen der Wilden«Ebd., 21, 27. Das Zugeständnis »schwacher Seelen« verdankt sich lediglich formaler Konsequenz: ohne »Etwas« auf Seiten des Menschen fände der »Ruf des Schreckens« keinen Widerhall.; begriffliches Denken und zweckhaftes Handeln gelten daher auch als »Zwangsmechanismus, in dem Natur sich reflektiert«, weshalb »Naturverfallenheit« gerade in der »Naturbeherrschung« bestehe; »Geist« erscheine als »mit sich entzweite Natur«.Ebd., 45f. (Herv. FF). Entsprechend 190: »Übergang […] reflektorischer Mimesis zu beherrschter Reflexion.« (190). – Das systematische Selbstmissverständnis und der bürgerlich-ideologische Zug der Dialektik der Aufklärung bestehen darin, den Ursprung der Geschichte in Bildern ursprünglicher Unbestimmtheit des Naturwesens Mensch zu explizieren. Ihr Entwurf der ›vorgeschichtlichen‹, angeblich natürlichen Verfassung des Menschen toleriert nur abstrakte Allgemeinbegriffe, qualitätslose Qualitäten, scheinbare Unmittelbarkeiten wie das ›Lebendige‹, das ›Somatische‹, ›Ungeschiedenheit‹ etc. Ein irgendwie strukturiertes Selbst- und Weltverhältnis des Menschen wird als solches der Entfremdung zugerechnet.Diese Dequalifizierung hat zur paradoxen Konsequenz, dass sogar das Streben nach »Selbsterhaltung« als »Zwangscharakter« beschrieben wird. Ebd, 37.
Systemcharakter abstrakter Konstitutionskritik bei Adorno
Der naturgeschichtliche Ableitungszusammenhang instrumenteller Ratio bleibt allen späteren Modellen Adornos vorausgesetzt. Auch dort, wo sie auf eine explizite Verknüpfung gegenwarts- und zivilisationskritischer Motive verzichten, kreisen sie beständig um den vom Ursprung her herrschaftlichen Charakter ideeller Funktionsaspekte von Selbsterhaltung und erweiterter Reproduktion: um den vermeintlichen Zwangscharakter des ›identischen Ich‹, um die instrumentell entfremdete Präformation von Wahrnehmen und Denken überhaupt, um Begriff und Konsequenzlogik in ihrer vermeintlichen Abstraktheit gegenüber der Vielfalt heterogener Objektqualitäten. Die Negative Dialektik variiert diese erkenntniskritischen Implikationen des naturgeschichtlichen Entfremdungskonstrukts in unzähligen Konstellationen.
Ein posthum veröffentlichter Entwurf zur Negativen Dialektik bezeugt, dass Adorno den systematischen Mangel seiner tragenden Prämisse amorpher Ursprünge zwar bemerkt hat, daraus aber keine erkenntnis- und gesellschaftskritischen Konsequenzen zieht. Adornos Thesen Zu Subjekt und Objekt betonen zunächst die Gesellschaftsgebundenheit und damit Geschichtlichkeit vermeintlich konstitutiver, apriorischer Formen der Subjektivität, und verknüpfen jene »kategoriale Apparatur« dann in gewohnter Weise mit den ursprünglichen und tradierten Zwängen des »Survival«. Im Sinne der naturgeschichtlichen Ableitung heißt es, das Subjekt bleibe in seiner »sich selbst verborgene[n] Gefangenschaft […] eingespannt wie gepanzerte Tiere in ihren Verschalungen, die sie vergeblich abzuwerfen suchen«Adorno, Zu Subjekt und Objekt, GS 10, 2, 748ff. Wie aber kann die kritische Hypothese vorgängiger Gesellschaftlichkeit mit der ›naturgeschichtlichen‹ Dialektik der Entfremdung zwischen Individuum und Natur versöhnt werden? Hier sieht sich Adorno zu einer weiteren naturgeschichtlichen Spekulation genötigt, zur Annahme einer ursprünglichen Gesellschaftlichkeit der Gattung. Die Menschen hätten sich »wohl überhaupt nur assoziiert, durch rudimentäre gesellschaftliche Arbeit am Leben erhalten können«.Ebd. 757f. Doch diese immanent zwingende Hypothese einer assoziierten, zur koordinierten Naturaneignung organisierten Konstitution des Menschen zerstört die naturgeschichtliche Grundlegung seiner Subjekt-, Gesellschafts- und Erkenntniskritik. Denn sie verunmöglicht es, jene kategoriale Apparatur sozial organisierter Selbsterhaltung global der Entfremdung zuzuschlagen. Als phylogenetisch gewordene, ist die Fähigkeit zu sozial koordinierter Naturaneignung im Dienst der Selbsterhaltung schlechterdings nicht problematisierbar, da normative Kriterien dem Evolutionsprozeß äußerlich sind. Sobald aber, auf Basis jener Fähigkeit, eine gesellschaftlich-historische Prozeßcharakteristik prägend und konstitutiv wird, kann kein Fatum der Zivilisation mehr unterstellt werden, da gesellschaftlich Produziertes auch gesellschaftlich geändert werden kann.
Adornos spekulativer Kategorienfehler schlägt in jedem Punkt seiner historischen und »negativen« AnthropologieAdorno, Negative Dialektik (1966), Frankfurt a. M. 1970, 8f. (abweichend von GS). durch. Die Folgen sind umso schwerwiegender, wo materiale Korrektive entfallen, etwa in der Negativen Dialektik als »Methodologie der materialen Arbeiten«.Ebd. Hier wird das in der Dialektik der Aufklärung natur-dialektisch ausformulierte Schema von Subjektform und Identifikation als Verdinglichung pseudo-erkenntniskritisch ausgebreitet. Denken als »spirituell gewordene Naturbeherrschung« und dessen begriffliches Instrumentarium bilden demnach eine Mauer gegen das »Objekt«.Ebd., 21ff., 28. Vgl. 154f. Für dessen »irreduzibel Qualitative[s]« steht eine Armada suggestive amen bereit: das »Einzelne und Besondere«, »alle Vielfalt des Nichtidentischen«, das »Heterogene«, das »Konkrete«, das »Andere« bzw. der »Widerstand des Anderen«, die »Differenz, die im Begriff unterging«, das »Ungetrennte«, das vom Begriff »Unterworfene« etc.Ebd., 148, 18, 251, 156, 22, 41, 161, 158, 279, 56. Diese vermeintlich radikale Öffnung zum Objekt abstrahiert grob vom transzendentalen bzw. begrifflichen Gehalt artspezifischer Objektverhältnisse, die aufgrund der kooperativen Gattungsnatur des Menschen immer auch Intersubjektivitätsverhältnisse sind. Reflexe der bürgerlichen Natur/Kultur-Dichotomie prägen auch Adornos Modelle, die die behauptete Immanenz des Instrumentellen brechen sollen. So appelliert die Negative Dialektik an vermeintlich natur-unmittelbare Beziehungsmodi, und an ein dequalifiziertes Natursubstrat des Subjekts: an das »mimetische« und das »somatische« Moment der Erkenntnis. Die Idee der Freiheit sei nicht ohne Wiedererinnerung (Anamnesis) »an den ungebändigten, vor-ichlichen Impuls […] zu schöpfen«.Ebd., 53, 151, 191, 219.
Die naturdialektische Fundierung dieses Entwurfs dokumentiert Adornos radikale Herrschaftsverachtung. Aber seine anthropologischen Kategorien reproduzieren die Widersprüche einer dichotomen Konzeption von Natur und Kultur. Eine solche Kritik ist systematisch zu den dargestellten spekulativen Entfremdungskonstrukten genötigt. Die Reduktion des Naturbegriffs auf bestimmungslose Unmittelbarkeit ist eine objektive Gedankenform der Herrschaft, kein Moment ihrer Kritik.
FELIX FIEDLER
Der Autor lebt in Berlin.